EU-Kommissar Olli Rehn

Der neue starke Mann?

d'Lëtzebuerger Land du 18.11.2011

„Während wir uns in der Tat in der EU in Richtung Wirtschaftsregierung bewegen, ist es wichtig, das, was uns an Instrumenten wirtschaftspolitischer Überwachung schon jetzt zur Verfügung steht, streng und vollständig anzuwenden. Dies ist auch der Schlüssel, um das allgemeine Vertrauen und das Vertrauen der Marktteilnehmer wieder herzustellen. Ich erwarte, dass das so genannte Six-Pack Mitte Dezember in Kraft tritt und, achten Sie auf meine Worte, ich beabsichtige die neuen Regeln von Tag Eins an vollständig umzusetzen. Und noch mehr: Ich bin entschlossen noch vor diesem Datum die Monitoring-Mission, die die EU-Kommission für Italien übernommen hat, als eine Illustration dafür zu nutzen, wie die Six-Pack-Methode künftig angewandt werden wird.“

Olli Rehn, EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung, könnte zukünftig eine der Schlüsselfiguren für die Lösung der europäischen Schuldenkrise werden. Um starke Worte ist er nicht verlegen. Das obige Zitat stammt aus seiner Pressemitteilung vom 8. November zur Sitzung des Rates der Finanzminister. Es darf getrost als offene Drohung an die Mitgliedstaaten angesehen werden. Am 10. November hat er bei der fälligen halbjährlichen Vorstellung der wirtschaftlichen Aussichten für die Europäische Union nachgelegt: „Die Länder, deren Fristen für Korrekturen [beim Budget] in den Jahren 2011 oder 2012 liegen, müssen nun ihre Zeit nutzen, bis die neuen wirtschaftspolitischen Regeln in Kraft sind. Diese Länder sind in alphabetischer Reihenfolge Belgien, Zypern, Ungarn, Malta und Polen. Sie müssen bis Mitte Dezember überzeugende Maßnahmen für ausreichende dauerhafte fiskalische Maßnahmen und am besten auch ein vollständiges Budget bis Mitte Dezember vorlegen. Sobald die neuen Regeln in Kraft sind, werde ich dem Rat neue Empfehlungen vorlegen und, wenn notwendig, Sanktionen vorschlagen.“

Seit der Zuspitzung der europäischen Schuldenkrise im Jahr 2009 haben immer nur Angela Merkel und Nicolas Sarkozy den Ton angegeben haben. Ihre Rolle war so übermächtig, dass man dem Duo den Namen Merkozy aufgeklebt hat. Nun sieht die Kommission ihre Stunde gekommen. Ihr Präsident José Manuel Barroso hat bisher vergeblich versucht, die EU-Kommission als Sitz einer europäischen Wirtschaftsregierung ins Spiel zu bringen. Mit dem Six-Pack bekommt er endlich die Mittel in die Hand, die Kommission nach zwei Jahren Krisenmanagement durch den Rat aufzuwerten. Sein wichtigstes Machtmittel hat das Europäische Parlament in zähen Verhandlungen dem Ministerrat abgerungen. Im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts kann die Kommission zukünftig Sanktionen verhängen, die automatisch in Kraft treten, wenn sie nicht vom Rat noch mit qualifizierter Mehrheit abgelehnt werden. Das aber dürfte sich dieser kaum leisten können, denn es wäre das öffentliche Bekenntnis, dass alle Schwüre für finanzpolitische Seriosität Makulatur sind. Wie die Märkte darauf reagieren würden, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Noch im Oktober 2010 hatten Merkozy in Deauville versucht, die alte Machtposition des Rates zu verteidigen, dass er allein Sanktionen für fahrlässiges Wirtschaften beschließen kann.

War Barroso in der Schuldenkrise bisher ein König ohne Land, soll Olli Rehn ab sofort für ihn in die Schlacht ziehen. Den Ritterschlag dafür hat er am 27. Oktober bekommen. An diesem Tag hat Barroso Rehn zum Vizepräsident der EU-Kommission ernannt und seinen Aufgabenbereich offiziell um den Euro erweitert. Interessant ist, dass Barroso diese Entscheidung am Ernennungstag zuerst vor dem Europäischen Parlament ankündigte. Das war ein machtpolitischer Schulterschluss und vielleicht auch ein kleines Dankeschön für den Einsatz des Parlaments für mehr demokratische Mitsprache bei Entscheidungen des Rates.

Wirtschaftliche Halbjahresprognosen stellt die Europäische Kommission schon seit Jahr und Tag vor, interessiert hat sich dafür in den Mitgliedstaaten bisher niemand so richtig, die nationalen Prognosen waren allemal wichtiger. Das wird sich zukünftig ändern. Nach allem, was man seit der Gültigkeit des Lissabon-Vertrages erlebt hat, sind die Regierungen mental nicht wirklich darauf vorbereitet. In Belgien spielte sich dieser Tage hinter den Kulissen beim Kampf um ein Budget auf der Folie der Vorschläge der Kommission schon ein harter Kampf ab. Paul Magnette, PS-Mitglied und geschäftsführender Minister für Klima und Energie, will die Empfehlungen der Kommission lediglich als Inspiration verstehen, sie seien kein Diktat. Vizepremier Steven Vanackere von den Humanisten (CDH) wirft ihm vor, sich vor strukturellen Reformen drücken zu wollen. Es geht unter anderem um die Indexierung, die Belgiens Löhne und Preise treibt und ein Grund für die fallende internationale Konkurrenzfähigkeit des Landes ist.

Dieser Streit setzt beispielhaft den Ton, den man in Zukunft öfter hören wird: Auf der einen Seite diejenigen, die das böse Wort vom Diktat Europas aussprechen, auf der anderen Seite diejenigen die sich den neuen Zwängen aus Einsicht in die Notwendigkeit beugen wollen. In der Krise haben die meisten nationalen Politiker eingesehen oder einsehen müssen, dass die EU und hier vor allem die Eurozone nur eine Chance hat, wenn sie eine echte Wirtschaftsregierung herausbildet. Im Alltag wird sich schon bald zeigen, was diese Einsicht wert ist.

Ritter Rehn braucht für seine neue Aufgabe ein scharfes Schwert, sprich gute Argumente, und viel Stehvermögen. Er bringt gute Voraussetzungen mit. Der finnische Zentrumspolitiker hat Volkswirtschaft, internationale Beziehungen und Journalismus studiert, seit 2004 ist er EU-Kommissar. Die Schwachstelle der neuen Machtfülle der Kommission aber bleibt die Tatsache, dass sie ihre Maßnahmen nicht vom EU-Parlament absegnen lassen muss, wie es im nationalen Rahmen notwendig wäre. Hier wird das europäische Demokratiedefizit augenfällig. Hier kann Paul Magnette vom Diktat Europas sprechen. Die Kommission ist im Zweifelsfall eben doch keine Regierung, sondern eine Behörde. Das muss langfristig ändern.

Christoph Nick
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