Der Kinosommer im Corona-Jahr 2020

Sinnkrisen und Zeitschleifen

d'Lëtzebuerger Land vom 24.07.2020

Der Kinosommer wurde dieses Jahr abgesagt. Natürlich sind die Kinos sind wieder betriebsfähig und natürlich wurden Initiativen gestartet, um – wenn auch überwiegend motorisiert – so etwas wie eine Freilicht-Kinosaison anzubieten. Aber der klassische Kinosommer oder Blockbuster-Sommer wurde verlegt. James Bond, Marvel – alles wurde ins letzte Jahresquartal verschoben. Auch Tenet, der neue und lang erwartete Mindgame-Film des britischen Regisseurs Christopher Nolan, sollte eigentlich letzte Woche seinen Weg auf die grands écrans finden. Nach wiederholtem Nach-Hinten-Verlegen des Starttermins wurde er am Montag auf unbestimmte Zeit komplett vom Spielplan genommen. Tenet auf eine Streaming-Plattform zu klatschen, ist und bleibt für Nolan jedoch weiterhin keine Option.

Netflix und Hulu kommen nun aber mit zwei Spielfilmen daher, überlisten mit einem trojanischen Pferd die amerikanischen Studios – die wenn man Expert/innen Glauben schenkt, eh seit Jahren mehr für die Zerstörung des Kinos als Ort tun als die derzeitige Pandemie – und schenken dem sonnenscheuen Cinephilen seine Sommer-Blockbuster Anno 2020.

Wieso dieses Bild aus der griechischen Mythologie? Weil die Comic-Filmadaptation The Old Guard und die romantische Komödie Palm Springs unter den jeweiligen Genrecodes dem Zuschauer die griechische Antike ins Gesicht wedeln. Die Hauptfiguren aus Palm Springs sind moderne Nachkommen von Sisyphus und Prometheus, Charlize Therons Charakter in The Old Guard ist an die beiden Andromaches angelehnt. Sie heißt sogar so: Andromache the Scythian, von Kolleg/innen jedoch einfach Andy genannt. Wenn die beiden Filme auch auf den ersten Blick so verschieden aufzutreten scheinen, verbindet sie doch so einiges. Nicht nur haben die beiden Drehbuchautoren die angelsächsichen Pendants von Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums gelesen. Die Autoren verbindet auch, dass sie dem dramaturgischen Konzept in Verbindung mit existenzialistischer Reflexion besonderes Augenmerk schenkten.

The Old Guard hat eine Gruppe von Söldner/innen im Mittelpunkt, die seit Jahrhunderten unter der Führung von Therons Figur die Welt der Sterblichen beschützt. Die alte Garde ist nämlich unsterblich. Immer wieder wird sie bei Auseinandersetzungen niedergestreckt, um sich nur wenige Momente später aufzurappeln. Eines Tages finden die Helden der Geschichte sich im Visier eines Pharmakonzerns wieder, der es natürlich auf ihre Unsterblichkeit abgesehen hat. Ein Actionfilm mit unsterblichen Protagonisten – auf den ersten Blick natürlich schwierig. Bei Palm Springs sieht es ähnlich aus, darin wird zunächst ein ungemütliches Déjà vu erzeugt und die Prämisse des Klassikers Groundhog Day neu aufgewärmt. War es damals Bill Murray alleine, der sich jeden Tag den mit dem gleichen Tag herumschlagen musste, so machen das hier zwei Personen. Oder vielleicht noch mehr.

Während man sich bei The Old Guard berechtigterweise fragen kann, wieso man in Figuren investieren soll, denen eigentlich gar nichts zustoßen kann, lautet die essentielle Frage bei Palm Springs: Wieso Groundhog Day, einen Film, der zu einem Genre wurde – siehe: Edge of Tomorrow, 50 First Dates, Russian Doll, Happy Death Day et cetera –,quasi neuverfilmen? Der Dalai Lama und die Buddhisten haben einen Lieblingsfilm, nicht ein Lieblingsgenre. Diese Fragen sind natürlich Fragen, die sich die Filmemacher/innen ebenfalls gestellt haben. Die Antworten, die sie anbieten, sind interessanter und komplexer, als das man es den Filmen zugetraut hätte.

Die formal dramaturgischen Konzepte sind so prägnant und stark, dass nicht nur das Publikum weiß, was geboten wird. Die Marketing-Abteilungen benutzen die Pitches, um effiziente Vorankündigungen und Trailer zu produzieren. Aber ein zweiminütiger Trailer ist kein Zwei-Stunden-Film! Auch das wissen die Filmemacher/innen. Es soll ja Menschen geben, die Ang Lees Gemini Man gesehen haben. Ein schlechter Film, der sein astreines Konzept nicht auszuleben wusste. Auf einen in die Jahre gekommenen Killer Will Smith wird ein Kopfgeld gesetzt. Einer seiner Jäger: eine geklonte junge Version seiner selbst. Aber es dauerte zum Beispiel eine ganze Stunde, bis die im fertigen Film eingeführt wurde. Im Trailer dagegen war natürlich sie der selling point.

In The Old Guard wird nicht lange gefackelt. Das Unsterblichkeits-Dispositiv steht nach zwölf Minuten, und es gilt mit dem Konstrukt etwas über die Figuren zu erzählen. Zu Beginn von Palm Springs ist die männliche Hauptfigur, von Andy Samberg gespielt, schon in ihrer Zeitschleife. Nur wissen es die Zuschauer nicht gleich. Ist die Frauenfigur einmal mit in der Zeitschleifen-Partie ist und erklärt Samberg ihr die Mechanismen des sich immer wiederholenden Tages, erzählt er damit über sich selbst und seinen Zynismus der Welt und den Mitmenschen gegenüber mehr, als dass er den Zuschauern die Logik des Plots darstellt.

Natürlich verhindert die dramaturgische Grundbasis nicht, dass verschiedene Action-Sequenzen in The Old Guard nicht ganz auf der Originalitäts-Höhe sind. Die Diversitäts- und Repräsentationsfrage ist im Actionfilm dank der Regisseurin Gina Prince-Bythewood zwar verhältnismäßig elegant eingeführt, bleibt aber noch immer mehr Kosmetik als fester Kern der Geschichte. Auch die Auflösungen beider Filme sind etwas holprig, beziehungsweise nicht ganz konsequent in der Überlegung. Zwischen den Wellen und dem Satz: „Mit dem Virus leben lernen“, erscheinen plötzlich quasi zeitgleich zwei Filme, in denen gerade die Frage vom „Wie leben?“ als Kernfrage steht. Wie leben oder überhaupt leben, wenn das Leben unendlich ist oder sich permanent wiederholt? Welche Verantwortungen gehen damit einher? Und hat das eigentlich überhaupt einen Sinn?

In dem einem Film geben Sinnkrisen um Leben und (Nicht-)Tod den Ton an, in dem anderen die vermeintliche Unmöglichkeit, aus einer Komfort-Zone auszubrechen und dabei eventuell erwachsen zu werden. The Old Guard ist nicht Charlize Therons neuer Film auf dem Niveau von Mad Max: Fury Road, und Palm Springs reicht eh nicht an das Original Groundhog Day heran – aber was soll‘s: 2020 ist im Großen und Ganzen sowieso nicht der Grand Cru, den wir uns eventuell erhofft hatten. Und wenigstens wissen wir jetzt, dass die griechische Antike und die Lehren des Existenzialimus sich ganz unterhaltsam miteinander verbinden lassen.

Tom Dockal
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