Kino

Ein Wochenende in Tunesien

d'Lëtzebuerger Land du 10.07.2020

Was als ein Ausflug am Wochenende in Südtunesien geplant war, entwickelt sich in
A Son schnell zum Alptraum: Als der zehnjährige Aziz mit seinen Eltern in einen Hinterhalt der Djihadisten gerät und dabei in einem Kugelhagel schwer verwundet wird, muss er sofort ins Krankenhaus gebracht werden. Vater Fares Ben Youssef (Sami Bouajila) und Mutter Meriem Ben Youssef (Najla Ben Abdallah) sind bestürzt angesichts der Lebertransplantation, die ihrem Sohn bevorsteht, doch der Eingriff fördert ein dunkles Geheimnis ans Licht…

Die Form dieses Films zielt unmittelbar auf aktive Anteilnahme, indem er seine Figuren mittels Handkamera aus der Rückenansicht begleitet und über den dynamischem Schnitt versucht wird, den Zuschauer direkt am Geschehen teilnehmen zu lassen. Der tunesische Regisseur Mehdi Barsaoui bedient sich dieser tragischen Geschichte, um damit kritische Aussagen über sein Land zu machen. Sehr direkt spricht A Son über der Rückständigkeit der Gesetzgebung in Tunesien in Bezug auf die Organspende. Die prekären Lebensumstände werden in dieser Extremsituation sichtbar und die marternde Verzweiflung bahnt sich ihren Weg: Es sind so vor allem die Blicke, die den Film auszeichnen, Blicke die abschweifen, die niemals in die Kamera gerichtet sind, sondern nur knapp an ihr vorbeigehen. Es sind gedankenverlorene Blicke und in sich versunkene Posen, die nachdenklich wie einfühlsam wirken. Es gibt Verständigungsprobleme und Erklärungsversuche, die ins Leere laufen müssen. „In diesem Land muss ein Vater seinen Sohn zu Grabe tragen und hat darüber zu schweigen, weil das Land es ihm nicht erlaubt Gesetze zu brechen“, heißt es. Und so öffnet A Son eine moralische Grauzone: Was ist, wenn der illegale Organhandel nun doch die Lösung ist angesichts der Diskrepanz zwischen individueller Not und rigiden Gesetzen?

Über sein Darstellerpaar Sami Bouajila und Najla Ben Abdallah verhandelt der Film zwei gegenläufige Tendenzen, die auf unterschiedlichen Wegen zum selben Ziel gelangen wollen: Einerseits auf äußerst umständlichen Rechtswegen und andererseits durch den pragmatisch-engagierten Übertritt der Grenzen der Legalität. Zu erfüllende rechtliche Klauseln, notwendige Unterschriften, zeitaufwändige bürokratische Prozeduren stehen hier entgegen der lebensbedrohlichen unmittelbar akuten Situation eines Kindes; all dies wird abgebildet in einem äußerst widerspruchsvollen Konflikt von instinktiver Menschlichkeit und starrer Staatskonvention, den A Son abbildet. Und daraus resultiert im Verlaufe der Handlung eine grausame Gewalt gegenüber der Frau, die indes kaum physisch ist, sondern vielmehr in der Sprache liegt, in den vielen verletzenden Worten die gleichsam Ausdruck einer gekränkten männlichen Würde sind. A Son erzählt vom Leben im Ausnahmezustand in einem Geflecht von kommunikativen Problemen und Verständigungsverboten. Es ist eine Welt, in der die Akteure vergeblich nach dem Sinn für die Ursache ihrer misslichen Lage suchen. Eine Welt, die keine Lösungen offenbart – und wenn es dann phrasenhaft heißt, man müsse auf Gott vertrauen, ist es für den Vater zu viel. Allgemein geht die dramaturgische Entwicklung des Films zugunsten einer stärkeren Gewichtung des männlichen Parts, der zum aktiven Träger der Handlung wird. Die weibliche Perspektive auf das Geschehen bleibt unterentwickelt, was den Sympathiezuspruch in diesem Familiendrama stark beeinflusst. Das dürfte kaum verwundern, setzt Regisseur Mehdi Barsaoui doch ganz auf die eindringliche Präsenz seines Hauptdarstellers Sami Bouajila, der 2006 für Indigènes in Cannes noch als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde.

Da wo der spanisch-isländische Regisseur Baltasar Kormákur die Thematik des Organhandels in seinem Film Inhale (2010) noch sehr melodramatisch-amerikanisch und ohne größere moralische Zwischentöne inszenierte, ist die Darstellungsweise in A Son viel zurückhaltender, ruhiger, meditativer. Aber an diesem Verwischen der moralischen Positionen ist der Film gegen Ende gar nicht mehr recht interessiert. Vielmehr geht es ihm um die konventionelle Auflösung seiner Konflikte und Standardsituationen, die trotz moralischer Ambiguität doch weitestgehend auf ein Happy End und damit eine formale Resolution zustrebt.

Marc Trappendreher
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