Treibt die Krise die Selbstmordrate nach oben? Auf Spurensuche

Ein Gespenst geht um

d'Lëtzebuerger Land du 29.06.2012

„Ich verstehe die Sorgen, aber kann nicht mehr dazu sagen.“ „Das ist ganz schwierig.“ „Wir haben noch nichts gehört, aber das muss nicht unbedingt etwas heißen.“  Die Aussagen stammen von unterschiedlichen Personen – von Roger Consbruck der den Gesundheitsminister berät, über Guy Weber, im selben Ministerium für Daten zuständig, bis hin zu Laura Zuccoli, Präsidentin der Ausländerorganisation Asti – und beziehen sich auf die Frage, ob und wie sich die Krise an Luxemburgs Sterberate bemerkbar mache. Aus den Reihen der Polizei stammte der Wink, die Wirtschaftsflaute lasse sich womöglich auch in Luxemburg an der Zahl der versuchten oder vollendeten Selbsttötungen ablesen.

Dass sich seit Ausbruch der Euro-Schuldenkrise die Selbstmorde häufen, prägt seit Frühjahr die Schlagzeilen vieler Zeitungen. Vor allem in Italien und Griechenland wissen Handwerker, Arbeitslose, Unternehmer und Rentner oft keinen anderen Ausweg mehr. In Sardinien hatte ein kleiner Bauunternehmer die Pistole gegen sich selbst gerichtet – nachdem er die eigenen Söhne entlassen musste. In Griechenland sorgte der Tod eines 77-Jährigen, der sich mit den Worten „Ich habe Schulden, ich halte das nicht mehr aus“ vor dem Athener Parlament erschoss, für erhebliche Betroffenheit – und führte zu schweren Ausschreitungen.

Seit Beginn der Krise im Jahr 2007-2008 sind die Selbstmordraten in Südeuropa gestiegen. Die genauen Zahlen zu erfassen ist schwierig, weil offizielle Statistiken hinterherhinken und Selbsttötungen wegen fehlender Gewissheit, aus Scham oder anderen Gründen nicht immer als solche deklariert werden. In der Eurostat-Statistik für 2010 fehlen ausgerechnet die Sterberaten von Südländern wie Italien oder Griechenland. Anhaltspunkte dafür, dass die anhaltende Wirtschaftskrise immer mehr Menschen verzweifeln lässt, gibt es aber genügend. Griechenland galt lange als das Land in Europa mit den niedrigsten Selbstmordraten – bis das Gesundheitsministerium in Athen kürzlich einen Anstieg um 40 Prozent der Selbstmordtoten zwischen Januar und Mai im Vergleich zum Vorjahr verzeichnete.

Britische Wissenschaftler verglichen 2011 in einer im Gesundheitsmagazin The Lancet veröffentlichten Studie die Entwicklung von Arbeitslosigkeit in Europa mit nationalen Sterberaten. Obwohl in den alten wie in den neuen EU-Ländern sich die Bankenkrise erst nach 2009 in Form von Massenentlassungen bemerkbar machte, wirkte sich der Crash prompt auf die Zahl der Selbstmorde aus: Von zehn untersuchten Ländern (die EU-Statistiken hinkten auch auf EU-Niveau hinterher) betrug, mit Ausnahme von Österreich, der Anstieg zwischen 2007 und 2009 mindestens fünf Prozent; in manchen lag er sogar, je nach Altersgruppe, bei bis zu 35 Prozent.

Für Luxemburg lagen keine Informationen vor. Sie wären auch schwierig zu analysieren. „Suizid ist verhältnismäßig selten, sodass in einem kleinen Land wie Luxemburg kleine Fluktuationen schwierig zu interpretieren sind“, erklärt David Stucknell, einer der Autoren der Studie. Das bestätigt auch Guy Weber, Statistikexperte im Gesundheitsministerium und Autor der 2010 erschienenen Analyse La mortalité au Luxembourg. „Selbstmord ist eine seltene Todesursache, im Vergleich etwa zu Krebs oder Verkehrsunfällen. Das macht es schwer, Trends zu erfassen“. Für den Zeitraum seit der Krise seien Luxemburgs Daten eher konstant (in der Bevölkerungsstatistik des Statec sind nur die Zahlen bis 2009 erfasst), sie schwanken zwischen 50 und 70 Selbsttötungen pro Jahr. Dass Männer ein viermal häufigeres Selbstmordrisiko haben als Frauen und dass Jugendliche ebenfalls ein erhöhtes Risiko tragen, ist bekannt. Aber dass bestimmte Bevölkerungsgruppen häufiger betroffen sind, weil sie die Wirtschaftskrise stärker trifft? Darauf will sich Guy Weber nicht festlegen. Die Zahlen für 2011 sind noch nicht durch den letzten Qualitätscheck. einen Mythos aber hinterfragt der Statistiker: Anders als vielfach behauptet, seien die Luxemburger Suizidraten im internationalen Vergleich nicht zu hoch: Luxemburg führt in seiner nationalen Statistik auch jene Fälle auf, wo die Todesursache nicht eindeutig geklärt ist.

