Krebs nimmt in Luxemburg nicht spektakulär zu. Auskunft über Risiken und Behandlungserfolge aber kann erst das nationale Krebsregister geben

Krebs im Gespräch

d'Lëtzebuerger Land du 30.11.2012

Haben auch Sie den Eindruck, dass in Luxemburg die Zahl der Krebsfälle zunimmt? Und dass vielleicht immer häufiger auch relativ junge Menschen daran erkranken?
Fachärzte und Gesundheitsforscher wissen, dass diese Auffassung besteht. Aus dem Ausland kommen überdies ziemlich beängstigende Zahlen. Für Frankreich zum Beispiel weist das Institut de recherche et de documentation en économie de la santé (Irdes) aus, dass die Zahl der Krebskranken zwischen 1997 und 2009 um rund 50 Prozent gestiegen sei. Könnte die Situation in Luxemburg sich nicht ähnlich verhalten?
Schon möglich, aber das ist gar nicht leicht zu sagen. Genau genommen, kann das bisher niemand wissen. „Klar hat über die Jahre die Zahl der Krebsfälle zugenommen“, sagt Guy Berchem, Onkologe am Centre hospitalier de Luxembourg. „Als ich vor zwanzig Jahren anfing, waren wir drei Krebsmediziner am CHL. Heute sind wir zu sechst und haben trotzdem alle Hände voll zu tun.“ Das sei kein Wunder: „Krebs ist vor allem eine Alterskrankheit und wenn die Bevölkerung altert, nimmt zwangsläufig die Krebswahrscheinlichkeit zu.“
Aber „krebskrank“ meint nicht dasselbe wie eine neue Erkrankung. Was Letztere angeht, ergibt sich für Luxemburg ein gar nicht mal so schreckliches Bild. Im nationalen Tumorregister am Laboratoire national de santé (LNS) werden rund 95 Prozent der neu entdeckten Krebsfälle mit Gewebe- und Blutproben erfasst. Seine Statistik reicht bis ins Jahr 1981 zurück ­– und sie zeigt: Damals wurden 1 016 Neuerkrankungen gezählt. 2009, im bisher letzten Berichtsjahr, waren es 2 097. Doch schon 2003 war die Zweitausender-Grenze überschritten worden. Seitdem schwankt die Zahl der neuen Fälle im Tumorregister um 2 100 – ohne spektakulär zu wachsen. „Die Annahme, es gebe viel mehr Krebs in Luxemburg, ist ein Irrtum“, resümiert LNS-Direktor René Scheiden.
Dass es in den Jahren, für die das Register die neuen Fälle noch nicht aufbereitet hat, einen ganz neuen Trend gegeben haben könnte, glauben Krebsfachärzte nicht. „Die Tendenz geht insgesamt wohl eher nach unten“, glaubt Guy Berchem. Carlo Bock, Onkologe an der Zitha-Klinik, sieht das ähnlich und rechnet mit einem Zuwachs vor allem bei ganz bestimmten Krebsarten.
Aber die rund 2 000 neuen Fälle jährlich sind noch immer eine Menge. Daran und an der in den letzten Jahren immer stärker gewordenen Mediatisierung von Krebs und seinen Risiken könnte es liegen, dass in der Bevölkerung der Eindruck aufkommt, es gebe viel mehr Krebs: Als die Fondation Cancer 2002 in einer Umfrage die Wahrnehmung von Krebs in der Bevölkerung ermitteln ließ, gaben 62 Prozent der Befragten an, sie hätten Angst vor Krebs. Als die Erhebung fünf Jahre später wiederholt wurde, lag dieser Anteil bei 68 Prozent, und vielleicht wird er noch höher ausfallen, wenn die Stiftung Anfang nächsten Jahres die Ergebnisse einer dritten Auflage der Befragung vorstellen wird.
