Ein Porträt von Francine Closener, neu – alte Ko-Parteipräsidentin der LSAP

„Politik ass eng ganz, ganz aner Saach“

Francine Closener in der Parteizentrale in Gasperich
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 02.08.2024

Eigentlich kommt sie aus einer CSV-Familie: „Mein Vater war Mitglied der CSV und seine Freunde ebenfalls.“ Besonders konservativ seien ihre Eltern trotz CSV-Nähe nicht gewesen. Als sie im Gymnasium nicht mehr am Religionsunterricht teilnehmen wollte, haben ihre Eltern diese Entscheidung akzeptiert. Closener stammt weder aus einer Arbeiter- noch aus einer Bildungsbürgerfamilie: Ihre Eltern hatten einen Laden im Bahnhofsviertel von Luxemburg-Stadt; später, als der Gebäudeblock mit dem Laden verkauft wurde, arbeitete ihr Vater für verschiedene Möbelhändler. Mit sozialistischer Politik wurde sie erst an der Freien Universität Brüssel vertraut und durch den Journalismus: Als Reporterin war sie häufiger mit dem LSAP-Abgeordneten Mars Di Bartolomeo in Kontakt, der ihr Informationen für ihre Reportagen lieferte. Auch den Fraktionssekretär Etienne Schneider traf sie als Journalistin – er ist ein Freund aus ihrer Brüsseler Studienzeit. Als die CSV während der Srel-Affäre die LSAP als Strohmann opfern wollte und gesellschaftspolitische Reformen unter der CSV auf sich warten ließen, wollte sie die Seiten wechseln – und den Journalismus für die Politik eintauschen.

Letzte Woche wurde sie mit 73,5 Prozent neben Dan Biancalana zur Ko-Präsidentin wiedergewählt. Für eine Abstimmung ohne Gegenkandidatur ist so ein Ergebnis eher mau. Im Vorfeld hatten Wort und Tageblatt geschrieben, sie habe ihr Mandat auf internen Druck der Partei verlängern wollen, damit sich das Duo Paulette Lenert und Georges Engel nicht zur Wahl stellt. Diese Gerüchte will sie gegenüber dem Land aus dem Weg räumen. Sie hätte im Winter einen „Durchhänger“ gehabt und hatte zunächst gegenüber dem Wort geäußert, ihr Mandat als Ko-Parteipräsidentin ablegen zu wollen. Nachdem die Partei bei den Europawahlen an Zuspruch gewann, schöpfte sie wieder Kraft – „jetzt sind wir wieder wer“, zitierte sie das Tageblatt. „Außerdem stehen noch parteiinterne Reformen an“, sie sei nicht jemand, der sich auf halbem Weg aus der Verantwortung stiehlt, erläutert sie am Dienstag in der Parteizentrale in Gasperich. Wer ihr zuhört, erlebt eine Frau, die weder besonders streng noch besonders freundlich wirkt.

Als Parteipräsidentin habe sie eine zeitgemäße Kommunikation eingeführt: Im März 2023 wurde ein Kongress mit einem klar getakteten Zeitplan und großer Kinoleinwand abgehalten. Sonst verliere man die Jugend; diese wolle nicht ihren ganzen Samstag mit Diskussionen über Grundsatzfragen verplempern. Eine Entscheidung, die polarisiert – beim Diskutieren, beim Umtrunk, in der Kaffeepause, beim Mittagessen entstünde der Geist einer Partei, nicht im Kinosessel – kritisierten Sozialisten der alten Schule. Sie sollte transparenter mit Mandatsfragen umgehen und weniger top down vorgehen, lautet eine andere Kritik an ihrem Vorsitz. Das Wort schrieb über den LSAP-Kongress Mitte Juli: „Die in früheren Zeiten äußerst lebhafte Debattenkultur vermisste man, kritische Wortmeldungen sowieso.“ Gelobt wird Francine Closener hingegen für die Umstrukturierung des Generalsekretariats. Sie sei über die Partei hinaus gut vernetzt, unstütze junge Politikerinnen, informiere gezielter über politische Haltungen und habe sich mit kompetenten Personen umgeben. Frühere Regierungskollegen meinen, sie sei „fleißig“. Sie selbst sagt, Freunde würden sie als „zäh“ beschreiben.

