Markus Miessen (*1978) ist Architekt und Professor für Urbane Regeneration an der Universität Luxemburg, wo er den Chair of the City of Esch inne hat. Er promovierte bei Eyal Weizman (Forensic Architecture) am Goldsmiths College, London. In der Vergangenheit lehrte er an der Architectural Association (London), hatte Professuren an der Städelschule (Frankfurt), der University of Southern California (Los Angeles) sowie der HDK-Valand Academy of Art & Design (Göteborg) inne – und war Harvard GSD Fellow (Cambridge). Neben einer Vielzahl von Publikationen ist er Autor der Bücher The Nightmare of Participation (2010) und Crossbenching (2016), die in acht Sprachen übersetzt wurden, und Herausgeber (mit Zoë Ritts) von Para-Platforms (2018). Gemeinsam mit Nikolaus Hirsch (CIVA, Brüssel), gibt er die Buchreihe Critical Spatial Practice heraus. Im Dezember erscheint sein neues Buch Agonistic Assemblies bei Sternberg Press. Eine deutsche Übersetzung erscheint 2024 im Merve Verlag. Als Architekt arbeitet Miessen derzeit gemeinsam mit der Direktorin des NS-Dokumentationzentrum in München an einer Überarbeitung der institutionellen Räume1.
d’Land: „Jeder Depp soll immer und überall mitmachen“, ist deine Definition des „Albtraums Partizipation2 , eines deiner ersten und bekanntesten Bücher, 2010 zuerst auf Englisch bei Sternberg Press erschienen. Dieser Albtraum ist der des allgegenwärtigen Vortäuschens neuer, partizipativer Prozesse und Bürger/innen- oder Kund/innenbeteiligungen. Damals warst du 32 und die Ideologie der Partizipation ein noch relativ neues Phänomen. Seither ist viel passiert, sind die sozialen Netzwerke mit ihren Likes und Smileys dominanter und intrusiver geworden, sind Clickbaits die neuen Umfragen und ist kein Restaurantbesuch oder Termin beim Frisör oder in der Reparaturwerkstatt mehr möglich, ohne nachher um eine Bewertung gebeten zu werden… Ist der Albtraum schlimmer geworden?
Markus Miessen: Das Problem ist, dass in den letzten Jahren viele Politiker und Entwickler, die über Raumproduktion sprechen, verstanden haben, dass man Partizipation als Mittel benutzen kann, um den Anschein zu geben, es handele sich um wirkliche Beteiligung der Bürger. Aber diese pseudo-partizipativen Strategien führen am Ende oft dazu, dass man das Thema abhaken kann – da wurde was organisiert, die Leute wurden eingeladen und konnten temporär daran teilnehmen und dann war es das. Richtige, tiefer gehende Strukturen gibt es ja selten.
Diesen Titel „Albtraum Partizipation“ habe ich damals doppelt gedacht: Zum einen war es eine genervte Reaktion auf das, was politisch und kulturell passiert ist zu der Zeit, als ich das geschrieben habe, dass ich das Phänomen, diese Art Wildwuchs an Strategien absurd fand. Andrerseits bin ich mir tatsächlich nicht sicher, ob Partizipation immer und überall sein muss. Es gibt ja aus gutem Grund Experten – und es gibt schon Möglichkeiten, wie man sich einbringen kann als Bürger. Ich würde mir eigentlich wünschen, dass Bürger – mich selber eingeschlossen – das viel aktiver machten, auch in einem Kontext, in dem man nicht immer unbedingt eingeladen wurde. Für diese Art Partizipation habe ich eine Art Rollen-Modell entworfen, der „uninvited outsider“, also jemand, der nicht faktisch an den großen Tisch der Beteiligung eingeladen wurde, sondern der oder die sich selbst von außen mit einbringt.
In der Kunst waren die Neunzigerjahre geprägt von Nicolas Bourriauds Theorie der „esthétique relationnelle“. Ich fand das damals super interessant, aber dann auf einmal ist das auf die Architektur übergeschwappt und alle haben auf einmal von Partizipation geredet, aber eben eher aus einer fast objekthaften Ästhetik heraus und weniger als zielführenden Prozess. Das wurde so ein Buzzword wie „sustainability“ heute, wo man sehr viel reininterpretieren kann, was aber gleichzeitig auch komplett sinnentleert ist. Aber ehrlich gesagt, hat sich seither in der Partizipation nicht viel getan.