Also Entwarnung im reichen Luxemburg? „Dass es einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrisen und Selbstmorden gibt, ist unbestritten. Das können wir auch für Luxemburg nicht ausschließen“, sagt Fränz D’Onghia vom Zentrum für Sui-zidprävention. Daten darüber, ob neuerdings in Luxemburg mehr Menschen versuchen, sich aufgrund sozialer Not das Leben zu nehmen, hat er keine: „Die Ursache steht nicht im Totenschein.“ Auch Polizeipsychologe Marc Stein ist vorsichtig, hält einen Zusammenhang zwischen Krise und Selbstmordversuch respektive Selbsttötung aber für denkbar: „Vielleicht gibt es Veränderungen in den Untergruppen, die wir aufgrund der kleinen Gruppe nicht erkennen“, mutmaßt er. Der Psychologe kennt Geschichten, wie die Krise Leben zerstört: über den Unternehmer, der tagelang in sein Büro gefahren war, um den guten Schein aufrecht zu erhalten, obwohl sein Betrieb längst bankrott war. Als er nicht mehr weiter wusste, brachte er sich um. Ein Mitarbeiter eines Notrufs erzählt die Geschichte eines portugiesischen Arbeiters, der nach Jobverlust seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte und den Strick nahm. Tragische Fälle, aber dennoch Einzelfälle. Von südeuropäischen Szenarien wie in Italien oder Spanien ist das kleine Luxemburg weit entfernt.

Anlass zur Sorge gibt es gleichwohl. Die Wirtschaft stagniert weiter, meldet das Statistische Amt Statec in seinem Konjunkturbericht. Die Luxemburger Unternehmer sind pessimistischer denn je, nur im Dienstleistungsbereich ist die Stimmung etwas besser. Schlechte Nachrichten auch für Arbeitnehmer: 3 300 verloren 2011 ihre Arbeit, weil ihr Betrieb schließen musste. Das sind 17 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Die meisten Pleiten gab es im Handel, im Bau und im Gaststättengewerbe. Das Bezirksgericht Luxemburg meldet für 2011 862 Firmenpleiten gegenüber 585 im Jahr 2007.

Ein „schlechter Businessplan“, meint Francis Da Silva von der luso-luxemburgischen Industrie- und Handelskammer sei der Grund für die gehäuften Pleiten von klein- und mittelständischen Betrieben. Manche hätten schlecht kalkuliert oder wüssten nicht, was die Kunden erwarten. Andere haben nicht das nötige Geldpolster, um ausbleibende Kundenzahlungen aufzufangen. Auch vergäben die Banken weniger Kredite. „Eine Pleite ist ein Problem, aber nicht das Ende von allem. Man muss wieder aufstehen“, betont Da Silva. Seine Kammer rät portugiesischen Arbeitnehmern, die ihren Job verloren haben, die Zeit zu nutzen und sich weiterzubilden. „Auf jeden Fall flexibel sein.“

