Alexander, der Kino-Tod. Die Kamera in Froschperspektive, Slow-Motion: ein goldener Ring mit rotglänzendem Stein gleitet von der Hand eines liegenden Mannes. Kameraschwenk in einen pompösen Palastraum hinein. Das Sterbebett wird von Hunderten von Menschen umlagert, Griechen und Perser, Mediziner und Krieger. Mit Pathos fährt uns das Elektroorchester von Vangelis gegen Himmel. Ein Held ist tot. Wir sind es so gewohnt, dass die Stücke zu Ende ihrer Inszenierungslaufbahn in Luxemburg landen. Doch diesmal, hört man, hat der schnelle Entscheidunsgweg des TNL und des Théâtre du Centaure eine Uraufführung nach nur sechs Monaten Vorbereitungszeit ins Land gebracht. Dies ist um so erstaunlicher - und für das Publikum sehr erfreulich - weil Le tigre bleu de l'Euphrate mit den größten Namen aufwarten kann : es geht um Alexander, den Großen, dargestellt von Carlo Brandt, in einer Inszenierung von Mohamed Rouabhi des gleichnamigen Textes von Laurent Gaudé. Eben jenes, der mit seinem dritten Roman Le Soleil des Scorta im letzten Jahr in den Olymp der Goncourt-Gewinner aufstieg. Carlo Brandt seinerseits gehört in Pariser Theaterkreisen zu den Größten, immer wieder von der Kritik bejubelt und mit Preisen gekrönt. Der Darsteller und der Regisseur zogen schon einige Zeit mit dem Text aus dem Jahre 2002 umher, doch es fand sich kein französisches Theater, das sich an den schwierigen Stoff heranwagen wollte. Freilich liegt der 52 Seiten starke Monolog weit außerhalb gängiger Unterhaltungskost. Es geht ans Eingemachte - für den Schauspieler zunächst und für das Publikum alsdann. Mir scheint, am Ende des Stücks waren die Zuschauer vor allem voller Bewunderung vor dieser großartigen Leistung: die Größe des literarischen Werkes wird getragen von einem brillanten Schauspiel in einer Inszenierung, die in ihrer intelligenten Zurückhaltung treffender nicht sein könnte. Diese Leistung ist um so beachtlicher, als man sich an einen Giganten der Mythen und der klassischen Geschichtsschreibung heranwagt. Alexander, der Große steht am Ende seines nur kurzen Lebens und sieht dem nahen Tod mit klarem Blick ins Auge. Er erzählt dem unsichtbaren Gast Tod von seinem rastlosen Leben, seinem Streben nach Ruhm, Anerkennung und Macht. In seinem übermenschlichen Selbstverständnis fragt er den Tod nicht um ein Stück Ewigkeit. Er hat sich zu Lebzeiten zu einer unsterblichen Legende gemacht. Dafür hat er selbst gesorgt. Er bittet den Tod, ihn als ein Ganzes für immer mitzunehmen. Kein Leichnam soll auf Erden bleiben. Kein Grab. Keine Gedächnisstätte. Auf immer verloren, so soll es sein. Mit diesem totkranken Helden - der einmal liegt, einmal im Wüstensand kauert - zieht man in der Erinnerung als Eroberer gegen Mazedonien, nach Ägypten, von Persien bis nach Indien. Die blutüberströmten Schlachtfelder ziehen vorbei, die Meere werden durchquert und die Wüsten. Er erzählt die Begegnung mit Darius, seinem persischen Gegenspieler, mit einer Kriegsgefangenen, die Auseinandersetzung mit Koinos, der den Kriegzug gegen Osten aufhalten wollte. Zum Symbol seiner inneren Unruhe, seines unersättlichen Strebens wird der blaue Tiger, den er am Rande des Euphrat erblickt. "Accepter le tigre bleu comme seul guide à ma vie". Dieser alte Mann von 32 Jahren, in verdreckte Decken gehüllt, hat mit dem anderen Alexander, der zur Zeit in den Lichtspielhäusern der Welt in Szene gesetzt wird, so gar nichts gemein. Jede Gegenüberstellung scheint fast unsinnig. Und trotzdem ist es der gleiche Mythos, der hinter der Figur steht. Der Film und auch das Theaterstück stellen die Frage nach dem Warum von Alexanders Streben. Der Film von Oliver Stone stellt etwas abenteuerliche Thesen auf, bleibt klare Aussagen allerdings schuldig. Die Kinofigur ist nur Oberfläche, nur Schein. Auch der Text von Laurent Gaudé gibt keine definitiven Antworten. Er zeigt den Menschen Alexander als einen komplexen Visionär, der hehre Ziele verfolgte, doch genauso von Selbstzweifeln zerrissen war. Er selbst nennt sich einen Irren, einen kranken Geist, einen Getriebenen. "Je compris que j'étais un roi que rien ne rassasie. Et que cette faim qui me rongeait les sangs, cette faim de terre, de foule et de vitesse, rien, jamais, ne l'apaiserait jusqu'à la mort." Alexander, der Theatertod. Ein halbnackter Körper liegt in einem dunklen Raum auf der roten Erde. Er stirbt langsam, er stirbt allein. Absolute Stille. Ein Mensch ist tot. Gaudés Text ist ein hervorragendes literarisches Werk, das man noch einmal durchlesen sollte, wenn Brandt den Monolog nicht mehr auf der Luxemburger Bühne vorträgt. Wenn es Mut bedurfte, dieses schwierige Stück nach Luxemburg zu holen, sollte es solche Bekenntnisse zur anspruchsvollen Theaterkunst öfter geben.
Le tigre bleu de l'Euphrate in einer Inszenierung von Mohamed Rouabhi, mit Carlo Brandt. Eine letzte Aufführung ist heute, Freitag, 4. Februar, um 20 Uhr im Théatre national du Luxembourg, 194, route de Longwy. Weitere Informationen unter www.tnl.lu. Der Text von Laurent Gaudé ist erschienen bei Actes Sud - Papiers, 2002.