Mit seinem Gutachten zum Gesetzentwurf über die Aussetzung von Zwangsräumungen hat der Staatsrat erneut eine Debatte über seine Daseinsberechtigung losgetreten

Bona fide

Selbst der Glasboden im Staatsrat ist nicht ganz transparent
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 06.01.2023

Weihnachtsgeschenk Eigentlich wollte die Regierung den ärmsten unter den wegen hoher Energiepreise und gestiegener Lebenshaltungskosten arg gebeutelten Mieter/innen ein barmherziges Weihnachtsgeschenk machen, als die grüne Justizministerin Sam Tanson am 3. Oktober im Parlament einen Gesetzentwurf hinterlegte, der wegen des allgemeinen Mangels an erschwinglichen Wohnungen Zwangsräumungen nicht auf ewig, sondern nur im kalten Winter (bis zum 31. März 2023) aussetzen sollte – außer in Fällen, in denen eine Wegweisung wegen häuslicher Gewalt oder nach einer Ehescheidung unausweichlich wäre. Das von Gewerkschaften, NGOs, dem Mieterschutzbund und Migrantenorganisationen gebildete Aktionsbündnis Coalition Wunnrecht hatte die Initiative ausdrücklich begrüßt. Doch der Staatsrat machte der Justizministerin in seinem am 13. Dezember veröffentlichten Gutachten mit einer opposition formelle einen Strich durch die Rechnung. Die „hohe Körperschaft“ argumentierte, Mieter/innen seien durch das Mietgesetz von 2006 bereits ausreichend geschützt (vorausgesetzt sie kennen ihre Rechte, können sie Ausweisungen gerichtlich bis zu neun Monate aufschieben).

War ein Ausweisungsstopp während des Corona-Lockdowns wegen der Ausgangssperre gerade noch zu rechtfertigen, ist er das bei hoher Inflation nicht. In seinem Gutachten beruft sich der Staatsrat auf das Verfassungsgericht, das in rezenten Urteilen das lange Zeit vor allem im deutschen Recht gängige principe de proportionnalité zum Verfassungsgrundsatz erhoben hat. Abgeleitet wird es aus den Artikeln über die Gleichheit vor dem Gesetz, den Schutz des Privatlebens und das Recht auf Privateigentum, das in Luxemburg (anders als in Deutschland) zu nichts verpflichtet, ja nicht einmal dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll. Dementsprechend argumentiert der Staatsrat, Tansons Gesetzentwurf benachteilige Vermieter/innen überverhältnismäßig, weil er nicht nur den „locataire de bonne foi“ schütze, der unter den „vicissitudes de l᾽économie“ leide, sondern auch den, dessen Mietvertrag gekündigt wird, weil er mutwillig seine Wohnung beschädige oder andere darin vereinbarte Bestimmungen nicht beachte – sprich: es wird ihm unterstellt, er zahle absichtlich keine Miete, obwohl er es sich leisten könne. Auch werde dem möglichen persönlichen Eigenbedarf des Vermieters auf „seine“ Wohnung in dem Entwurf nicht Rechnung getragen. Sollte der Staatsrat alle Gutachten der Berufskammern gelesen haben, hat er sich in seinem eigenen vor allem an dem der Handelskammer orientiert.

Dass der Staatsrat eine moralische Klassifizierung in „gute“ und „böse“ Mieter/innen vornimmt und Vermieter/innen als Opfer von locataires de mauvaise foi darstellt, stieß nicht nur der linken Abgeordneten Nathalie Oberweis, sondern auch der Justizministerin selbst sauer auf. Sie hätte sich gewünscht, dass der Avis des Staatsrats etwas früher gekommen wäre, damit die Abgeordnetenkammer noch darüber hätte diskutieren können, bedauerte Sam Tanson in ihrer sehr knappen Stellungnahme im Parlament.

