Als Edward Steichen 14 Jahre alt war, unternahm er eine folgenschwere Reise. Er machte sich alleine auf von seiner Heimatstadt Milwaukee zur Weltausstellung ins rund 150 Kilometer entfernte Chicago. Der junge Steichen war beeindruckt von der Technik der Moderne und kaufte sich wenig später eine Kamera. Seine ersten Schritte in der Fotografie waren desaströs. Von 50 Aufnahmen sind ihm alle bis auf eine misslungen. Viele hätten sich wohl von der Fotografie abgewendet. „Doch Edward gab nicht auf.“ (S. 34) Gerd Hurm erzählt diese Episode aus dem Leben von Edward Steichen en passant in seiner gerade erschienen Biografie Edward Steichen (Editions Saint-Paul). Sie charakterisiert jedoch geradezu exemplarisch einen Wesenszug des „Gaassejong“ (S. 31) mit luxemburgischen Wurzeln: den unbändigen Drang, Neues zu entdecken.
Der Amerikanistik-Professor von der Universität Trier zeichnet in seinem Werk das Bild eines ebenso begnadeten wie ehrgeizigen Mannes. Ein moderner Universalkünstler, der Rückschläge geradezu spielend wegsteckt und dem dadurch keine Grenzen gesteckt sind. Steichen macht sich die Welt zueigen, nennt Paris und New York sein zuhause, zählt Picasso und Rodin zu seinen engen Freunden, legt sich mit den mächtigsten Unternehmern wie J.P. Morgan an, verhilft der Fotografie als Kunstform zum Durchbruch, kämpft in zwei Weltkriegen und steht auch sonst stets auf der richtigen Seite der Geschichte, erwirtschaftet nebenbei ein Vermögen, züchtet im Privaten neue Blumenarten und spricht dazu noch Lëtzebuergesch. Hurm schreibt es nicht explizit, aber der Leser weiß, worauf der Autor hinaus will: Steichen war ein Genie. Dabei umgibt den Künstler Steichen ein großer Widerspruch. Es ist die Diskrepanz zwischen Steichens unbändiger Schaffenskraft und dem, was die Kuratorin Helen Gee einmal als „Steichen-bashing“ (S. 147) bezeichnet hat, was Hurm rätselhaft ist. Wie kann ein solches Talent „eine vernachlässigte Figur“ und gar eine „Unbekannte der Moderne“ (S. 11) sein? Oder zugespitzt formuliert: Warum muss man in die tiefste Provinz in Luxemburg reisen, um die außergewöhnliche Schau Family of Man zu entdecken? Hurm versucht diesem Widerspruch nachzugehen und ihn durch zwei Erklärungsansätze aufzulösen: Zum einen hat Steichen sich durch seine non-konformistische und rebellische Art nicht nur Freunde gemacht. Zu der Armory Show von 1913, die „als Urknall der modernen Kunst“ (S. 82) in den Vereinigten Staaten gilt, wird er nicht eingeladen. Dadurch gerät er ins Abseits der Rezeption und wird zur Randfigur in der Kunst. Doch Hurm bietet noch eine überzeugendere Erklärung an. Steichens Kunst sprach nicht nur Eliten an, sondern wirkte auch auf die breiten Massen. Er hatte das Talent, durch seine Ästhetik ein großes Publikum zu erreichen. Kunst und Kommerz waren für ihn keine Gegensätze. Diese Form der angewandten Mainstreamkunst galt jedoch für manche Intellektuelle als frivol und geradezu verdächtig – und brachte ihm den Vorwurf eines „kommerziell kompromittierten Künstlers“ (S. 83) ein. Als Kronzeuge zitiert Hurm den renommierten französischen Kritiker Roland Barthes, der sich abfällig über Family of Man als „massenkulturelles Phänomen“ äußerte, das auf einem stupiden und sentimentalen Humanismus beruhe. (S. 144) Laut Hurm hat sich dieses negative Steichen-Bild im Kunstdiskurs gefestigt.
Hurm spielt mit offenen Karten: Er kann seine Begeisterung trotz akademischer Distanz und Sachlichkeit kaum verbergen. Es ist eine Verneigung vor Steichens Werk und ein Versuch, Steichen als Künstler zu rehabilitieren. Doch diese Faszination ist geradezu mitreißend für den Leser. Das Werk ist akribisch recherchiert und gibt einen umfassen Überblick zum vielfältigen Schaffen Steichens. Dabei ist es auch geradezu befreiend, dass Hurm aus Steichen nicht krampfhaft versucht, einen Luxemburger zu konstruieren. Der Autor verneint Steichens Herkunft nicht, aber reduziert sie auf das Wesentliche. Es ist ein großes Werk über einen großartigen Künstler.