Trinkwasserschutz und Abwasserbehandlung wurden in Luxemburg derart lange vernachlässigt, dass heute nicht überall, wo Wohnungen entstehen sollen, genug Kläranlagen vorhanden sind

Ungehindert ins Gewässer

d'Lëtzebuerger Land du 19.02.2016

Es hat vielleicht nicht nur mit Wirtschaftspolitik zu tun, dass die Regierung Luxemburg zum Technologiestandort für Weltraum-Bergbau entwickeln will. Denn wer davon träumt nach den Sternen zu greifen, kann sich wenigstens eine Zeitlang einbilden, irdische Begrenzungen spielten keine große Rolle mehr.

Sehr irdische Begrenzungen stellen sich so manche in dem kleinen Land, das sich auf Wachstumskurs befindet und dessen Einwohnerzahl offiziellen Hochrechnungen nach in fünf Jahren bei 635 000 liegen könnte. Das wären an die 70 000 mehr als Anfang 2015. Doch damals hatten die Wohnungen von immerhin vier Prozent der Bevölkerung noch keinen Kläranlagenanschluss. Vor allem in verschiedenen Dörfern im Ösling ist das noch immer so. Kurz vor Weihnachten hat die Regierung einen „Wasserbewirtschaftungsplan“1 aufgestellt. Darin steht, das Abwasser der vier Bevölkerungsprozent, die rund 23 000 Menschen entsprechen, würde „größtenteils in dezentralen/privaten Klärgruben vorgereinigt vor dessen Abfluss in die öffentliche Kanalisation bzw. in die natürliche Umgebung“. Das ist eine schöne Umschreibung. „Vorreinigung“ bedeutet, dass sich in einer Klärgrube die festen Bestandteile im Abwasser am Boden absetzen, der Rest über die Kante der Grube in Bäche und Flüsse läuft.

Man kann sich vorstellen, dass in einem modernen Gemeinwesen der Anschluss sämtlicher Wohnungen an eine Kläranlage ein wichtiges Thema ist. Dass der Wasserbewirtschaftungsplan das zu einer „Priorität“ erklärt, ist gut verständlich. Der 370 Seiten lange Plan sieht aber noch sehr viel mehr vor. Er listet 2 238 Maßnahmen auf, mit denen die heimischen Flüsse und Bäche, Quellen und Grundwasserkörper in den fünf Jahren bis 2021 dem „guten Zustand“ ein Stück näher gebracht werden sollen: durch die Renaturierung von Fluss- und Bachbetten etwa, die Ausweisung von Trinkwasserquellenschutzgebieten oder den Neu- oder Ausbau von Kläranlagen. Für die Maßnahmen müssten 1,51 Milliarden Euro investiert werden.

Vor allem die „Siedlungswasserwirtschaft“ wird viel Geld kosten: 1,1 Milliarden der Investitionssumme sind für den Neubau und die Modernisierung von Kläranlagen, die Renovierung und den Ausbau lokaler Abwasserkanäle, den Bau von Abwasserpumpstationen und Regenwasser-Überlaufbecken veranschlagt. Der teuerste Einzelposten sind mit rund einer halben Milliarde Euro die Kläranlagen. 91 Projekte stehen im Wasserbewirtschaftungsplan, davon 37 Kläranlagen-Neubauten.

Das ist eine Menge. Zurzeit verfügt Luxemburg über 242 kommunale Klärwerke, denn die Abwasserbehandlung fällt wie die Trinkwasserversorgung in die Zuständigkeit der Gemeinden. Größtenteils nehmen diese Anlagen auch die Abwässer von Industrie- und Gewerbebetrieben auf. Doch mit 126 sind mehr als die Hälfte der Kläranlagen rein „mechanische“. Über sie schreibt der Wasserbewirtschaftungsplan in Fachdeutsch: „Im Fall von Starkregenereignissen wird oftmals ein Teil der sedimentierten Stoffe wieder ausgespült und gelangt ungehindert ins Gewässer.“ Soll heißen: Auch Exkremente werden dann in die Flüsse und Bäche geschwemmt. Schön ist das nicht. Damit funktionieren die mechanischen Kläranlagen bei starkem Regen kaum besser als die „dezentralen Klärgruben“ der vier Bevölkerungsprozent.

