„Zumindest was die deutschsprachige luxemburgische Kurzprosa anbelangt, lässt sich das Fazit kaum vermeiden, dass man im Grunde nicht viel verpasst, wenn man sie nicht kennt.“ So urteilte im Januar 2010 die Literaturkritikerin des Land. Knapp zehn Jahre und viel mittelprächtige Kurzprosa später lässt sich das Fazit kaum vermeiden, dass sich diese Kritikerin als Schriftstellerin selbst widerlegt hat. Elise Schmit hat 2018 einen Band mit Kurzgeschichten vorgelegt, ihr lange erwartetes Debüt. Der Literaturbetrieb hat ihr dafür mit den ausdrucksstärksten Mitteln gedankt, die er zurzeit besitzt: Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen (Hydre Éditions) wurde mit dem Prix Servais ausgezeichnet. Dank eines „Bicherfrënn“-Stipendiums konnte die Autorin zudem den Sommer im Literarischen Colloquium Berlin verbringen, der neuen Pilgerstätte der heimischen Literaturszene.
Grund genug, an den Wannsee zu reisen und die Laureatin rund um ihre literarischen und literaturkritischen Tätigkeiten zu befragen. Das Interview findet in einem Lokal gegenüber des LCB statt, wo gerade die Vorbereitungen für das Sommerfest laufen. Es ist das letzte wirklich heiße Wochenende in Berlin, und die allermeisten Menschen halten sich am südwestlichen Stadtrand auf, um zu baden. Wer bei 33 Grad im Schatten bereit ist, in direkter Seenähe über Bücher zu sprechen, muss sich der Literatur schon sehr verpflichtet fühlen.
Kritik als Einstieg und Umweg
Wir beginnen bei den Rezensionen, jener Textsorte, mit der Elise Schmit sich in den Literaturbetrieb hineingeschrieben hat. Seit über einem Jahrzehnt kommentiert die Autorin Neuerscheinungen insbesondere im Bereich der Luxemburgensia. Dass sie es mit der Gattung der Kritik ernst meint, zeigt sich nicht nur daran, dass sie von der Lyrik bis zum Kochbuch alles besprochen hat, sondern auch am Umstand, dass die meisten Rezensionen Verrisse sind – und zwar wohlbegründete. In einer Medienlandschaft, in der oberflächliches Lob als Kulturjournalismus durchgeht, stechen solche Texte hervor. In einem notorisch engmaschigen Betrieb riskiert man, sich damit keine Freunde zu machen.
Es gelten hierzulande „verschärfte Bedingungen, wenn es darum geht, neutral und sachlich über Bücher zu sprechen“, erklärt Schmit. „Es ist automatisch schwieriger, Abstraktionen zu machen, weil man immer weiß, dass man nicht bloß von einem Buch spricht, sondern von einer Person, die man kennt.“ Sich zu isolieren, bringe jedoch nichts. Man schreibe Rezensionen, „weil man gerne Teil einer Sache ist, Teil eines Diskurses“. Dieser mag sehr überschaubar sein. In der geringen Größe der Literaturszene sieht Elise Schmit jedoch auch eine Chance: sich über den freigebigen Austausch von Kontakten gegenseitig zu fördern. „Sobald es jemand von uns zu einem großen Verlag schafft, schauen die Kritiker auf Luxemburg, und davon profitiert jeder. Deshalb ist es völlig egal, wer es zuerst schafft.“
Hier spricht bereits die Schriftstellerin und nicht mehr die Kritikerin. Die beiden Rollen sind im Lauf des Gesprächs nicht immer leicht zu trennen. Noch im Anschluss daran versuchen wir zu klären, über was wir mehr gesprochen haben. Sich selbst sieht Schmit übrigens gar nicht als Literaturkritikerin, wie sie am Ende bekennt (die interessantesten Antworten erhält man bekanntlich, wenn man glaubt, alle Fragen gestellt zu haben). „Kritik ist ein Umweg für mich. Die Artikel waren ein Weg, herausrauszufinden, wie ich möchte, dass ein Buch ist. Jetzt erst sehe ich, dass mir dort klar wurde, was Schreiben tatsächlich für mich bedeutet.“
Dass es für (angehende) Autoren unerlässlich ist, sich intensiv mit der Literatur von anderen auseinanderzusetzen, betont Elise Schmit regelmäßig in ihren Rezensionen. „Man muss schrecklich viel lesen“, lautet etwa der Ratschlag an die Verfasserin eines missratenen Erstlings. Ob man nicht schrecklich viel (er)leben müsse, um die nötige schriftstellerische Reife zu erlangen, lautet meine Gegenfrage. Dem möchte die Befragte nicht widersprechen, erläutert jedoch: „Das Eigentliche am Schreiben ist nicht das Erlebnis oder der Inhalt, sondern die Form, und die kann man nicht komplett neu erfinden. Man schaut, was andere gemacht haben, wie man eine Geschichte erzählt.“ Schmit fügt noch einen Satz des von ihr verehrten Jean-Paul Jacobs hinzu: „Es ist besser, mit der Literatur zu leben, statt für die Literatur.“ Ob sie den unterschreibe? Sie wisse es nicht, aber es lohne sich, darüber nachzudenken.