Dass Francine Closener heute an der Spitze der Partei steht, war kein Selbstläufer. Ihre politische Karriere war holprig. Etienne Schneider fragte seine Vertrauensperson und Kneipenkumpanin aus seiner Brüsseler Zeit 2013, ob sie daran interessiert sei, in die Regierung einzutreten. Hierfür musste Cécile Hemmen ausgeklammert werden, die gegenüber Closener einen Vorsprung von 611 Stimmen hatte. Doch kaum war sie als Staatssekretärin im Amt, stolperte die politische Quereinsteigerin über die „Dienstwagen-Affäre“. Die Sozialistin fuhr an Weihnachten mit ihrem Dienstwagen in den Urlaub – ob das „normal“ sei, fragte der ADR-Abgeordnete Gast Gibéryen. Die Presse hatte eine erste Beute, um den vermeintlichen Dilettantismus der Dreierkoalition – ein Zusammenschluss mit wenig Regierungserfahrung – vorzuführen. Francine Closener wollte sich auf RTL-Radio rechtfertigen, aber sie kam bei den Hörern überheblich rüber. Otto Normalverbraucher ohne mit Steuergeldern finanzierte Luxuskarossen zürnten. „Danach überlegte ich, das Amt abzugeben.“ Xavier Bettel und Etienne Schneider rieten ihr, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und abzuwarten, bis der Shitstorm sich legt. Beim Neujahrsumtrunk 2014 stand Schneider am Podium und gab ihr öffentlich Rückendeckung, um ihren parteiinternen Tod zu verhindern: „Ich bin sehr froh, dich zu haben, Francine.“ Später mied Closener die politische Frontstellung, ihre Wahlumfragewerte waren und blieben schlecht. Sie brachte ohne besondere öffentliche Aufmerksamkeit ihre Dossiers voran; gelegentlich erledigte sie die Dreckarbeit, der sich Etienne Schneider entledigen wollte.

Das kostete sie 2018 die Wiederwahl. Zunächst arbeitete sie als hohe Beamtin am Nation-Branding-Projekt im Außenministerium; unter ihrer Leitung wurden das Logo und der Slogan Let‘s Make It Happen konzipiert. Als ihr Parteikollege Marc Angel ins Europäische Parlament gewählt wurde, rückte sie in die Kammer nach. „Nodeems ech mer dat puer mol iwwerluecht hat ... eigentlech zimmlech laang iwwerluecht hat. Politik ass schonn ee ganz spezielle Milieu.“ Und sie habe einige negative Erfahrungen in der Politik gemacht. Aber nachdem sie erfuhr, dass sie an bildungspolitischen Dossiers mitwirken kann, stieg sie wieder ins Geschäft ein. Sie bedauert die Bildungsungleichheiten, die durch die Klassenherkunft und den unkonstruktiven Umgang mit Sprachenvielfalt geprägt werden. „Ich hatte mir viel von den staatlich-europäischen Schulen erhofft. Heute bin ich skeptischer. Jede dieser Schulen bekommt ihr Gesetzesprojekt, wo bleibt ein verbindliches nationales Konzept?“ Auch böten die europäischen Schulen keine Berufsausbildung an, und sie sehe nicht, was den Klebstoff zwischen allen Schülern bildet – wird das Luxemburgische als Sprache zur sozialen Kohäsion ausreichend gefördert? Diese Fragen will sie im Oktober in der Chamber diskutieren. Wird die LSAP-Parteipräsidentin dabei auch eigene Akzente und bildungspolitische Ideen in die Debatte einbringen, statt nur Kritik zu üben? Das muss sich noch zeigen.

Francine Closener beschreibt sich als ein spracheninteressiertes „Nesthäkchen“ von drei Geschwistern gewesen. Ihr Abitur hat sie in der Sprachensektion A abgelegt; Goethes Faust fand sie „fantastisch“, auch weil ihr Deutschlehrer am Michel Rodange einem den Stoff nahebringen konnte: „Här Rinnen“ zeigte, dass Goethes Werk in alle Fragen hineinbohrt, die ein Menschenleben betreffen können. Für ihren Sommerurlaub wird sie allerdings den Unterhaltungsroman Eine Frage der Chemie von Bonnie Garmus einpacken. Die Spracheninteressierte zog es nach dem Studium in den Journalismus. „Et war eng aaner Zäit“, erinnert sich Closener an ihre Berufsjahre bei RTL. Es war eine Männerdomäne – sie arbeitete unter Roby Rauchs, Tom Grass und Marc Linster als Radio-Journalistin. Nachdem Marc Linster schwer erkrankte, übernahm sie seinen Chef-Posten. Doch als sie schwanger wurde, wollte RTL-Direktor Alain Berwick nicht, dass sie ihre Position als Chefin im Elternurlaub behalte – und für Closener war es wiederum nicht möglich, unter Guy Kayser – dem neuen Chef – zu arbeiten, „wëll mir waren a ville Saache net der selwechter Meenung“. Deshalb sei sie in den audiovisuellen Bereich gewechselt. Insbesondere was Frauenquoten betrifft, gab es Meinungsverschiedenheiten mit Guy Kayser. „Ich war auch zunächst gegen Quoten, das war damals eine andere Generation.“ Aber dann habe sie sich intensiver mit dem Thema befasst und ihre Meinung geändert. Beim Fernsehen habe sie dann festgestellt: Eigentlich bereitet Radio mehr Freude. „Man kann autonomer und schneller arbeiten.“

