Deutsche EU-Ratspräsidentschaft

In einer außergewöhnlichen Lage

d'Lëtzebuerger Land du 10.07.2020

Man nimmt einen Papierstreifen und formt daraus einen Kreis, wobei der Streifen um 180 Grad verdrillt wird. Dann werden Anfang und Ende des Streifens zusammengefügt, sodass aus dem Kreis eine organisch anmutende Figur wird, eine liegende „8“, dem mathematischen Zeichen für die Unendlichkeit. Fährt man mit dem Finger entlang des Bandes und merkt, dass das Innen zum Außen wird – eine kompakte topologische Mannigfaltigkeit, oder ein Möbiusband, das zum Symbol des deutschen Vorsitzes im Rat der Europäischen Union, der am vorvergangenen Mittwoch turnusgemäß für ein halbes Jahr begann.

Es ist der zweite Ratsvorsitz für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Frühjahr 2007 war sie bereits in dieser Position und kümmerte sich damals in erster Linie um den politischen Prozess zum Europäischen Verfassungsvertrag, den Vertrag von Lissabon, der seinerzeit von Frankreich und den Niederlanden durch Volksabstimmungen abgelehnt worden war. Daran erinnert sich heute kaum noch jemand, denn es folgte die Bankenkrise, die Finanzkrise, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, die Brexitkrise und nun die Coronakrise. Es scheint, als lebe der Kontinent seit dieser Zeit in einem Dauerkrisenmodus.

Die Erwartungen der Europäischen Union an Deutschland sind daher dieser Tage hoch. Und nach dem Willen der Kanzlerin sollen bereits auf einem Sondergipfel Ende kommender Woche, die strittigsten Punkte bei den beiden Großprojekten der EU geklärt werden: Das ist zum einen der Haushalt der Staatengemeinschaft, zum anderen der Post-Corona-Aufbauplan und mehr noch: dessen genaue Finanzierung. Um hier zügig zum Ziel zu kommen, will sich Merkel intensiv mit der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem EU-Ratspräsidenten Charles Michel, dem eigentlichen Organisator der Verhandlungen, abstimmen. Auch das EU-Parlament, das in Sachen Haushalt auch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat, möchte sie in ihre Arbeit einbeziehen und dort für eine zügige Entscheidung werben.

Deshalb eilte Merkel am Mittwoch nach Brüssel, um dort ihre Pläne für die nächsten sechs Monate vorzustellen. Merkel benannte dabei konkrete Ziele. Vorweg: Der Erhalt der Grundrechte wie Redefreiheit, Gleichberechtigung und religiöse Vielfalt. „Die Grundrechte, das ist das erste, was mir in der Ratspräsidentschaft am Herzen liegt“, so Merkel vor Abgeordneten des EU-Parlaments. Sie seien das Fundament, auf dem Europa ruhe und das „wertvollste Gut, das wir in Europa haben“. Gerade vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie habe man gesehen, welch hoher Preis mit den teilweise Einschränkungen der Grundrechte verbunden sei. Ihr selbst sei die Entscheidung dazu unendlich schwergefallen. Die Grundrechte dürften nur „mit sehr gewichtigen Gründen und nur sehr kurzfristig“ eingeschränkt werden. Die Bundeskanzlerin betonte dabei auch: „Eine Pandemie darf nie der Vorwand sein, um demokratische Prinzipien auszuhebeln.“ Damit spielte sie deutlich auf die Situation in einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten an. Dass Europa schon viele Krisen überstanden habe, liege auch dran, weil sich alle am Ende bewusst gewesen seien, was unverzichtbar sei: „die Grundrechte und der Zusammenhalt“.