Metaphern denken
Offenkundig gehört zum Schreiben nicht nur das schrecklich viele Lesen, sondern auch schrecklich vieles Nachdenken. Ich frage die Philosophie-Absolventin nach dem Unterschied zwischen Literatur und Philosophie, danach, ob sich manche Erkenntnisse nur in einer der beiden Textsorten finden lassen. Schmit beginnt, über Heidegger zu sprechen. Sie hat ihn viel gelesen, mag ihn nicht, kann ihn aber gerade in seiner Auffassung von Dichten und Denken und dem, was in beiden Formen sagbar ist, gebrauchen. „Dem kann ich etwas abgewinnen, zu sagen: Es gibt extreme Fälle, wo nur das eine oder das andere möglich ist. Aber in Wirklichkeit schreibt man ja nicht nur über Extremfälle in der Literatur. Dieser Unterschied macht mir zu schaffen, darüber denke ich viel nach beim Schreiben.“
Die Autorin kommt sogleich auf ihren unveröffentlichten Roman Brachland zu sprechen, mit dem sie 2010 den nationalen Literaturwettbewerb gewann. Sie beschreibt ihn als den Versuch, eine reduzierte Sprache (fast) frei von Metaphern zu finden. (Heidegger war ebenso Begriffslyriker wie Metaphernverächter.) „Eine Metapher ist etwas ganz, ganz Schwieriges“, führt Schmit aus, „eine Metapher öffnet, wenn sie interessant ist, nach vielen Seiten hin die Interpretation, und dann entstehen Missverständnisse. Ich bin gerne präzise. Das ist so ein Wunsch, dass ich präzise schreibe.“
Hier hätte man sich zu der These versteigen können, dass Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen das Nachdenken über Metaphern weiterführt und eine ausgedehnte Reflexion über die Unterscheidbarkeit von eigentlicher und uneigentlicher Rede darstellt. Auf der ersten Seite liest man Variationen über das absteigende Thema von „Stürzen“, deren wörtliche oder bildliche Bedeutung es zu ergründen gilt. Auf der letzten steht die Frage im Raum, ob sich kriegsversehrte luxemburgische Männer genauso „reparieren“ lassen wie kaputte deutsche Radios.
Der unsagbare Rest
Elise Schmit holt sich ein neues Getränk und wir reden über einen anderen Aspekt ihres Erzählbands. Indem wir miteinander reden, sind wir auch schon bei einem Kernanliegen des Buchs. Es gibt ein breites Spektrum an gescheiterten Kommunikationsversuchen und Gemeinschaftserlebnissen in Stürze, dessen Enden gewissermaßen von einer einzigen Figur markiert werden. In der zweiten Geschichte berichtet ein Mann namens Glenn einem ungläubigen Zuhörer, wie er sich zuerst auf eigene Faust in der Wildnis durchgeschlagen und sein Heil anschließend in der Kirche gefunden hat. Autarkie und Gottesbund, beide erweisen sich als leicht durchschaubare Trugschlüsse. Nur, dazwischen gehen die Schwierigkeiten menschlichen Miteinanders erst richtig los.
