Verhandlungen über einen Waffenstilstand in der Ukraine. Eine Chronologie

Fünf nach Zwölf

d'Lëtzebuerger Land du 13.02.2015

Donnerstag, 5:20 Uhr, MEZ. Die Verhandlungen in Minsk dauern an. Die im Moment wichtigsten Politiker Europas sitzen seit Mittwochabend 20:40 Uhr in der weißrussischen Hauptstadt an einem Tisch: die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident François Hollande, der russische Präsident Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Sie haben sich getroffen, um das Blutvergießen in der Ukraine zu stoppen. Die Verhandlungen gelten als letzte Chance, bevor der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, vollends entfesselt wird. Auffallend: Großbritannien hat sich von der europäischen Bühne verabschiedet und wird nicht einmal vermisst. Mit einem schnellen Ende der Verhandlungen wird nicht gerechnet.

Putin und Russland wollten diesen Krieg nicht, der offiziell bald 6 000 Menschen getötet, 100 000 verletzt und 1,5 Millionen zu Flüchtlingen gemacht und viele Städte zerstört hat. Inoffiziell sprechen deutsche Geheimdienstkreise von über 50 000 Toten. Putin hätte diesen Krieg um Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie in der Ukraine nur allzu gern vermieden. Es wäre ihm viel lieber gewesen, der vom ukrainischen Volk davongejagte Präsident Viktor Janukowitsch hätte vor einem Jahr nicht nur ein kleines, sondern ein großes Blutbad auf dem Maidan in Kiew angerichtet, die Protestbewegung brachial zerschlagen und das große Land im Südwesten Russlands auf Kurs gehalten. Kurs halten in der Ukraine, das heißt für Russland, dass das Land sich als territoriale Pufferzone vor dem Russischen Reich versteht und sich entsprechend verhält. Geopolitiker, die gerne über die nicht zu verteidigende große europäische Tiefebene reden, haben oft viel Verständnis für diese Sichtweise. Die Häfen der Krim als indirekter Zugang zum Mittelmeer gelten ihnen als weitere Lebensader, die Russland kontrollieren müsse.

Für Putin und seine Gesinnungsgenossen ist eine abhängige Ukraine lebensnotwendig. Ohne sie, heißt es, könne Russland nicht leben und gedeihen. Was sie bei ihrer Sichtweise nicht bedenken, ist die Kehrseite dieser Medaille. Wenn die Ukraine lebenswichtig für Russland ist, dann wird sich Russland selbst zerstören, wenn es die Ukraine zerstört. Wenn dies auch nicht für das Land gilt, so ist die Gefahr für Putins Herrschaftssystem schon jetzt real. Hier dürfte der Grund liegen, warum Putin bereit ist, so lange zu verhandeln. Seine Herrschaft wird durch drei Dinge bedroht. Erstens: Eine funktionierende Demokratie im wichtigsten Nachbarland kann wie ein Virus auf Russland überspringen und dort in der Bevölkerung den Wunsch wachsen lassen, auch in einem Rechtsstaat leben zu wollen. Zweitens: Die Ukrainer sind bereit, für ihre Freiheit zu sterben. Das hat die Kosten für Putins Masterplan schon jetzt in nicht geplante Höhen getrieben. Noch letzten Sommer haben sich die Separatistenführer bitter darüber beklagt, dass die Menschen der Ostukraine nicht mit ihnen kämpfen wollten. Sie mussten sich aus mehreren Städten zurückziehen und standen militärisch vor einer Niederlage. Nur zu gerne hätten sie zum Beispiel in Odessa und in Mariupol die Herrschaft übernommen. Es ist ihnen nicht geglückt. Erst der Einsatz russischer Soldaten und die massive Lieferung russischer Waffen hat es ihnen ermöglicht, ihre Stellungen zu halten. Mit dieser Unterstützung haben sie seit dem letzten Waffenstillstandsabkommen von Minsk ihr Territorium enorm vergrößert. Drittens: Die Länder der Europäischen Union waren sich überraschend einig. Putin hat sicher nicht damit gerechnet, dass die EU bereit wäre, sein Land mit Sanktionen zu überziehen, die ihr selbst und der russischen Wirtschaft wehtun. Den Verfall des Ölpreises hat die russische Führung ebenfalls nicht kommen sehen.

6:39 Uhr, MEZ. In Minsk soll eine Einigung erreicht worden sein. Stimmt das, so bleibt die bange Frage, ob sich Russland und seine Separatisten daran halten werden. Für Vertragstreue wird Putin nicht in die Geschichte eingehen. Gelingt die Einigung nicht oder nicht dauerhaft, dann werden weder die USA noch die EU darum herumkommen, die militärischen Abwehrkräfte der ukrainischen Armee massiv zu stärken. Diese Armee ist sehr klein, war über Jahre völlig vernachlässigt worden und etwa ein Viertel ihrer Aktiven sind zurzeit in der kleinen Stadt Debalzewo eingekesselt, ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt mit direkter Schienenverbindung nach Russland.

Für Europa steht in Minsk und in der Ukraine alles auf dem Spiel. Bundeskanzlerin Angela Merkel und François Hollande kämpfen für den Bestand einer Friedensordnung. Fällt diese, dann muss die EU mit einem Russland leben, das bereit scheint, andere Länder in seiner Peripherie anzugreifen, sei es direkt oder hybrid. Dann muss Europa wieder in den Abschreckungsmodus zurückgehen, sein Militär stärken und immer auf einen Atomkonflikt gefasst sein. Die ersten Schritte in diese Richtung hat die Nato bereits unternommen. Sie will verhindern, dass die baltischen Länder nach einer erfolgreichen russischen Operation in der Ukraine die nächsten Opfer einer hybriden Kriegsführung werden, die ihre wahren Ziele und Akteure mit allen Mitteln der Propaganda zu verschleiern sucht.

Ein offener Krieg zwischen Russland und der Ukraine wäre eine europäische Katastrophe. Würden die EU und die USA die Ukraine aufgeben, wäre die Katastrophe nicht weniger groß. So lange die Ukrainer bereit sind, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, müssen sie unterstützt werden. Am Ende geht es nicht um einige tausend Quadratkilometer in der Ostukraine, am Ende geht es um nichts weniger als um einen dauerhaften Frieden in Europa.

10:30 Uhr, MEZ. Kremlchef Wladimir Putin verkündigt vor Journalisten einen Waffenstillstand für das Kriegsgebiet Donbass ab kommenden Sonntag, den 15. Februar. Zusätzlich sollen schwere Waffen aus der Region abgezogen werden. Weitere Details über die Vereinbarung, die nach 17 Stunden ausgehandelt wurde, waren bis Redaktionsschluss nicht bekannt.

Christoph Nick
© 2024 d’Lëtzebuerger Land