„Die Mediatisierung von Krebs ist aber gut, weil sie sensibilisiert“, findet Carlo Bock. Was aus den Daten des Tumorregisters im Einzelnen abzulesen ist, gibt dem Recht. Obwohl die Gesamtzahl der Krebsfälle offenbar stagniert, gibt es besorgniserregende Einzel-Trends. Nicht nur wächst die Zahl der neu diagnostizierten Prostatakrebsfälle weiter. Lag sie 2005 bei 223, waren es 280 im Jahr 2009. Beim Brustkrebs ist die Tendenz dieselbe: 257 neue Fälle im Jahr 2005, 339 im Jahr 2009. Hinzu kommt: Lungenkrebs wird immer häufiger bei Frauen festgestellt. War das 1981 nur 14 Mal der Fall und 1991 25 Mal, lag diese Zahl 2008 bei 41 und 2009 bei 49. Bei Männern zeigt die Tendenz in die entgegengesetzte Richtung: 141 neuen Fällen im Jahr 1981 standen 105 positive Diagnosen 2008 und 120 im Jahr 2009 gegenüber. „Grund dafür dürfte in erster Linie die in den letzten Jahrzehnten gestiegene Zahl der Raucherinnen sein“, sagt Guy Berchem. „Da liegen wir in einem Trend, der in so gut wie allen westlichen Ländern besteht.“ Noch immer aber sei der Lungenkrebs eine der besonders gefährlichen Erkrankungen, bei der statistisch gesehen nur 15 Prozent der Patienten fünf Jahre nach der Diagnose noch am Leben sind.
In Luxemburg auch? – Das ist eine der Fragen, die derzeit noch niemand beantworten kann. Genauso wenig, wie jemand die genaue Zahl der aktuell Krebskranken kennt. „Wir wissen auch noch nicht, wie viele Patienten dank welcher Behandlung geheilt werden oder wie lange sie überleben“, sagt Danielle Hansen-Koenig, die Chefin der Gesundheitsdirek-
tion. All das soll sich mit dem nationalen Krebsregister ändern, das voraussichtlich Anfang des neuen Jahres seinen Betrieb aufnehmen soll.
Eingerichtet wird es am Centre de recherche public de la Santé. Erfassen soll es nicht nur sämtliche Krebsdiagnosen – sowohl jene, die am LNS im Turmorregister gesammelt werden, als auch die verbleibenden fünf Prozent, die vor allem in Kliniken im Ausland erfolgen, an die Luxemburger Patienten schon zur Diagnose überwiesen werden. „Wir beziehen auch den Werdegang jedes Krebspatienten ein, welche Behandlung er erhält, zu welchem Resultat sie führt und wie es ihm anschließend ergeht“, berichtet Marie-Lise Lair, die Leiterin der Forschungsabteilung Öffentliche Gesundheit am CRP-Santé.
Wenn das tatsächlich klappt, kann die Beschäftigung mit dem Krebs in Luxemburg in eine neue Ära eintreten. Dann lassen sich auch sinnvoll Fragen stellen wie etwa die, wie viele Patienten aus welchen wahrscheinlichen Gründen Krebs bekamen – und vielleicht auch daran starben. In die Richtung hat bisher nur das Sozialforschungsinstitut Ceps-Instead zu forschen versucht. Vor drei Jahren untersuchte es das Berufsprofil und die Risikofaktoren unter den am Strahlentherapiezentrum François Baclesse in Esch/Alzette Behandelten: Es stellte fest, dass weibliche Patientinnen mit höherem Sozialstatus besonders häufig an Brustkrebs erkrankt waren1.
Vor zwei Jahren ging ein Ceps-Team den Disparités sociales bei den zwischen 2002 und 2006 in Spitälern Verstorbenen nach: Angestellte, wie es sie vor dem Einheitsstatut gab, starben demnach am häufigsten an Krebs (38,5% der Todesursachen in dieser Gruppe), gefolgt von Beamten im öffentlichen Dienst und Eisenbahnern (33,6%), Arbeitern vor dem Einheitsstatut (33,1%) und Landwirten (24,8%). Die Unterschiede nach Berufsstatut waren bei den Frauen drei Mal größer als bei den Männern gewesen. Am allerhäufigsten waren männliche Eisenbahner Krebs-
opfer: 40,7 Prozent der zwischen 2002 und 2006 in einem Spital verstorbenen männlichen CFLler waren einem Krebs erlegen.