„Leute können miteinander reden, aber es findet kein wirklicher Austausch statt,“ bekundet Schmit. Kommunizieren („kein schönes Wort“) sei pragmatisch möglich, aber es bestehe immer eine prinzipielle, unüberwindbare Unsicherheit. Die könne man nicht auflösen. „Das alles ist ein Konstrukt, eine Art Platzhalter, für den es keinen Ersatz gibt. Es bleibt immer ein Rest, den man nicht sagen kann. Über den denke ich viel nach.“ In ihrem Buch habe sie dieses Problem „radikalisiert, im Sinne von auf die Wurzel zurückgeführt, in einer vereinfachten, extremeren Form dargestellt.“
Die Unfähigkeit, einander zu verstehen, wird in Stürze jedoch nicht bloß vorgeführt. Im Verlauf der Geschichten können Leserinnen und Leser das Scheitern zumindest teilweise nachvollziehen. „In der Literatur kann man plötzlich jemandem in den Kopf schauen.“ Elise Schmit hält ihre Figuren, die „nahe an richtigen Menschen“ sein sollen, mithilfe „kleiner Irritationen“ und stilistischer Mittel wie der indirekten Rede auf Distanz zum Publikum. Das ändert aber nichts an dem grundlegenden utopischen Potenzial, das sie in der Literatur sieht: „Man kann etwas in einem Buch tun, was man als ‚Leser‘ eines Menschen nicht tun kann. Und das ist ein großer Reiz der Literatur, und deshalb ist es auch wichtig, dass man liest, dass man übt, Empathie zu empfinden und sich vorstellt, wie es ist, eine andere Person zu sein. Das ist natürlich sehr moralisch.“
Empathie als Utopie
Auf die Nachfrage hin, ob sich das nicht auch rein als kognitiver Prozess begreifen lässt, entgegnet Schmit: „Nein, ich meine es moralisch.“ Zuvor hatten wir uns bereits kurz über Ästhetik und Moral unterhalten, ausgehend von einem Oscar Wilde-Zitat, das ich in einigen ihrer Rezensionen als Paraphrase wiedererkannt zu haben glaubte: „There is no such thing as a moral or immoral book. Books are well written, or badly written. That is all.“ Dass es sich bei dieser Gegenüberstellung um eine falsche Dichotomie handelt, versteht sich von selbst. Aber nun wird vielleicht deutlich, inwieweit die Moral in Elise Schmits literarischen Texten in der Ästhetik drinsteckt, in ihr – und hier gesellt sich Hegel zu Heidegger – aufgehoben ist. In der Literatur erkennt die Autorin ein „Ideal“, ganz im Sinne des philosophischen Idealismus.
Allerdings sei sie eine „Idealistin ohne Hoffnung“, so Elise Schmit. Auch die literarische Kommunikation gehe letztlich nicht vollständig auf – von der Möglichkeit, durch Literatur die Welt zu verändern, ganz zu schweigen. „Menschen, die lesen, gehören meist nicht zu denen, die das Sagen haben.“ Aber eine Lese-Erfahrung sei auch eine Erfahrung, gibt die Autorin zu bedenken. „Eine literarische Figur kann einen prägen, in der Art und Weise, wie man ist und denkt. Warum sollte man das kleinreden?“
Das will hier am Tisch sicherlich niemand. Allerdings ist es immer noch drückend heiß, und auf der anderen Straßenseite hat das Sommerfest des LCB begonnen. Wir machen uns auf, um am See sitzen und Lesungen und weiteren Literaturgesprächen beizuwohnen. Ob dieses Gespräch, in dem so viel über misslungene Kommunikation geredet wurde, gelungen ist? Um einen letzten Begriff der von Elise Schmit nicht immer geschätzten Kommunikationstheorie zu bemühen: Es war zumindest anschlussfähig.