Kälte Obwohl die Dringlichkeit des Gesetzentwurfs wegen der üblicherweise im Spätherbst einsetzenden Kälte offensichtlich schien, ließ der Staatsrat sich mit seinem Gutachten über zwei Monate Zeit. Das Justizministerium hatte ihn nicht extra schriftlich darauf hingewiesen, eben weil die Dringlichkeit auf der Hand lag und es zudem ein sehr kurzer Text mit wenigen Sätzen war. Auch die Kammer hatte es versäumt, den Staatsrat daran zu erinnern und so ging das Gutachten in einem halben Dutzend anderer Gesetzentwürfe unter (die meisten standen im Zusammenhang mit der Verfassungsreform), die der Justizausschuss noch vor Jahresende dem Parlament zur Abstimmung vorlegen sollte, erzählt sein Präsident Charles Margue (déi Gréng) dem Land. Und weil der Ausschuss keine Zeit hatte, noch über das Gutachten zu diskutieren, einigten die Abgeordneten sich darauf, den Änderungsvorschlag des Staatsrats – in dem zwischen „guten“ und „bösen“ Mieter/innen unterschieden wird und selbst „gute“ Mieter/innen ein Bittgesuch beim Friedensgericht stellen müssen, um nicht ausgewiesen zu werden – bruchlos zu übernehmen und vereinbarten, in der öffentlichen Sitzung nicht dazu Stellung zu nehmen. Nur der ADR-Abgeordnete Roy Reding hatte diese Vereinbarung nicht mitbekommen, weil er in der entsprechenden Ausschusssitzung gefehlt hatte, deshalb trieb er in öffentlicher Sitzung die Argumentation des Staatsrats auf die Spitze, als er mahnte, Privateigentümer dürften nicht vom Staat „in den Ruin“ getrieben werden und es sei an der öffentlichen Hand dafür zu sorgen, dass alle ein Dach über dem Kopf haben. Daraufhin ergriff auch Nathalie Oberweis das Wort: Sie wies darauf hin, dass es grundsätzlich darum gehen sollte, „schwache“ Mieter/innen gegenüber „starken“ Vermieter/innen zu schützen und warf dem Staatsrat vor, ein „politisches Spiel“ gespielt zu haben, weil er sich so lange mit seinem Gutachten Zeit ließ, bis der Kammer nichts anderes übrig geblieben sei, als seinen Text zu übernehmen, wenn das Gesetz noch rechtzeitig zum Winter in Kraft treten sollte.

Wer das Gutachten im Staatsrat verfasst hat, ist selbstverständlich geheim. Klar scheint nur, dass es ein Mitglied der ausschliesslich mit Jurist/innen besetzten Justizkommission war, die von dem von der CSV nominierten stellvertretenden Generalstaatsanwalt Jeannot Nies präsidiert wird und der noch die Anwält/innen Patrick Santer und Lydie Lorang (beide CSV), die LSAP-Politiker Christophe Schiltz (hoher Beamter im Kooperationsministerium und aktueller Staatsratspräsident) und Alex Bodry, die DP-Gemeinderätin der Stadt Luxemburg, Héloïse Bock, und der Anwalt Yves Wagener (Grüne) angehören.

In der Öffentlichkeit hat dieser „Vorfall“ erneut eine Diskussion über die Legitimität und die Existenzberechtigung des Staatsrats ausgelöst. Eigentlich steht die Institution seit jeher in der Kritik. Als König-Großherzog Wilhelm III. 1856 mit einem Staatsstreich seine in der liberalen Verfassung von 1848 eingeschränkte Macht wiederherstellen wollte, gründete er die ihm unterstellte Institution, um die Kontrolle über das Parlament wiederzuerlangen. Die Geschichte des Staatsrats ist eng mit der der Monarchie verknüpft – bis heute ist der Erbgroßherzog von Amts wegen Mitglied. Umfangreichere Reformen wurden erst in den vergangenen 30 Jahren (vor allem 1997 mit der Abschaffung des Streitsachenausschusses und der Gründung des Verwaltungs- und Verfassungsgerichts nach dem Procola-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und 2017 nach den Vorwürfen von mutmaßlichen Interessenkonflikten in der Affäre um Staatsratsmitglied Alain Kinsch) durchgeführt. Trotzdem ist der Staatsrat auch heute noch ein undurchsichtiges und undemokratisches Organ, das einerseits für Tradition und Stabilität, andererseits für Wertkonservatismus und Wirtschaftsliberalismus steht: Seine Mitglieder stammen vorzugsweise aus der Oberschicht und sind nicht demokratisch gewählt, ihre Ernennung ähnelt einem „Kuhhandel“ zwischen den etablierten Parteien; seine Sitzungen finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, die Namen der Berichterstatter sind geheim. Abweichende Meinungen sind zwar erlaubt und müssen veröffentlicht werden, doch werden Entscheidungen fast immer einstimmig getroffen, um den Schein einer überparteilichen und in sich geschlossenen Einrichtung zu wahren.