Damit steht die deutsche Ratspräsidentschaft ganz im Zeichen der aktuellen Corona-Pandemie. „Die Lage ist außergewöhnlich, ja einmalig in der Geschichte der Europäischen Union.“ Mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen der Krise mahnte sie eine Einigung bei den Finanzfragen noch im Sommer an: „Wir dürfen keine Zeit verlieren, darunter würden nur die Schwächsten leiden.“ Sie räumte zugleich ein, dass eine Einigung viel Kompromissbereitschaft von allen Seiten erfordern würde. Die soziale Dimension sei für den Zusammenhalt in Europa ebenso wichtig wie die wirtschaftliche. Hilfen für besonders von der Krise betroffene Regionen seien daher in aller Interesse. Aber es gelte auch zu beachten, dass „die wirtschaftlich Starken nicht über Gebühr“ belastet würden. Mehrfach richtete die Bundeskanzlerin den Appell an die Mitgliedstaaten, stärker zusammenzuhalten. „Ich bin überzeugt, dass jeder zur Solidarität bereit ist. Deutschland ist das“, sagte sie.

Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs wollen am 17. Juli in Brüssel versuchen, einen Einigung auf das rund 1,7 Billionen Euro umfassende Finanzpaket bis 2027 zu erreichen. Darin enthalten sein soll auch der Wiederaufbaufonds zur Überwindung der Wirtschaftskrise infolge der Corona-Pandemie.

Weitere Themen, auf die Deutschland während der EU-Ratspräsidentschaft einen Augenmerk legen wolle, sind nach Merkels Worten unter anderem der Fortschritt bei der Digitalisierung sowie der Klimaschutz. „Mir ist wichtig, dass wir die europäische Klima-Neutralität bis 2050 festschreiben“, sagte die Kanzlerin. Sie sei überzeugt, dass eine globale Lösung des Klimawandels nur möglich sei, wenn Europa eine Führungsrolle hierbei übernehme.

Spontanen Applaus der EU-Parlamentarier gab es für Merkels Ankündigung, sich verstärkt dem Kampf gegen den Populismus zu widmen: „Dem faktenleugnenden Populismus werden wir seine Grenzen aufgezeigt“, versprach die Bundeskanzlerin. Mit Lüge und Desinformation lasse sich die Pandemie nicht bekämpfen, so wenig wie mit Hass und Hetze, betonte Merkel, ohne genauer auszuführen, auf wen sich ihre Aussagen beziehen.

Unterstützung bekommt Merkel von Ursula von der Leyen, denn auch sie drückt kräftig aufs Tempo: Eine „rasche und ehrgeizige Einigung“ über das Corona-Konjunkturpaket – im Fachjargon „Recovery-Plan“ oder „NextGenerationEU“ genannt – habe jetzt absoluten Vorrang, erklärte die Kommissionspräsidentin. „Mit jedem Tag, den wir verlieren“, warnte von der Leyen bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Paolo Gentiloni, EU-Wirtschaftskommissar aus Italien, werde man sehen, „wie Menschen ihre Jobs verlieren und Unternehmen pleitegehen“. Der enge Draht zwischen Brüssel und Berlin kann nützlich sein, denn klare Ansagen, enge Absprachen und Detailgenauigkeit sind bei den Verhandlungen und Gesprächen in diesen Tagen dringend angebracht. Doch allzu viel Harmonie oder gar eine Dominanz des deutschen Doppels könnten auch hinderlich sein.

Streit herrscht unter den Mitgliedstaaten nach wie vor über eine ganze Reihe heikler Fragen. Vor allem darüber, ob die Finanzhilfen für Corona-geschädigte Branchen und Regionen mehrheitlich als Zuschuss oder in Form von Krediten fließen sollten. Oder, nach welchen Kriterien und unter welchen Bedingungen die Gelder schließlich ausbezahlt werden. Insbesondere die sogenannten Sparsamen Vier, angeführt von den Niederlanden und Österreich, hegen gegen die großzügigen Konzepte Deutschlands, Frankreichs und der EU-Kommission erhebliche Bedenken.

Dass der erhoffte Durchbruch gelingt, ist nach Einschätzungen von Beobachtern alles andere als sicher. Laut der Kommissionspräsidentin von der Leyen braucht es dafür nun „starke politische Führung“. Deutschland meint es ernst und hat weitere 150 Beamtinnen und Beamte zur Verstärkung des deutschen EU-Teams nach Brüssel entsandt. Insgesamt 260 Mitarbeitende sollen im kommenden Monate die deutsche Ratspräsidentschaft erfolgreich bewerkstelligen.

Martin Theobald
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