Rückerstattung medizinischer Behandlungskosten

Unsichtbarer Dritter

d'Lëtzebuerger Land vom 02.12.2010

Und wenn die Patienten die Kosten für eine Behandlung künftig nicht mehr vorstrecken müssten, weil die Kasse sie automatisch übernimmt? Als Minister Mars Di Bartolomeo (LSAP) im Juli den Vorentwurf zur Gesundheitsreform publik machte, sah es so aus, als wollte er tatsächlich in diese Richtung gehen. Zum einen hieß es, der Tiers-payant social werde eingeführt. Dieses Vorhaben ist nicht neu. Es steht im Koalitionsprogramm, wie CSV und LSAP es vergangenes Jahr in ihren Wahlprogrammen versprachen. Für Personen, die in „situa-tions de détresse et de pauvreté considérable“ leben, werde die CNS alle Gesundheitsleistungen direkt übernehmen, wurde der entsprechende neue Gesetzesartikel erläutert.

Darüber hinaus aber sollte, so las sich der Plan vom Juli, die CNS Arztkosten bei jeglicher Behandlung im Spital direkt tragen. Sogar bei ambulanter Behandlung. Und es sollte ein so genannter Tiers-payant volontaire Einzug halten ins System: Jeder Dienstleister – nicht nur ein Arzt – sollte sich auf Wunsch generell direkt von der CNS bezahlen lassen können. Das ist heute, von Ausnahmefällen abgesehen, verboten. Di Bartolomeo dagegen erwog im Juli gar, den Tiers-payant volontaire durch Anreize zu fördern. Etwa durch „mo­dalités de remboursement adaptées“ oder ein „complément“ für Dienstleister, die bei der CNS elektronisch abrechnen.

Anscheinend wollte der Minister über kurz oder lang beim allgemeinen Direktzahlersystem ankommen. Doch von den Ankündigungen ist nicht mehr viel übrig. Vom Tiers-payant volontaire für daran interessierte Dienstleister rückte Di Bartolomeo bereits im September beim letzten Treffen mit dem Ärzteverband AMMD vor der Ausrufung des Service réduit ab. Dadurch gelangte die Idee nicht mal in den endgültigen Gesetzentwurf zur Reform. In diesem hielt sich dagegen die geplante Direktzahlung für alle im Spital geleisteten Arztkosten durch die CNS bis Mittwoch vergangener Woche – bis sie auf dem über fünfstündigen „Treffen der letzten Chance“ Di Bartolomeos mit den Ärztevertretern als Kollateralschaden auf dem Weg zum 31-Punkte-Kompromiss liegen blieb.

Aber auch wenn die AMMD schon im August in ihrem Gegenentwurf zum ersten Reformpapier des Ministers schrieb, eine allgemeine Direktzahlung durch die CNS sei eine Vorstufe zu zeitlich begrenzen Budgets, die die Kasse einem Arzt auferlegen könnte und die dieser dann nicht überschreiten dürfe: Di Bartolomeo stand selber nicht hundertprozentig hinter der Idee. Dass es die Versicherten „in die Verantwortung“ nehme, wenn sie Behandlungskosten vorstrecken müssten, hatte er noch im Wahlkampf 2009 erklärt. Weil die LSAP es ähnlich sieht und Teilen der CSV die Mitverantwortung der Versicherten fürs System noch nicht weit genug geht, dürfte das Reform-Kapitel Tiers-payant von Anfang an mehr als Verhandlungsmasse gedacht denn ernst gemeint gewesen sein.

Doch da es Konsens über den Tiers-payant social gibt, der ab 1. Januar gelten würde, müsste die CNS bis dahin mit den kommunalen Sozial-ämtern aushandeln, was unter „si-tuations de détresse et de pauvreté considérable“ zu verstehen sein soll. Gesetzlich geregelt soll diese Frage nicht werden. Vielleicht auch, weil ihre Beantwortung schwierig ist.

Denn einerseits genießen bislangnicht einmal RMG-Empfänger eine Vorzugsbehandlung durch die CNS. Einen Vorschuss in Form eines Chèque barré, der auf den Namen eines bestimmten Dienstleisters ausgestellt wird, erhalten lediglich Menschen, die sozusagen überhaupt kein Geld haben und sich deshalb in einer „situation insurmontable“ befinden, wie die CNS-Stauten das zu beschreiben versuchen. Ein paar hundert Mal im Jahr verhilft die CNS auf diese Weise Bettelarmen zu einem Arzt. Entscheiden muss darüber von Fall zu Fall ihr Präsident.

Andererseits machen erstaunlich viele Versicherte von der Möglichkeit Gebrauch, die seit der Einführung des Einheitsstatuts besteht, und holen sich in den CNS-Büros einen Scheck über den Kassenanteil an der von ihnen bezahlten Rechnung ab. 177 000 solcher Schecks, die bei der Spuerkeess eingelöst werden können, stellte die CNS letztes Jahr aus. Das ist sogar bezogen auf die 682 000 Versicherten, zu denen die 216 000 Nicht-Einheimischen mitgezählt werden, nicht gerade wenig. Und es ist um so bemerkenswerter, als Schecks hierzulande eigentlich aus der Mode gekommen sind. Laut einer Studie der Europäischen Zentralbank wurden 2009 in Luxemburg nur 0,04 Prozent der inländischen Zahlungen per Scheck abgewickelt.

Falls jedoch die Vorab-Bezahlung der Gesundheitskosten weitaus mehr Versicherten Probleme bereitet, als man denkt, wird die Entscheidung, wann ein Tiers-payant social gewährt werden soll, um so komplizierter. Zumal ab Januar die Eigenbeteiligungen steigen, fragt sich, wie man verhindert, dass der Tiers-payant social zum Stigma wird, das abschreckt.

Dass darauf noch keine Antwort gefunden wurde, kann erstaunen. Denn in den Verwaltungen wird über den Tiers-payant social schon seit drei Jahren gesprochen. Doch es waren die Verwaltungen und die CNS, die zum schrittweisen Übergang zum allgemeinen Tiers-payant mit der Reform gedrängt hatten: Das vermeide nicht nur Stigmatisierungen, es vereinfache auch die Verwaltung. Und je mehr Dienstleister direkt mit der CNS abrechnen würden – am besten elektronisch –, um so mehr der rund 70 Mitarbeiter, die sonst nichts tun als Rechnungen und Überweisungsbelege zu erfassen, würden für „sinnvollere und anspruchsvollere“ Arbeiten frei.

Peter Feist
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