Und auch die 116 Kläranlagen mit einer „dritten“, einer „biologischen“ Reinigungsstufe werden nicht alle ihrem Zweck gerecht. Ein Fünftel ist über dreißig Jahre alt und nicht mehr auf dem Stand der Technik. Aus diesen Anlagen gelangt beispielsweise zu viel an Nitraten und Phosphaten in die Oberflächengewässer. Dass gegenwärtig von 110 Bach- und Flussläufen nur drei einen „ökologisch guten“ Zustand aufweisen und kein einziger „chemisch gut“ ist, hängt nicht zuletzt mit der veralteten und überlasteten Abwasserinfrastruktur im Land zusammen.

Und wie die Dinge liegen, ist der große Nachholbedarf ein ernstes Hindernis, wenn Luxemburg „wachsen“ will und die Regierung versprochen hat, den Wohnungsbau anzukurbeln. Bis zum gestrigen Donnerstag wurde regierungsintern intensiv debattiert, ob auch in Gemeinden ohne einen modernen Kläranlagenanschluss gebaut werden könnte. Manche Gemeinden, auf die das zutrifft, hatten signalisiert, bestehe das für die Wasserpolitik zuständige Nachhaltigkeitsministerium auf dem Prinzip „kein Wohnungsbauprojekt ohne Kläranlagenanschluss“, dann könne ein „jahrelanger Baustopp“ drohen.

Und das obwohl in der Abwasserwirtschaft schon einiges unternommen wurde. Es ist sogar schon viel passiert. Nachdem zwei Jahrzehnte lang in erster Linie große Stadtgemeinden ihre Infrastruktur in Schuss hielten, die meisten Dörfer sie dagegen vernachlässigten und die Mosel-Gemeinden noch heute als weitgehend kläranlagenfreie Zone berüchtigt sind, aus der das Abwasser in den großen Fluss läuft, war 2009 unter dem damals für die Wasserpolitik zuständigen CSV-Innenminister Jean-Marie Halsdorf ein erster Wasserbewirtschaftungsplan geschrieben worden. Auf seiner Grundlage wurden acht Kläranlagen neu gebaut, drei wurden modernisiert und vergrößert. Sieben weitere Neu- und 13 Ausbauten aus Halsdorfs Plan werden in den nächsten Jahren fertig, darunter Großvorhaben wie die Erweiterung der Kläranlage Bleesbrück und die der Schifflinger Anlage.

Überhaupt sind die 20 Projekte, die sich derzeit „in Umsetzung“ befinden, vor allem große. Zusammengenommen werden sie die landesweite Klärkapazität, die im Moment rund 1,04 Millio-nen „Einwohnergleichwerte“ beträgt, um 39 Prozent steigern. Dagegen werden die 21 Vorhaben, die dem nunmehr zweiten Wasserbewirtschaftungsplan zufolge entweder „in Bearbeitung“ sind oder deren Bau demnächst beginnen könnte, für weniger Kapazitätszuwachs sorgen.

Für weitere 50 Projekte liegen derzeit lediglich „Vorschläge“ auf dem Tisch. Diese Anlagen sind größtenteils noch viel kleiner, entsprechen meist nur ein paar hundert Einwohnergleichwerten. Sie sind jedoch im ländlichen Raum vorgesehen, im Ösling, im Westen des Landes oder im Müllerthal. Jene Gegenden, in denen die Grundstückspreise besonders niedrig sind und wohin es Leute und Promotoren zieht, die preiswert bauen wollen.

Bis zum gestrigen Donnerstag drohte ein ernster Konflikt zwischen Wasserschutz- und Wohnungsbaupolitik, denn die Drohung mit dem „Baustopp“ kam aus solchen Landgemeinden. Für die Regierung, die politisch unter Druck steht, den Wohnungsbau zu beleben, war das riskant. Denn obwohl sie den Wohnungsbau in den Städten konzentrierten will, ist es am Ende der Grundstückspreis, der den Ausschlag gibt. Und der zieht viele in die Dörfer. Vor allem wahlberechtigte Luxemburger, wie man seit einer 2014 veröffentlichten Studie über den „territorialen Zusammenhalt“ weiß.