Damals hast Du in London gelebt und studiert…
Genau. Ich war für den zweiten Teil meines Studiums in London, es waren gerade die Heydays von Tony Blair. Labour wurde perfektioniert, es wurden ständig neue partizipative Strukturen geschaffen, wohlwissend, dass diese Strukturen gar nicht wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden können. Im Grunde genommen waren das Abfolgen von Blendgranaten. Es gab da die absurdesten Geschichten, auch innerhalb kultureller Institutionen: Da wurden mit viel Geld Strukturen aufgebaut, von denen eigentlich klar war, dass sie nie wirklich genutzt würden, das hat mich damals wahnsinnig gemacht. Gleichzeitig habe ich gesehen, dass in dem kulturellen Referenzgebiet, in dem ich zu Hause bin, also in der Architektur und Stadtpolitik, es immer mehr Strukturen gibt, die dieses Thema der Partizipation an sich reißen und ausnutzen wollen.
Mittlerweile ist das Thema Bürger/innenbeteiligung in Stadtplanung und Architektur auch in Luxemburg angekommen. Es wird zum Beispiel bei Prozessen der Aufwertung oder Umfunktionierung der Industriebrachen gerne angewendet, etwa in Esch-Schifflingen, wo Bürgerräte einberufen wurden um herauszufinden, welche Nutzungen Sinn machen oder wünschenswert sind.
Ja, in Schifflingen bin ich auch eingeladen worden, es geht Ende September los3. Bei diesem Projekt finde ich aber interessant, dass es über einen längeren Zeitraum läuft und so eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglicht. Konkret kann ich allerdings bisher noch nichts sagen, weil ich noch nicht da war. Aber diese aktivere Partizipationsarbeit ist meiner Meinung nach sehr wichtig. Man soll die Bürger nicht nur an zwei Samstagen einladen, um ein Paar Bildchen anzugucken, etwas dazu zu sagen und das war’s dann, sondern auch aufzeigen was man als Bürgerin oder Bürger für Rollen übernehmen kann. Ganz oft ist das Problem, dass man als Einzelner gar nicht versteht, wieviel „Macht“ man eigentlich hat.
Mein Buch Albtraum Partizipation war damals Teil meiner Doktorarbeit, und die bestand aus vier Büchern: in Did Someone Say Participate? (2006) ging es darum aufzuzeigen, wie dieser Partizipationsdiskurs auf die Architektur übergeschwappt ist, und zwar anhand eines „Atlas of Spatial Practice“. Das zweite Buch ist im Kontext der Lyon-Biennale entstanden, das war 20074, es hieß The Violence of Participation und darin ging es darum, dass Partizipation immer als fast romantischer Prozess umschrieben wird. Aber eigentlich ist sie oft auch physisch, wenn man zum Beispiel an Demonstrationen oder Aufstände denkt. Auch diese Prozesse an sich, wie zum Beispiel die Bürgerräte, sind alles andere als romantisch und friedlich. Es ging mir auch darum, zu zeigen wie Meinungen schnell bastardisiert werden können. Dazu haben wir damals einen Raum gebaut, in dem wir während der Biennale Feldforschung machen konnten. In einem nächsten Schritt wurde dann das Buch Albtraum Partizipation veröffentlicht, das war der Hauptteil des PhD, und – als abschließender Teil der Reihe – Crossbenching. Das ist eigentlich nur ein kleines „Büchlein“, das eine Praxis beschreibt, als tatsächlichen Vorschlag: als Analogie zu den sogenannten „Crossbenchern“ im britischen House of Lords, jener Gruppe von Menschen, die keine politische Bindung haben, die aus manchmal abstrusen Gründen dort sitzen und aber keiner Partei angehören –sie sitzen tatsächlich auch physisch und räumlich quer zwischen den Parteien. Ich fand das damals interessant, weil sie niemand anderes repräsentieren als sich selbst, und das hat mich dazu gebracht darüber nachzudenken, was eine Einzelperson wirklich machen und bewirken kann. Wie kann ich versuchen, aus dieser eher passiven Partizipation etwas Aktives zu machen. Für mich war dann die einzige Möglichkeit, die ich gesehen hab, das „wir“ ins „ich“ zu drehen. Das scheint zuerst komplett absurd zu sein, weil man natürlich immer davon ausgeht, dass Partizipation bedeutet, dass man zwangsläufig Teil eines größeren Konstrukts ist und dafür eingeladen werden muss. Für mich war die Frage: Wie kann man aus dieser ersten Person Plural die erste Person Singular machen? Wie kann man sich als kritische Stimme von außen, also als „uninvited outsider“, einen Weg bahnen in diese Diskurse oder räumlichen oder städtischen Situationen, wenn man entweder nicht gefragt wurde teilzunehmen oder vielleicht auch gar nicht erwünscht ist.
Ganz oft ist Partizipation im Zusammenhang mit Raumplanung oder Urbanismus etwas Ablehnendes, Destruktives gegenüber Bauprojekten – auch bekannt als Nimby-Effekt. Wie kann man das umkehren und die Menschen überzeugen, sich in der Raumplanung einzubringen, wenn es sie nicht sofort betrifft und vielleicht erst einmal utopischer sein soll? Wir sind hier in Belval, einem ganz neuen Stadtviertel, das in den letzten zwanzig Jahren auf Wunsch der Regierung aus dem Boden gewachsen ist. Wie kann man aus den Fehlern, die hier gemacht wurden, lernen und die Einwohner/innen dazu bringen, bei anderen Industriebrachen utopisch mitzudenken?