Überhaupt war ihre Zeit vor ihrem politischen Mandat vom Journalismus geprägt. Ihr Mann Jay Schiltz war ebenfalls Journalist. Zunächst war er bei RTL-Radio und Tëlee angestellt, wurde 2002 Direktor des Radio 100,7 bis Francine Closener 2013 in die Regierung berufen wurde. Sie zieht gerne Vergleiche zwischen Politik und Journalismus: Wer in diesen Feldern tätig ist, bleibt trotzdem an der Aktualität dran, „fir de Suivi ze maachen“ – auch in seiner freien Zeit. Über ihren Wechsel 2013 sagt sie, man möge denken, wer politischer Journalist ist, hat es leicht, in politische Dynamiken einzusteigen. „Awer Politik ass eng ganz, ganz aner Saach.“ Das aus dem Journalismus kommende Paar erlebte 2020 „eng schwéier Zäit“. Ihr Mann erkrankte an Magen- und Bauchfellkrebs; von der Diagnose bis zu seinem Tod vergingen nur vier Monate. Sie verbrachte viele Stunden mit ihren Kindern (damals zehn und 15 Jahre alt) und ihrem Mann im Spital. Eine Zeit, die in die erste Phase der Pandemie fiel, in der man ohnehin bereits isoliert war. „Die Parteikollegen übernahmen meine politische Arbeit, dafür bin ich ihnen dankbar“, sagt Closener. Etwas nüchtern fügt sie an, wer Kinder hat, müsse zwangsläufig „funktionieren“ und Arbeit allgemein habe ihr geholfen, sich abzulenken. Ist sie unterkühlt? Womöglich will sie vor allem ihr Privatleben nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten. Froh sei sie über den schwarzen Labradoodle, Meilo, der seit 2018 mit der Familie in Capellen lebt. „Er unterstützt uns emotional. Und so seltsam das jetzt klingen mag, über den Hund lernt man neue Leute kennen, also vor allem hundebegeisterte.“ Zum Abschalten gehe sie mit dem Hund spazieren – „so oft wie möglich“. Ins Kino oder ins Theater komme sie nur selten, abends stehen häufig Konferenzen und Einweihungen an.

In manchen Punkten ist sie von der aktuellen Regierung, und insbesondere der CSV, enttäuscht. „Eisen CEO“ Frieden irritiere sie: „Glaubt er wirklich, Klimawandelprobleme würden sich auflösen, weil diese ihn nerven?“ Da wolle die LSAP gegensteuern. Die CSV verstehe nicht, dass das Problem disruptiv für unsere Gesellschaft sei, „so wie auch die Digitalisierung“. Staatsminister Frieden beschränke die Digitalisierungsfrage auf den Ablauf von administrativen Prozeduren, „aber das hat nichts mit dem Wandel von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung zu tun“, moniert Closener. Man assoziiert Francine Closener darüber hinaus mit ihren Überlegungen über einen möglichen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender und rezent mit ihrer Kritik an CSV-Medienministerin Elisabeth Margue, die der Alia eine einzige Kandidatur für den Direktorenposten „pour avis“ vorlegte, statt den Alia-Verwaltungsrat mit in die Rekrutierungsprozedur einzubeziehen. „Ass den CSV-Staat erëm do?“, provozierte sie daraufhin im Radio 100,7. Sie ist nun weit entfernt von ihrem CSV-nahen Elternhaus. Aber weil sie nicht über mühsame Gremienarbeit in die Partei hineinwuchs, sehen manche sie trotzdem weiterhin als Quereinsteigerin, die die sozialistischen Werte nur mangelhaft verkörpere. Sie ihrerseits „hofft, dass die Bürger vor den nächsten Nationalwahlen sehen, dass die LSAP eine bessere Alternative zur aktuellen rechts-liberalen Regierung darstellt“.

Stéphanie Majerus
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