Während das Nachhaltigkeitsministerium lange darauf bestand, dass Wohnungsbau ohne Kläranlagenanschluss nicht sein könne, wolle Luxemburg nicht riskieren, nach einer Verurteilung wegen nicht konformer Kläranlagen Ende 2014 in ein paar Jahren auch Strafzahlungen wegen schlechter Gewässergüte leisten zu müssen, meinten das Wohnungsbau- und das für kommunale Planungen zuständige Innenministerium, notfalls müsse man „technische Alternativen“ in Betracht ziehen.

Denn zum Kläranlagenbau zwingen kann die Regierung die Gemeinden nicht. Und besonders kleine Landgemeinden sagen angesichts des großen Handlungsbedarfs in Sachen Wasser: Zunächst investieren wir in die Trinkwasserversorgung und den Quellenschutz – und danach in die Abwasserinfrastruktur. Anlass dafür ist auch, dass der Kläranlagenbau allein meist noch nicht alles löst. Wo jahrzehntelang in die Infrastruktur wenig oder nichts investiert wurde, muss vor allem die Kanalisation erneuert werden. Im Wasserbewirtschaftungsplan ist das mit 350 Millionen Euro der zweitwichtigste Kostenpunkt nach den Kläranlagen. Und in so manchen Landgemeinden sind mehrere Kilometer an Kanälen zu renovieren.

Auf Wasserfragen spezialisierte Ingenieurbüros wissen, was mit „technischen Alternativen“ gemeint ist: Mini-Kläranlagen, die nur für eine Wohnsiedlung angelegt würden, oder „mobile Kläranlagen“, die man in einem Container kaufen kann. Ein Hamburger Hersteller solcher Container-Anlagen bewirbt seine Technologie im Internet als gute Lösung „für Permafrostzonen, Wüstengebiete, Arbeitersiedlungen bei Erdöl- und Erdgasförderanlagen oder für Flüchtlingslager“. Demnächst vielleicht auch im ländlichen Raum des reichen Luxemburg?

Nein, denn solche Lösungen gefallen den interkommunalen Abwasserzweckverbänden nicht. Die meisten Gemeinden gehören einem solchen Abwasser-Syndikat an. Mini-Kläranlagen sind bei ihnen nicht gern gesehen, weil der Wartungsaufwand für sie vergleichsweise hoch ist. Container-Anlagen seien keine gute Idee, weil dafür Pumpen und Rohrleitungen extra eingekauft, eine Plattform zum Aufstellen des Containers angelegt und Kommodo- und Naturschutzgenehmigungen eingeholt werden müssen wie für „richtige“ Kläranlagen. Das Beste sei, ist von Syndikat-Seite zu hören, man baue „gleich richtig“.

Der Kompromiss, der gestern zwischen Vertretern der Ministerien, der Gemeinden und der Abwasser-Syndikate gefunden wurde, sieht so aus: Sollte es tatsächlich nicht möglich sein, rasch für einen Kläranlagenanschluss zu sorgen, dann soll das Abwasser der neuen Wohnsiedlungen ausnahmsweise in einer Klärgrube gesammelt und von dort regelmäßig in eine moderne Kläranlage abtransportiert werden. Maximal vier Jahre lang soll eine solche Notlösung Bestand haben dürfen. Elf Wohnungsbauprojekte wurden durch den Kompromiss gerettet. Ein „Baustopp“ wurde abgewendet. Aber die Zahl der Wohnungen ohne Kläranlagenanschluss wird nun so schnell nicht ab- und vielleicht sogar erst einmal zunehmen.

1 www.eau.public.lu/directive_cadre_eau/directive_cadre_eau/2015-2021_2e_cycle/publication-du-plan-de-gestion/index.html
Peter Feist
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