Jemand nimmt ein Stück Kreide aus einem grünen Eimerchen. Das kippt, im Gleichgewicht gestört, vom Rand eines Tabletts und wird dann von einem Maßband über einen Gartentisch gezogen. Der Vorwärtsschwung stößt eine Kleberolle an, die auf ihrem Weg wiederum eine andere Kleberolle anstupst, die daraufhin vier Klötzchen umstößt. Deren Fall lässt einen grünen runden Baustein eine Rampe runterrollen, bis dieser am Ende des Tisches einen Besen umstößt, der auf einen erweiterten Schalter fällt, der seinerseits einen Ventilator anknipst… Kettenreaktion heißt das dreiminütige lustige Video, das Kunstlehrer/innen des Lycée Aline Mayrisch (Laml) im Lockdown in einer Gemeinschaftsarbeit gedreht haben und das Vorlage war für eine gleichnamige Kunst-Challenge: Jede/r Schüler/in sollte seine/ihre eigene Kettenreaktion erstellen, filmen und im schulinternen Chat dokumentieren.
„Die Aktivität ist uns während einer Versammlung eingefallen, nachdem bekannt wurde, dass die Schule für Wochen schließen wird. Wir wollten etwas Kreatives finden, das die Beschränkungen, die wir durch den Lockdown auferlegt bekamen, in positive Aktion umwandelt“, erzählt Max Mertens. Der Laml-Kunstlehrer ist einer von elf Kolleg/innen, die die Herausforderung angenommen hatten und zuhause während der Ausgehbeschränkungen im Garten, in der Küche oder im Keller Eimer, Kinderspielzeuge, Werkzeug, Obst – alles Dinge, die sich im Haushalt vorfinden – zu einem witzigen Parcours des Kollapses und Weitermachens zusammengestellt haben.
Die Idee dahinter ist nicht neu. Das Internet kennt Tausende dieser Videos, in denen Menschen aus Alltagsgegenständen einen Parcours der Dinge erstellen, ähnlich wie beim Dominospiel, das von einer Bewegung ausgelöst wird und sich dann in immer neuen Impulsen und Reaktionen weiterträgt. Das Schweizer Künstlerduo Peter Fischli und David Weiss gab 1987 die im wahrsten Sinne des Wortes zündende Idee dazu mit seinem Film Lauf der Dinge: Die kunstvoll inszenierte Installation der Bewegung bemüht Elemente der Chemie und Grundkräfte der Physik, wie Schwerkraft, Geschwindigkeit, Höhe, Kraft. So löst sie eine 30-minütige Kettenreaktion mit Schaum, Qualm, Bruch und Explosionen aus.
„Wir wollten ein gemeinsames Werk schaffen. Deshalb gab es für alle Teilnehmer als Vorgabe immer einen Gegenstand am Anfang und Ende“, erklärt Max Mertens. Hörte eine Kettenreaktion mit einer fliegenden Klopapierrolle auf, musste der oder die nächste mit demselben Gegenstand weitermachen: Er fing also die Klobrille auf und legte sie auf ein Brettchen, das seinerseits durch das Gewicht ins Kippen geriet. So entstand aus vielen Einzelbeiträgen ein Video, das wie eine große Kettenreaktion die Einsendungen jedes/jeder Einzelnen miteinander zu einem Happening verband. Gleichzeitig lernten die Schüler/innen das Schweizer Künstlerduo mit seinem einmaligen ironisch-absurden Zugang zur bildenden Kunst kennen, dessen Gemeinschaftswerk bis heute kleine und große Menschen amüsiert und fasziniert zugleich.
„Den meisten hat das sehr gut gefallen. Manche sind aber fast daran verzweifelt und mussten ihren Einsatz 20 bis 30 Mal mit dem Smartphone filmen, bis es funktioniert hat“, erinnert sich Mertens. Die Einfälle waren so genial wie schwierig umzusetzen: Manche brannten Schnüre ab, um mit dem abbrennenden Faden die nächste Reaktion auszulösen. „Da waren ganz verrückte Ideen dabei“, erzählt der Kunstlehrer lachend. „Es war ein Riesenaufwand, der uns eine gute Woche beschäftigt hat.“
Gelohnt hat sich der Einsatz trotzdem: Viele machten bei der Challenge mit – und es sollte nicht bei dieser bleiben. „Die Sportlehrer, die Sprachlehrer – viele Kolleginnen und Kollegen kamen mit ähnlich unterhaltsamen Ideen“, so Mertens. „Das hat die Schüler und Lehrer in einer schwierigen Zeit zusammengebracht.“ Aus datenschutzrechtlichen Gründen konnten die Einsendungen zwar nicht für ein größeres Publikum veröffentlicht werden, aber die Videos wurden intern gezeigt – und hatten weitere Internet-Challenges zur Folge. Das Video der Laml-Lehrer ist im ebenfalls während der Pandemie entstandenen Blog Bildung eemol anescht der Bildungsinitiative Up Foundation zu sehen, einem Blog, der während des Lockdowns täglich neue Aktivitäten, Persönlichkeiten und Videos aus dem Bildungsbereich gesammelt und einem breiteren Publikum vorgestellt hat; allerdings ist die Grenze zwischen Werbung und pädagogischen Beiträgen dort nicht immer trennscharf gezogen. Die Schüler-Videos wurden zentral im schuleigenen Intranet gesammelt. „Vielleicht können wir sie einmal einem größeren Publikum zeigen“, hofft Kunstlehrer Max Mertens.