Sonderregelung für Schwerkranke

„Menschlich unhaltbar“

d'Lëtzebuerger Land du 04.03.2016

Als die Regierung sich Ende 2014 mit OGBL, LCGB und CGFP traf, um die Zustimmung der Gewerkschaften für den Zukunftspak zu gewinnen, machte sie ihnen eine Reihe Zusagen. Unter anderem die, im Laufe des darauffolgenden Jahres für eine Lösung des „52-Krankheitswochen-Problems“ zu sorgen.

Vor allem den LCGB beschäftigt das bereits seit Jahren. Laut Arbeitsrecht endet jeder Arbeitsvertrag automatisch, sobald ein Beschäftigter seinen Sozialversicherungsschutz verliert. Das ist laut Sozialversicherungsrecht zum Beispiel der Fall sobald über eine Referenzperiode von 104 Wochen hinweg 52 Wochen im Krankenschein verbracht wurden. Wie der LCGB die Lage schildert, kann diese Regelung zu dramatischen Fällen führen: „Da erhalten Leute in der 50. oder der 51. Krankheitswoche einen Brief, der ihnen lapidar mitteilt, dass ihr Sozialschutz demnächst endet und ihr Arbeitsvertrag gleich mit. Die Leute rufen bei uns an und fragen verzweifelt: ,Was mache ich jetzt?’“, berichtet der stellvertretende LCGB-Generalsekretär Christophe Knebeler.

„Menschlich unhaltbar“, findet Knebeler das. Oft seien Krebskranke betroffen. „Vielleicht haben sie eben erst eine langwierige Behandlung hinter sich gebracht. Oder sie erlitten nach einer Behandlung einen Rückfall und brauchten eine zweite. Oder die Behandlung ist beendet und der Betreffende hatte einen Unfall oder hat sich einfach nur erkältet.“ In jedem Fall seien „diese Leute mit Gesundwerden beschäftigt und sollten sich nicht noch Zukunftsängste machen müssen“. Deshalb müsse statt eines automatischen Aus „Flexibilität“ gelten.

Ganz so starr, wie man es nach diesen Schilderungen meinen könnte, geht es schon heute nicht zu. Zum Beispiel kann Langzeitkranken eine temporäre Invalidität zuerkannt werden, die dann nicht als Krankheitsdauer zählt. Das Sozialversicherungsrecht erlaubt auch, dass die CNS, die Langzeitkrankengeld zahlt, dies über die 52. Woche hinaus tun kann, und das tut sie auch – allerdings höchstens 14 Tage pro Monat und nur im Falle einer „anderen“ Erkrankung als der, die zuletzt bestand. Außerdem muss die betreffende Person das schriftlich beantragen, der medizinische Kontrolldienst der Sozial-versicherung das Gesuch begutachten und dazu ein Bericht des behandelnden Arztes vorliegen. Die vielen Umstände erklären vielleicht, wieso in den letzten sieben Jahren ganze acht Personen von dieser Ausnahme Gebrauch machten.

Wie viele am Ende trotzdem durchs Raster fallen und nach 52 Wochen Krankenschein in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, weiß niemand genau. Als die CSV-Abgeordneten – und früheren LCGB-Funktionäre – Aly Kaes und Marc Spautz das im Dezember vergangenen Jahres über eine parlamentarische Anfrage zu ermitteln versuchten, zitierte Sozialminister Romain Schneider (LSAP) eine Studie seiner Generalinspektion der Sozialversicherung, die für die Jahre 2010 und 2011 diesen Personenkreis auf 40 schätzte. In Zukunft dürfte er eigentlich noch kleiner werden. Denn vergangenes Jahr traten auch Änderungen zur Berufsinvalidität und der Wiedereingliederung (Réclassement) in Kraft, und der medizinische Kontrolldienst der Sozialversicherung erhielt eine neue Arbeitsgrundlage. Im Prinzip sollen die Kontrolldokteren, deren Zahl deutlich aufgestockt wurde, Krankgeschriebene früher sehen und schneller entscheiden, ob sie weiterhin als krank anzusehen sind oder für ein Réclassement oder eine Invalidenrente in Frage kommen. Härtefälle, wie der LCGB sie beschreibt, müssten demnach bald schon seltener werden.