Woran das gelegen haben mag? Wer weiß. Dem Stand der Wissenschaft nach tragen „Umweltfaktoren“ zu 90 bis 95 Prozent zum Entstehen von Krebs bei, wie das Cancer Center der University of Texas vor vier Jahren in einer Review von 120 Einzelstudien herausstellte. Nur fünf bis zehn Prozent der Krebserkrankungen sind ursächlich genetisch bedingt. Mit Umweltfaktoren gemeint sind vor allem falsche Ernährung (30 bis 35 Prozent), Tabak (25 bis 30 Prozent), Übergewicht (zehn bis 20 Prozent), Infektionen (15 bis 20 Prozent) und Alkohol (vier bis sechs Prozent)3. Systematisch erheben und mit Erkrankungen in Zusmamenhang bringen soll solche Einflüsse erst das Krebsregister. Bis dahin ist jedes Räsonieren über Krebs-Ursachen in Luxemburg Spekulation.
Etwa zwei Jahre werde es dauern, bis das Register nach seinem Start „voll nutzbar“ sein wird, schätzt die Chefin der Gesundheitsdirektion. Und fügt hinzu: „Die Zeit war reif, auch bei uns eine solche Datenbasis anzulegen. Wir gehören zu den wenigen EU-Staaten, die das noch nicht haben, und werden immer wieder danach gefragt.“
Ein paar Hürden für ein optimales Funktionieren des Krebsregisters bestehen allerdings. Festzustellen, dass ein Krebskranker, der zuhause verstarb, tatsächlich der Erkrankung zum Opfer fiel ist nicht unbedingt einfach. Dass für einen Patienten, der im Ausland behandelt wird, alle Daten nach Luxemburg übermittelt werden, ist es ebenfalls nicht. Um diese Probleme zu umgehen, soll vom Register aus ein ständiger Kontakt mit den behandelnden Ärzten gehalten werden. Wird ein Patient im Ausland versorgt, sollen auch der ärztliche Kontrolldienst der Sozialversicherung und die Gesundheitskasse helfen, den Kontakt zum Krankenhaus im Ausland zu halten. Marie-Lise Lair räumt ein: „Der Aufwand ist beträchtlich. Aber in anderen Ländern hat man dasselbe Problem und löst es auf ähnliche Art.“
Wie lückenlos das Register sein wird, entscheiden auch die Patienten mit. Aus Datenschutzgründen sollen sie, so steht es in einem Verordnungsentwurf, der vor zwei Wochen den Regierungsrat passierte, eine Opt-out-Möglichkeit erhalten: „Namentlich erfassen wir die Patienten ohnehin nicht und auch nicht über die Matricule“, sagt Lair. Stattdessen erhalte jedes Dossier eine „Zufallsnummer“, die überdies von einem Informatiksystem generiert werde, das nicht in der Datenbank des Krebsregisters selbst steckt. Abgesehen davon aber wird ein Patient es ablehnen dürfen, mit Krankengeschichte, Diagnose und Behandlungsdaten geführt zu werden. „Dann wird er lediglich zahlenmäßig verbucht.“ Die Qualität des Krebsregisters wird das natürlich schmälern. Lair hofft, dass die Krebspatienten nicht anders reagieren wie jene Frauen, die Frühgeburten zur Welt bringen und mit ihrem Kind im Neonatalogie-Register geführt werden. „Ich kann mich nicht erinnern, dass eine Mutter nicht verstanden hätte, dass dieses Register der öffentlichen Gesundheit dient.“

1 Tchicaya,A.; Lorentz, N., Profil socioéconomique et facteurs de risque de maladies tumorales parmi les patients admis au Centre François Baclesse du Luxembourg. Ceps-Instead 2010, www.ceps.lu/?type=module&id=104&tmp=1584
2 Tchicaya, A.; Lorentz, N., Disparités sociales de mortalité au Luxembourg. Ceps-Instead, Working Paper Nr. 2011-37
3 Anand, P. et al, Cancer is a Preventable Disease that Requires Major Lifestyle Changes, Pharmaceutical Research, Vol. 25, 9.9.2008
Peter Feist
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