Leitartikel

Individualisierung der Schuld

d'Lëtzebuerger Land du 17.07.2020

Da standen sie also wieder. Staatsminister Xavier Bettel und Gesundheitsministerin Paulette Lenert. Wie ein Elternpaar, das seinen unerzogenen Kindern die Leviten lesen muss. Das zum wiederholten Mal mit Nachdruck die Regeln erklären muss. Das erneut mit erhobenen Zeigefinger den Rotznasen ins Gewissen reden muss und ein allerletztes Mal mahnt, bevor erneut Hausarrest und drakonische Maßnahmen drohen.

Dabei hat das Elternpaar sich natürlich nichts vorzuwerfen: Die Politik war bestens durchdacht, die Vorgaben präzise, der Weg aus der Krise klar. Aber was nützt die beste Strategie, wenn die Bürgerinnen und Bürger unfähig sind, sich daran zu halten?

Denn es sind laut Lenert und Bettel nicht die frühzeitig geöffneten Schulen, es sind nicht die Restaurants und Bars, es sind nicht die Fitnessstudios, Schwimmbäder, Großraumbüros oder Schlachthöfe, es sind auch nicht die öffentlichen Busse und Züge und schon gar nicht die scheinbar sterilen Luxair-Flugzeuge. Es hat auch nichts mit unzureichenden Informationen zu Infektionsherden, mit überforderten Tracing-Teams oder einer fehlenden App zu tun, aber immerhin ein wenig mit Grenzgängern und zu eifrigem Testen. Nein, der wahre Grund, warum sich gerade eine zweite Infektionswelle in Luxemburg ausbreitet, sind Lenert und Bettel zufolge die unvorsichtigen Bürger. Sie haben versagt, waren unfähig ihren verfassungsrechtlichen Freiheiten in einer Krise gerecht zu werden, unmündig, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Denn das Virus scheut den öffentlichen Raum und verbreitet sich im Privaten – auf frivolen Partys.

Dieser plumpe Paternalismus war tatsächlich der Erklärungsversuch des Premierministers und der Gesundheitsministerin angesichts der hohen Infektionszahlen in Luxemburg. Damit schiebt die Regierung die Verantwortung vollends auf die Bevölkerung und will sich keiner Schuld bewusst sein. Das ist nicht nur von einer anmaßenden Überheblichkeit, das sät auch Zwietracht in der Gesellschaft. Nachbarn verdächtigen sich gegenseitig, hetzen sich die Staatsmacht an die Tür, in Polizeikreisen redet man von einer nie dagewesenen Denunziationswelle.

Und wer tatsächlich an Covid-19 erkrankt, wird stigmatisiert, muss sich in sozialen Medien als #Covididiot beschimpfen lassen, sich für frevelhaftes Verhalten und leichtsinnige Verbreitung der Seuche schämen. Dieses Muster der sozialen Ächtung, der Individualisierung der Schuld, ist natürlich nicht neu in der Geschichte: Auch HIV-Infizierte mussten in den 1980-er-Jahren gegen ein Stigma ankämpfen.

Dieses Klima des Verdachts ist leider eine Frucht der intransparenten Informationspolitik der Regierung: Lange Zeit war unklar, wie sich das Virus in Luxemburg wieder verbreitet, Infektionsherde wurden nicht genannt, granulare Daten zurückbehalten. So konnten sich im Ungefähren Gerüchte von wilden Partys und Infektionsclustern in Flüchtlingsheimen ausbreiten. Die Regierung sah stets davon ab, die Bürger vollends aufzuklären. Frei nach dem Motto: Verunsicherte Bürger sind wache Bürger.

Aber diese Taktik schlug fehl, mittlerweile hat sich das Virus wieder in der gesamten Bevölkerung verbreitet, lässt sich kaum isolieren. Und die Nachbarländer stufen Luxemburg als Risikogebiet ein – sozusagen als nationalen Superspreader. Die Regierung hat sich feiern lassen, für die erfolgreiche Bekämpfung der ersten Welle. Wohl zu Recht. Doch ebenso verantwortlich ist sie für das Ausbrechen einer zweiten Welle. Sie kann sich dieser Tatsache nicht entziehen.

Pol Schock
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