Kurzer Prozess

d'Lëtzebuerger Land vom 04.01.2019

Gesinde An einem Vormittag führen junge Polizeibeamte mit Bärten und Tattoos einige Gleichaltrige mit Bärten und Tattoos im Gerichtssaal vor. Den Unterschied machen nur die Uniformen, eine anders gestellte Weiche im Lebenslauf aus. Eine junge Anwältin kommt hereingeeilt, windet sich in ihre schwarze Robe, ein Kollege verschwindet wieder. Ein Beamter meldet, dass er den Übersetzer nicht gefunden hat. Dann wird über einen jungen Mann nach dem anderen verhandelt.

Einige wurden mit Drogen, Geld und einem Handy aufgegriffen, einer gibt kopfnickend zu, in einer Drogerie Rasierzeug gestohlen zu haben. Manche wissen nicht, wie ihnen geschieht, verstehen keine der Landessprachen, haben nie gelernt, sich auszudrücken. Die Leute in den schwarzen Roben und ihre altmodischen Rituale sind eine andere Welt. Der Übersetzer ist inzwischen aufgetaucht, resümiert und interpretiert konfus, was er zu verstehen glaubt. Der Ermittlungsbeamte zählt stolz mit einigen Brocken Polizeideutsch auf, was er herausgefunden hat. Die Pflichtanwältin versteht nur Französisch und appelliert an die Milde des Gerichts.

Der Richter thront hinter dem breiten Holztisch und springt mit den jungen Männern wie mit Dienstboten um. Schließlich kommt Gesindel von Gesinde. Es bleibt ihm unverständlich, dass jemand eine Haftstrafe für Rasierzeug riskiert, das kaum mehr wert ist als das Trinkgeld, das er im Restaurant zurücklässt.

An der Schuld der jungen Männer zweifelt niemand im Saal, nicht an diesem Morgen und meist auch nicht an all den anderen Morgen. Die Cité judiciaire sollte die Justiz als feste Burg verkörpern, sie sieht aus wie ein Märchenschloss. Mit jeder gelangweilten Geste zeigen der Richter, die Beisitzenden, die Staatsanwältin, die Schreiberin, die Ermittlungsbeamten, die Anwälte, wie sie ihre wertvolle Zeit damit verlieren müssen, im Stundentakt Kleinkriminelle wegsperren zu lassen. Als Strafe für diese Zumutung verlangt die Staatsanwältin, die Angeklagten die ganze Wucht des Gesetzes spüren zu lassen.

Vertrauen Damit endlich Schluss mit dieser Zumutung wird, aus dem Stundentakt ein Halbstundentakt wird, heißt es beiläufig im Kapitel Justiz des Koalitionsabkommens, das DP, LSAP und Grüne am 4. Dezember unterzeichnet hatten: „Sera également analysée la possibilité d’adapter les procédures pénales afin de ­permettre l’évacuation plus rapide de certaines affaires de flagrant délit, sans porter préjudice aux droits de la défense.“

Ziel ist es, die Justiz nach den privatwirtschaftlichen Kriterien des New public management weiter zu rationalisieren, effizienter und produktiver zu machen. Der grüne Justizminister Félix Braz hatte im Mai ein Projet de loi sur le renforcement de l’efficacité de la Justice civile et commerciale eingebracht. Der Entwurf geht laut Motivenbericht davon aus, dass durch die wirtschaftliche und demografische Entwicklung die Zahl der Streitsachen ständig zunehme, so dass es nicht ausreiche, dauernd mehr Richter einzustellen: „Une améliora­tion substantielle du fonctionnement du pouvoir judiciaire est également obtenue par l’évaluation et l’adaptation du fonc­tionnement et de l’efficacité des procédures qui sont d’application devant nos juridictions“ (S. 10).

