Mikrofiktionen sind aufs Kürzeste reduzierte Kurzgeschichten, die sich im Schnitt nie auf mehr als zwei Seiten ausdehnen. Ihr Erfinder ist der französische Schriftsteller Régis Jauffret, veröffentlichte 2007 mit Microfictions einen ersten Band. 2018 und 2022 schob er mit Microfictions 2018 und Microfictions 2022 eine Art Update nach. Bei Jauffrets tausendseitigen Bändern war es die schiere Masse an fiktionalen Situationen, die dem Formant sein Interesse verlieh: Innerhalb dieser oft zynischen Fragmente inszenierte der Autor ein Kaleidoskop lakonischer Alltagsituationen, die sich zu einem dunklen Weltbild verdichteten. Im Gegensatz zur Kurzgeschichte, die formalsemantisch von der Literaturkritik über die letzten Jahrhunderte durchtheorisiert wurde und somit eigentlich einem mehr oder weniger zwingendem Regelwerk unterliegt, ist die Mikrofiktion ein relativ freies, da noch wenig erforschtes Format: Etgar Kerets tolle Kurzgeschichten ähneln wegen ihrer immer größeren Verknappung mitunter, immer mehr dem, was Jauffret als Mikrofiktion definierte. Starke Meinung zu brennenden Themen, sein vor kurzem erschienener Band, zeugt recht eindrucksvoll davon, welch andersartige Welten ein Schriftsteller auf sehr wenigen Seiten erschaffen kann.
In Luxemburg hat Jean Sorrente vor zwei Jahren mit Blasons d’histoires eine Art Sammelsurium von Mikrofiktionen veröffentlicht – und nach dem monumentalen Goss kehrt Guy Rewenig zurück zum Kurzformat, ganz nach dem Motto: Je länger der Titel, desto kürzer das Werk. Mir fällt ein Stein vom Herzen und zertrümmert meinen dicken Zeh ist eine Art Zeugma als Buchtitel, der so sehr nach Guy Rewenig klingt, dass der Name des Autors auf dem Cover fast schon redundant ist: Würde man alle überlangen Guy-Rewenig-Buchtitel aneinanderreihen, würde dies in etwa der Länge einer der 61 Prosastücke, die diesen Band ausmachen, entsprechen.
Der Buchdeckel wirbt mit einem „unverkennbaren ‚Rewenig-Sound‘“, in seinen „Miniaturen“ trifft der Leser konsequenterweise auf kafkaeske Metamorphosen, als Fiktion getarnte Paralogismen, auf sture Erzählfiguren, absurde Konfliktsituationen, Metakritik in (Nahezu-)Haiku Format1, auf Kalauer und die für den Autor üblichen Alltagsabsurditäten im späten Kapitalismus. Wir begegnen diplomierten Nichtsmachern, Erntehelfern aus dem Balkan, die in der Weinprobe des gutbürgerlichen Luxemburgers schwimmen, geborenen Verlierern, „unrettbar Geworfenen“ und Menschen, die sich in ihrer Wohlstandsbubble am letzten Komfortstrohhalm festklammern, obwohl (oder gerade weil) die Welt um sie herum zerfällt.
Der Buchdeckel lügt nicht: In jedem Tableau, in jedem Wortwitz und in jeder skizzierten Fiktionswelt schwingt der „Rewenig-Sound“ überdeutlich mit – nur klingt er mittlerweile halt ein bisschen so, wie eine neue Single der Red Hot Chili Peppers: Man kennt die Zutaten und kann quasi schon vor dem Refrain ebendiesen Refrain mitsingen, weil man die für die Band so typischen Akkordfolgen verinnerlicht hat. Die hermeneutische Freude, die der treue Rewenig-Leser aus der Voraussehbarkeit des erzählerischen Ablaufs ziehen kann, wird jedoch hier etwas geschwächt, weil die Verknappung des Formats Rewenig einer seiner Stärken – die der hohen Kunst der Digression – beraubt. So legen Rewenigs Miniaturen eine Schablonenhaftigkeit bloß, die der Autor in seinen längeren Texten aus den Fugen geraten lässt: Dort entwickeln die Obsessionen des Schriftstellers (oder seiner Figuren) oftmals einen hypnotischen Sog, der hier abhandenkommt.
Amélie Nothomb wurde vor Jahren von einem Kritiker, der es leid war, jedes Jahr pünktlich zur rentrée littéraire den mehr oder weniger identischen Erguss der Belgierin serviert zu bekommen, vorgeworfen, sie wäre mehr Graphomanin denn Schriftstellerin – ergo jemand, der unter Schreibwut leidet und quasi zwanghaft all seine Gedanken zu Papier bringen muss. Was an sich gar nicht mal problematisch wäre, würde nicht am anderen Ende dieser Schreibwut ein Verlagshaus existieren, das die Erfolgswelle Nothomb reitet und jeden September ein Manuskript der Schriftstellerin auf den (übersättigten) französischen Büchermarkt loslassen würde.
Im Vergleich zu Guy Rewenig ähnelt Amélie Nothombs Veröffentlichungsrhythmus eines Romans pro Jahr allerdings nahezu dem eines Thomas Pynchon: Man erhält den Eindruck, dass Guy Rewenig neben zahlreichen polemischen Beiträgen in dieser Zeitung und im Tageblatt zurzeit all seine Gedanken niederschreibt – und die Éditions Guy Binsfeld alles abdrucken, was Rewenig einschickt.
Wo es bisher jedes Mal einen triftigen, wenn auch manchmal kontroversen Grund gab, das Manuskript zu veröffentlichen (siehe Bärenklau), fehlt einem bei Mir fällt ein Stein vom Herzen… ein wenig die Legitimität. Diese 61 Miniaturen wirken, als hätte sie Rewenig locker aus dem Ärmel geschüttelt – es sind routinierte exercices de style, tägliche Dehnübungen eines talentierten Schriftstellers. Als Einblick in Rewenigs Schreibwerkstatt haben diese kurzen Prosatexte sicherlich ihre Legitimität – ob es dafür jedoch eine Buchveröffentlichung gebraucht hätte, darf angezweifelt werden.
1 Die im Übrigen bereits im Land abgedruckt wurde