Umso mehr erstaunt, dass eine flexible Regelung für sie noch immer fehlt und Premier Xavier Bettel (DP) persönlich nach der Bipartite mit den Gewerkschaften vergangene Woche erneut erklären musste, eine Lösung müsse her. Darüber waren sich alle Seiten schon 2015 einig. Auch die Mitglieder des Unternehmerdachverbands UEL: „Wir haben der Regierung gesagt, wenn ihr eine Lösung für diese Härtefälle sucht, dann machen wir mit“, erklärt der geschäftsführende UEL-Verwaltungsrat Jean-Jacques Rommes dem Land.

Diskutiert wurde über die „52 Wochen“ zuerst im Ständigen Beschäftigungsausschuss, wo man eine zusätzliche Ausnahme bei der zeitweiligen Invalidität zu schaffen versuchte. Als das nicht klappte, gab der Sozialminister das Problem an die CNS weiter, auf dass die sie verwaltenden Unternehmer und Gewerkschaftler es lösen. Ermittelt wurde, dass zwei bis drei Monate „Flexibilität“ gewährt werden könnten, in denen die CNS das Krankengeld weiter zahlen würde.

Nur ein Konfliktpunkt besteht: Die UEL hält darauf, dass einer ausnahmsweise verlängerten Krankschreibung der Betrieb zustimmen müsste. „Eine kleine Firma muss sich organisieren können“, sagt UEL-Chef Rommes. Für die Gewerkschaften aber ist das inakzeptabel. „War ein Mitarbeiter schon 52 Wochen krank geschrieben, hat der Betrieb sich bereits organisiert“, argumentiert der stellvertretende LCGB-Generalsekretär. Und verweist auf den öffentlichen Dienst und die mit ihm assimilierte Eisenbahn, für die keine 52-Wochen-Grenze gilt: „Da ist man krank geschrieben, und irgendwann kommt die Pensionskommission zusammen und bespricht den Fall. Wieso ist so eine Lösung nicht auch im Privatsektor möglich?“

Eine Antwort kennt Christophe Knebeler natürlich: Laut Arbeitsrecht genießt ein krank Geschriebener nur bis zur 26. Krankheitswoche Kündigungsschutz, anschließend kann ihn sein Betrieb ohne weiteres entlassen. Was zwar, wie Knebeler weiß, „selten geschieht, denn dann gelten Kündigungsfristen, muss vielleicht eine Abfindung gezahlt werden, die Kündigung ist bei der Adem anzumelden – die ganze in dem Fall gültige Prozedur spielt dann“. Außerdem hätten, das wisse er aus Gesprächen, „viele Betriebe“ ein Interesse daran, langzeitkranke Mitarbeiter zu halten. „Deshalb entlassen sie nicht schon nach 26 Krankheitswochen und wären froh über eine Ausnahmeregelung über die 52 Wochen hinaus“.

Am Ende könnte vielleicht eine Lösung lauten, den accord du patron nur auf kleine Betriebe zu beschränken. Denn der UEL-Chef sagt, der Unternehmerverband denke dabei „vor allem an kleine Betriebe“, habe die Genehmigungsforderung aber bislang für die gesamte Wirtschaft erhoben. Der LCGB wiederum kann sich vorstellen, „kleinen Betrieben entgegenzukommen“, was immer das letztlich heißen mag.

Auf jeden Fall aber sitzen die Gewerkschaften nicht unbedingt am längeren Hebel, wenn das 52-Wochen-Problem innerhalb der CNS gelöst werden soll. Theoretisch wäre es möglich, dass die Gewerkschaftler im Kassenvorstand sich mit dem CNS-Präsidenten verbünden, der dem Sozialminister untersteht, sofern jener von diesem angewiesen worden wäre, gemeinsam mit den Salariatsvertretern das Problem endlich aus der Welt zu räumen und die Unterneh-merdelegierten zu überstimmen. Niemand aber kann vorhersagen, ob daraufhin womöglich viel mehr Langzeitkranke schon nach der 26. Woche entlassen würden. Was vielleicht auch der Grund dafür ist, dass der OGBL sich zu den 52 Wochen auffällig zurückhält und die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema ebenso wie die Auseinandersetzung mit der UEL darüber der christlichen Konkurrenz überlässt.

Peter Feist
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