Für die Eilverfahren hatte sich besonders die DP in ihrem Wahlprogramm stark gemacht: „Nachdem bereits eine ‚procédure accélérée‘ eingeführt worden ist, fordert die DP zusätzlich die Möglichkeit der ‚comparution immédiate‘ für Täter, die auf frischer Tat ertappt werden oder gegen die erdrückende Beweise vorliegen, um sie schnellstmöglich vor Gericht zu stellen und somit eine wesentliche Entlastung der Gerichte zu erreichen. Selbstverständlich müssen bei einer ‚comparu­tion immédiate‘ alle üblich geltenden Rechte des Angeklagten respektiert werden.“

Aber auch die LSAP hatte in ihrem Wahlprogramm versprochen: „In der Strafjustiz wird die Einsetzung eines Eilverfahrens bei eindeutiger Sachlage vorgeschlagen.“ Während das grüne Wahlprogramm ganz allgemein „das Straf-, Zivil- und Prozessrecht einer grundlegenden Prüfung unterziehen, gegebenenfalls modernisieren und prozedurale Vereinfachungen umsetzen“ wollte.

Über die Details hatte sich die DP schon vor fünf Jahren Gedanken in ihrem Wahlprogramm gemacht: „Wir werden die Einführung der ‚comparution immédiate‘ sowie der ‚procédure accélérée‘ und der ‚procédure simplifiée‘ analysieren, was es in bestimmten Fällen und unter klaren Bedingungen erlaubt, einen Täter innerhalb kürzester Zeit vor Gericht zu stellen: So muss der Täter etwa auf frischer Tat ertappt werden oder erdrückende Beweise gegen ihn vorliegen, damit die Prozedur der ‚comparution immédiate‘ bei strafrechtlichen Fällen gewählt werden kann. Auch darf der Straftatbestand ein gewisses Maß nicht überschreiten. Gegen die Entscheidung einer ‚comparution immédiate‘ muss der Angeklagte Einspruch einlegen können, um die Rechte der Verteidigung wahren zu können. Wir erwarten uns hiervon eine Entlastung der Gerichte und größeres Vertrauen der Bürger in die Justiz, indem Täter zügig, aber unter Wahrung ihrer vollen Verteidigungsrechte, verurteilt werden können.“

Telefon Die Comparution immédiate gehört in ihrer heutigen Form seit 1983 zur französischen Strafprozessordnung. Ihr Wirkungsbereich wurde seither mehrfach ausgeweitet, im Jahr 2000 wurde sie auch in Belgien eingeführt. Sie erlaubt, kurz zuvor Festgenommene im Anschluss an den Polizeigewahrsam vor Gericht zu stellen, binnen einer halben Stunde abzuurteilen und umgehend ins Gefängnis abzuführen. Sie ist bei fast allen Straftaten zulässig, auf denen zwei Jahre Haft stehen, beziehungsweise ein halbes Jahr Haft, wenn die Verdächtigen auf frischer Tat ertappt wurden.

Vom Eilverfahren ausgeschlossen sind „des délits comme ceux touchant la délinquance finan­cière, et de manière plus générale, la délinquance ‘en col blanc‘“, bemerkte die Ligue des droits de l’homme Toulouse 2012 in ihrer Feldstudie Comparutions immédiates: ­quelle justice? Ausgenommen sind verschiedene politische und Pressedelikte, aber die Eilverfahren dienen auch dazu, Teilnehmer von Protestkundgebungen ohne viel Federlesens einzusperren und andere einzuschüchtern.

Im Alltag entscheidet die Staatsanwaltschaft nach einem Telefonat mit dem Polizeikommissariat über die Anwendung des Eilverfahrens, ein So­zialarbeiter versucht, sich mit einem Anruf bei einem Familienangehörigen oder dem Arbeitgeber über den Angeklagten zu erkundigen. Ein Pflichtverteidiger lernt seinen inzwischen schon erschöpften Mandanten während eines in der Regel zehnminütigen Gesprächs kennen. Opfer einer Straftaten werden wenige Stunden vor der Verhandlung eingeladen. Das Gericht hört sich im Halbstundentakt einen Fall nach dem anderen an, dann zieht es sich, ebenfalls oft schon erschöpft, zurück, um binnen weniger Minuten die Schuld und das Strafmaß der einzelnen Angeklagten zu diskutieren.