Viel schwieriger ist es für niedrig qualifizierte Leiharbeiter, die zu Tausenden aus Portugal nach Luxemburg strömen, um hier meist unter prekären Bedingungen zu arbeiten (d’Land vom 10.02.). Läuft ihr Zeitvertrag aus, stehen sie oft ohne jegliches Einkommen da. Neuankömmlinge, die in Luxemburg bleiben wollen, müssen nachweisen, dass sie eine Arbeit haben oder sonst ein ausreichendes Einkommen, sowie eine Wohnung. Laut Gesetz stehen ihnen nach drei Monaten Arbeit und Aufenthalt in Luxemburg Sozialleistungen zu, darunter RMG. Betroffene berichten, sie hätten Post von den Behörden erhalten, in der ihnen mitgeteilt wurde, sie seien eine „Belastung“, weshalb ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert würde. Da sich die Fälle häufen, will die Ausländerorganisation Asti die Lage jetzt juristisch prüfen lassen. „Wir haben Zweifel, dass das rechtens ist“, sagt Laura Zuccoli. Es gebe schließlich das europäische Recht auf Freizügigkeit. Auch bei Amilcar Monteiro von der Caritas und bei der portugiesischen Gemeinschaft CCPL melden sich, meist männliche, Portugiesen, die verzweifelt und ohne Job sind und nicht wissen, an wen sich wenden. „Manche haben von Familie oder Freunden gehört, wie gut das Leben in Luxemburg sein soll. Und wenn sie dann hier ankommen, haben sie nicht einmal ein Dach überm Kopf“, so Monteiro.

Für sie sind Ausländervereine der erste Ansprechpartner, wenn die Familie nicht helfen kann beziehungsweise familiärer Rückhalt fehlt. Die, die schon Jahre hier leben, greifen ebenfalls nicht unbedingt auf gängige Hilfsangebote zurück. Als „luxemburgisch und weiblich“, beschreibt Psychologin Marcelle Walch den typischen Anrufer der Notruf- und Beratungsstelle SOS Détresse. Die Gründe, warum Menschen in Not die vor 30 Jahren gegründete Hotline anrufen, sind zahlreich: Manche sind psychisch labil, depressiv, andere haben Beziehungsprobleme. Gewalt ist ein häufiges Motiv, aber auch der Verlust der Arbeit oder Schulden können Auslöser für einen Hilferuf sein. Im Jahr 2009 waren psychische Probleme Sorge Nummer eins der Anrufer, überfordernde Lebenssituationen gaben 133 Mal Anlass für ein Gespräch. Im Jahr 2010 waren es 198. Oft werden die Anrufer weiter vermittelt, im Bereich Arbeit waren es mit elf für 2011 jedoch wenige.

Die anonyme Hotline erfasst keine Daten über Herkunft und Wohnort, aber Marcelle Walch bestätigt, was im Sozialsektor ein offenes Geheimnis ist: „Andere Nationalitäten zu erreichen, ist nicht einfach. Das ist ein Punkt, an dem wir kranken.“ Obwohl ein Viertel der 37 Freiwilligen nicht-luxemburgischer Herkunft ist, bleibt die Sprachensituation eine kniffelige Herausforderung. „Es gibt Stunden, da können wir kein Portugiesisch anbieten“, gesteht Walch. Portugiesen, Kap-Verdianer, Ex-Jugoslawen, Afrikaner – sie werden von Sozialdiensten allgemein nicht gut erreicht. SOS Détresse hat sich vorgenommen, die Öffentlichkeitsarbeit in diese Richtungen künftig zu verstärken und sich mit Ausländerorganisationen besser zu vernetzen.

Die Zugänglichkeit der Hilfsangebote ist auch Thema der aus Hilfsdiensten, Ärzten und Gesundheitsministerium bestehenden Arbeitsgruppe Depression und Suizid, die an einem nationalen Aktionsplan zur Prävention und Aufklärung arbeitet. Solche Programme bestehen in anderen EU-Ländern längst. Es war die schwedische Ratspräsidentschaft, die die Mitgliedstaaten dazu aufrief, sich stärker gegen Suizid und seine Ursachen zu engagieren. „Wir haben noch viel nachzuholen“, räumt Fränz D’Onghia vom Suizidpräventionszentrum ein. An Strukturen fehlt es meistens nichts. Aber viele Dienste arbeiten ehrenamtlich, sind überlaufen und, obwohl sie über lange Adresslisten mit weiteren Hilfsangeboten verfügen, nicht immer gut vernetzt. „Die Koordinierung mit anderen Hilfsangeboten und Organisationen wird sicherlich eine Kernaufgabe sein“, sagt D’Onghia. Bis voraussichtlich Ende 2013 soll der Aktionsplan stehen. Für die Betroffenen keinen Moment zu früh.

Ines Kurschat
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