Eine Buchbesprechung hat gewöhnlich eine einzige Frage zu beantworten: Handelt es sich um ein gutes Buch? Die Besprechung eines Buches, das unter Pseudonym veröffentlicht wurde, kann sich mit der Beantwortung dieser Frage nicht begnügen. Sie wird dazu angehalten zu fragen: Ist es ein gutes Buch? Wer ist der Autor oder die Autorin? Warum versteckt er oder sie sich hinter einer Maske? Warum machen sich KritikerInnen und andere Akteure des Literaturbetriebs mit ihren Spekulationen zu Spielbällen einer fruchtlosen Legendenbildung? Dass die Literaturkritik auf diese Weise von ihrer eigentlichen Aufgabe abweicht, dass sie in ein vom Autor angezetteltes Theater hineingezogen wird, bei dem es nicht mehr um Texte geht, sondern um Personen, ist natürlich intendiert. In Wahrheit geht es nicht um eine von der Person und ihrem Ruf unabhängige Einschätzung des Textes, die Autoren gelegentlich als Grund dafür anführen, dass sie nicht unter eigenem Namen veröffentlichen. (Ergänzungsfrage: Warum traut der Verwender des Pseudonyms der Kritik keine sachliche Arbeit zu?) Die Praxis der letzten Jahre zeigt, dass der Effekt eines Pseundonyms nie der einer sachlicheren Kritik ist, sondern dass Pseudonyme, auch im begrenzten Rahmen des luxemburgischen Literaturbetriebs, nichts anderes sind als kapitalistische Werkzeuge im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit potentieller Käufer.
Mit Die Tanzenden hat Nico Helminger (oder jemand der ganz genau so schreibt wie Nico Helminger) einen als Autofiktion getarnten Roman geschrieben, der auf mehreren Ebenen als Satire angelegt ist. Die Hauptfigur Tomas Bjørnstad, die als Autor des Buches ausgegeben wird und in der „wirklichen Welt“ über den Roman hinaus bereits einen Gedichtband vorweisen kann (Fjorde, Éditions Guy Binsfeld 2018), steckt in einer Liebes- und Lebenskrise. Tomas trauert einer Beziehung hinterher, fühlt sich uneins mit sich selbst, ist unzufrieden mit seinem Doppelberuf als Übersetzer von Reiseführern und Verkäufer teurer Badezimmer, vertut seine Zeit bei sinnentleerten sozialen Zusammenkünften wie Vernissagen und langweiligen Partys. Zum Symbol der Unerfülltheit und inneren Zerrissenheit der Figur wird in der Eingangspassage des Romans ein Element ihrer Selbstwahrnehmung: Tomas nimmt an einem Konzert von Patti Smith in einem Kunstmuseum teil und kann nicht mit den anderen Gästen mitklatschen, weil ihm, wie er meint, ein Arm fehlt. Ein Genazino-Zitat vielleicht (in Genazinos Roman Mittelmäßiges Heimweh kommen der Hauptfigur neben Ziel und Sinn ebenfalls Körperteile abhanden), eine Figur jedenfalls, die durchs Leben stolpert und in allen Ereignissen nur ihr eigenes Unglück erblickt.
Formal spiegelt der Autor die Zerrissenheit der Figur in einer nicht-linearen, nicht auf eine einzelne Perspektive beschränkten Erzählweise. Tomas’ Reflexionen sind durchsetzt mit Auszügen aus dem Blog seiner Ex-Freundin Magali, mit E-Mailwechseln, Dialogen, mit Auszügen aus einer dystopischen Erzählung, die Tomas zusammen mit seinem Freund Arni entwirft. Das Verfahren erinnert zum Teil stark an Helmingers letzten Roman, Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch sengen Deeg an der Loge, auch was den satirischen Drall der Darstellung der luxemburgischen Gesellschaft anbelangt. Was in Menn Malkowitsch gelingt, löst Die Tanzenden jedoch nicht ein. Zwar kann man in gleich zwei Besprechungen des Romans (im Tageblatt und Wort) lesen, das Buch nehme eine „messerscharfe Analyse“ vor, doch außer den auch schon in anderen Romanen auch schon anderer Autoren bis zum Überdruss breitgetretenen Klischees über dumme Lehrer, dumme Polizisten und dumme Vertreter von Politik, Medien und Wirtschaft hat Tomas Bjørnstad nicht viel zu bieten.
Um strukturelle Zusammenhänge und komplexe Probleme, geschweige denn um Lösungsvorschläge, geht es ihm nicht. Unablässig kippt die Figur ihre Verachtung in Form von gehässigen Verallgemeinerungen vor dem Leser aus, ohne dass sich – auch nur ex negativo – erkennen ließe, welche Form von Gesellschaft ihr im Gegenzug vorschwebt oder welcher Lebensentwurf einen Ausweg aus der Unzufriedenheit bieten könnte. Das liegt auch daran, dass die Figur ein fester Teil der Gesellschaft ist, die sie verachtet, dass ihr Hass eigentlich Selbsthass ist: „Ärgere mich über meine Inkonsequenz“, klagt Tomas, „über meine dämlichen Mitmachwünsche, über diese schäbigen Wochenendrituale, denen ich anscheinend nicht entkommen kann.“ Eine selbstverschuldete und letztlich leicht zu vermeidende Inkonsequenz, möchte man meinen.
Bedeutet das, dass es dem Autor eigentlich um eine Kritik an der Generation seiner Figur geht, vielleicht sogar um eine Kritik an der Literatur, die diese Generation produziert? Schwer zu sagen, auch wenn die Namen einiger Luxemburger Autoren in einer Episode als Austauschware gehandelt werden. Tomas’ kindisches Selbstmitleid, er ist immerhin Mitte dreißig, ist schwerlich anders zu lesen denn als Parodie auf die Millennials: „Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll.“ Der Leser weiß das leider auch nicht. Der Figur in ihren weinerlichen, egozentrischen Selbstanklagen zu folgen fällt schwer, zu sehr verstrickt sie sich in Behauptungen von Zuständen, die auf der Handlungsebene gar nicht hergeleitet werden (auch weil eine Handlungsebene nur im rudimentären Sinn vorhanden ist).
Noch viel schwerer fällt allerdings, die Liebesgeschichte nachzuvollziehen, die als Klammer für das fragmentierte Konstrukt des Romans eingesetzt wird. Die Frauenfiguren in Die Tanzenden sind von einer Oberflächlichkeit, die einen beinahe dazu verleiten könnte, das Buch als Satire auf den Machismo zu lesen, von dem sich seit einiger Zeit die me too-Bewegung abzuheben versucht. Dazu passt, dass Frauen hier kaum als Handlungsträgerinnen auftauchen. Nahezu ausnahmslos werden sie in diesem Buch auf ihren Körper reduziert, selbst Magali, der Tomas mit etwas wie Freundschaft begegnet, wird über ihre Magersucht definiert. Meistens warten diese Frauen offenbar nur darauf, sich den männlichen Figuren an den Hals zu werfen. Die Verneinung der Liebe als Rettung vor dem Sinnverlust mag man als postmoderne Haltung verstehen: Pornographie statt Zuneigung, Gruppensex statt Seelenverwandtschaft. Was konzeptuell einleuchtet, wirkt in der ausführlichen Ausbuchstabierung irgendwann ziemlich ermüdend.