Chair à prison Mit den Comparutions immédiates soll das ganze gesellschaftliche Elend vor Gericht gesammelt und einer Billigjustiz für Arme zugeführt werden. Die heute schon oft in Vergessenheit geratende Unschuldsvermutung und das durch die praktischen Umstände eingeschränkte Recht auf Verteidigung sollen endgültig den von den liberalen Regierungsparteien hofierten Mittelschichten und wohlhabenden Klassen vorbehalten werden.

Die Ligue des droits de l’homme Toulouse fasst in ihrer Studie zusammen: „La population de la comparution immédiate est une chair à prison: dans cette justice des pauvres et des sans grade, les ‚garanties de représentation‘, sésame pour éviter la maison d’arrêt, sont faibles ou discutables. SDF, étrangers en situation irrégulière, jeunes en errance, toxicomanes, alcooliques, malades mentaux en situation précaire, ils n’ont guère d’arguments pour éviter le pire. L’enferment s’inscrit facilement dans ces parcours chaotiques. D’autant plus facilement que cette justice-là ne prend pas le temps de comprendre ou de tenter de comprendre le pourquoi des choses. Elle se limite au comment.“

Laut Observatoire international des prisons (La comparution immédiate, Paris, 2018) dauert eine Comparution immédiate samt Plädoyers durchschnittlich 29 Minuten, um über Strafmaße bis zu zehn Jahren Gefängnis zu entscheiden. 70 Prozent aller verhängten Strafen sind Haftstrafen. Bei der Comparution immédiate werden acht Mal so oft Gefängisstrafen verhängt wie in traditionellen Verfahren. Die verhängten Haftstrafen bis zu sechs Monate nahmen binnen zwei Jahren um 22 Prozent zu.

„Plusieurs études montrent que les personnes jugées en comparution immédiate sont principalement des hommes, jeunes, peu insérés (sans logement ou sans logement propre, emploi précaire ou sans emploi); la majorité rencontre des problèmes de santé (dépendance, troubles psychiatriques); les personnes SDF ou étrangères sont surreprésentées par rapport à leur représentation dans la population“, so das Observatoire international des prisons. Die Mehrheit der Betroffenen sei bereits vorbestraft, doch „les études faites à Marseille, Nice, Paris et Toulouse montrent qu’entre 28 et 37 % des personnes traduites en comparution immédiate n’avaient pas de casier judiciaire. Les faits poursuivis en CI sont principalement des vols, des infractions à la législation sur les stupéfiants puis, dans une moindre mesure, des violences (très majoritairement sans interruption temporaire de travail) et des infractions routières (selon l’étude marseillaise).“

Produktivität Die Schnellverfahren gehorchen dem in der Justizpolitik eingeführten Produktivitätsideal des Traitement en temps réel, das der Just-in-time-Produktion der Industrie entspricht. Die Echtzeitbehandlung wird damit gerechtfertigt, dass die Gerichte entlastet, die Rechtssuchenden schneller bedient werden und die Strafen aus erzieherischen Gründen unmittelbar auf die Taten folgen sollen.

Die Ligue des droits de l’homme Toulouse bemängelt: „La parole du prévenu est ramenée à la portion congrue et les droits de la defense, malgré tous les efforts d’avocats bousculés, réduite au service minimum du procès équitable. ‘Traitement en temps réel’? En réalité justice d’abattage.“ Das wäre dann das Spiegelbild der so genannten Jahrhundertprozesse, wie desjenigen um die Bombenanschläge der Achtzigerjahre, der 30 Jahre nach der Terrorwelle aufgenommen wurde, anderthalb Jahre dauerte und seither unterbrochen ist, bis der letzte Verdächtige der Altersdemenz verfallen oder mit Orden und Uniform begraben ist.

Romain Hilgert
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