Legitimität 2006, anlässlich des 150-jährigen Bestehens des Staatsrats, stellten – mit Ausnahme der CSV – Abgeordnete jeglicher Couleur die Legitimität der Institution gegenüber der Zeitschrift Forum in Frage. Allgemein werden vor allem mögliche Interessenkonflikte seiner Mitglieder und die Vermischung von juristischen Einschätzungen und politischen Äußerungen bemängelt. Seit der Reform von 2016 verzichtet der Staatsrat größtenteils auf eindeutige politische Stellungnahmen und versteckt sie hinter juristischen Bewertungen. Eine andere verdeckte Methode politischer Einflussnahme lässt sich bei der Priorisierung von Gesetzentwürfen erkennen. Politisch brisante Dossiers werden manchmal hinten angestellt: Um das im Januar deponierte „Whistleblower-Gesetz“ zu begutachten, brauchte der Staatsrat fast ein Jahr; für das im Juli 2021 deponierte Asbl-Gesetz liegt noch kein Avis vor. Der Staatsrat rechtfertigt zeitliche Verzögerungen mit juristischer Komplexität und hohem Arbeitsaufwand. Deshalb wurde in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals darüber diskutiert, die Zahl der Mitglieder von 21 auf 27 zu erhöhen. Bisher wurde lediglich die Verwaltung personell aufgestockt.

An Ideen, wie der Staatsrat umgestaltet werden könnte, mangelte es in den vergangenen Jahren nicht, doch die wenigsten davon waren ausgereift. Um einen grundlegenden Reformprozess einzuleiten, fehlte der Regierung und der Abgeordnetenkammer bislang der politische Mut; die CSV hat wenig Interesse daran, weil es die einzige Institution ist, in der sie noch eine Mehrheit hat; der Linken, die in ihrem Verfassungsvorschlag aus dem Staatsrat ein konsultatives Organ der Legislative statt der Exekutive machen will, fehlt die politische Unterstützung (die Grünen forderten das vor 20 Jahren auch; seit sie in der Regierung sind und drei Mitglieder im Staatsrat haben, hat sich ihre Position anscheinend geändert). In der im Dezember verabschiedeten Verfassungsreform von CSV, DP, LSAP und Grünen wurde lediglich der Abgeordnetenkammer das Recht eingeräumt, den Staatsrat mit bestimmten Angelegenheiten zu befassen, was bislang der Regierung vorbehalten war.

Um der Öffentlichkeit den Staatsrat als kompetente und offene Institution zu präsentieren, organisierte der damalige Präsident Pierre Mores (DP) 2004 erstmals eine Pressekonferenz und stellte Statistiken zu den bearbeiteten Dossiers vor, die bis dahin lediglich als Pressemitteilung verschickt worden waren. Vor drei Jahren griff Christophe Schiltz᾽ Vorgängerin Agny Durdu (DP) die Idee wieder auf und veranstaltete einen Neujahrsempfang, der nach zwei Jahren Covid-Pause am Mittwoch zum zweiten Mal stattfindet. Neben Abgeordneten, Magistraten, Diplomaten und Vertretern der Berufskammern ist auch die Presse eingeladen. Fragen sind nicht erlaubt. Die sollen dafür bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts im Februar gestellt werden dürfen.

Luc Laboulle
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