Ein Problem bei solchen deliberative Räten ist, dass man immer davon ausgeht, Partizipation sei umsonst. Oft wird zum Beispiel auf eingeladene Formate zurückgegriffen. Wenn man die, beispielsweise, auf zwei Samstage festlegt, dann kommen die Leute im Zweifelsfalle hin, geben einen Großteil ihrer wöchentlichen Freizeit dafür auf, schauen sich die Sachen an, haben eine Meinung oder nicht und äußern die oder äußern die nicht. Aber sie sind dann oft nicht gewillt, langfristig dranzubleiben, weil es natürlich wahnsinnig zeitaufwendig ist und das ganze auch, oft genau aus diesem Grund, so angelegt wurde. Soll heißen: Partizipation wird systemisch vorgeschlagen aber von Anfang an ad absurdum geführt. Es kommt ja gar nicht erst dazu. Was ich interessant finde bei den Modellen der Bürger-Räte oder der deliberativen Parlamente, ist die Idee, die Zeitinvestition der Leute ernst zu nehmen, als Arbeit anzusehen und entsprechend der Zeit, die aufgewendet wird, zu vergüten. Das ist dann natürlich eine ganz andere Situation, weil die Leute sich wirklich produktiv einbringen können. Wir arbeiten zum Beispiel mit Claudia Chwalisz und James Macdonald-Nelson von DemocracyNext5, die arbeiten ganz stark in diese Richtung, die wollen wir auf jeden Fall nach Luxemburg bringen. Ich sehe meine Rolle darin solche Prozesse zu ermöglichen, einen Raum des Austauschs und der Einflussnahme herzustellen, der über das rein repräsentative hinausgeht.
Seit 2021 bist Du Professor of Urban Regeneration und als Chair of the City of Esch an der Universität Luxemburg, der am Fachbereich Geographie und Stadtplanung sowie am Master für Architektur angedockt ist. Der Lehrstuhl wird, teilweise, finanziert von der Stadt Esch, Du betreibst darin Forschung und Lehre, sowie eben ein Experiment der Partizipation, mit dem Projekt „The Esch Clinics / Cultures of Assembly“, einem physischen Raum in der Brillstraße in Esch. Was sind die Ausrichtung und das Objektiv dieses Lehrstuhls?
Die Frage muss man vielleicht zweiteilen oder ich muss zweigleisig antworten. Denn einerseits gibt es die Mission und andererseits das, was wir jetzt wirklich machen oder was mein Interesse ist. Die ursprüngliche Mission der Uni war es, das Programm dieses Lehrstuhls – den es bereits vor mir gab – zu erweitern und eine stärkere sozial-ökologische und politische Komponente in die Themen der urbanen Regeneration miteinzubringen. Das stand klar in der Ausschreibung und das fand ich damals super , weil das genau das ist, was mich interessiert. An den vorherigen Positionen, die ich hatte, habe ich auch immer in diese Richtung gearbeitet: an der Städelschule in Frankfurt, an der University of Southern California in L.A. und dann später auch an der Academy of Design in Göteborg, Schweden. Ich habe es aber tatsächlich nie geschafft, meinen Wunsch nach einem Raum in der Stadt zu verwirklichen, einer Schnittstelle mit der Öffentlichkeit und lokalen Communities.
In der Vergangenheit habe ich ständig wiederholt: Wir brauchen so einen Raum. Die Arbeit mit den Communities interessiert mich sehr, und die Frage, wie man es schafft, Stadtplanung aus dem Inneren zu denken und über Räume Communities abzubilden und zu generieren. In der damaligen Ausschreibung der Universität Luxemburg sollte man sich schon mit einer konkreten Idee bewerben. Ich kannte Esch ja gar nicht zu der Zeit, ich war zwar zweimal auf Belval gewesen, einmal für einen Vortrag auf Einladung meines geschätzten Kollegen, des Architekturprofessors Florian Hertweck, und einmal für eine Jury – aber ich war noch nie in der Stadt. Da merkt man ja schon das Problem. Dann habe ich mich, nachdem ich die Ausschreibung gesehen habe, ins Auto gesetzt und bin hergefahren und habe es mir angeguckt. Und dann fand ich die Stadt unglaublich interessant, weil sie mich sehr an Glasgow in den Neunzigern erinnert hat, als ich da an der School of Art studiert habe: das war damals für diese Stadt eine sehr schwierige Zeit und es gab einen ähnlichen Transformationsprozess wie hier in Esch, nämlich von der Schwerindustrie hin zu Service und Knowledge.
Auch wenn die Größenverhältnisse anders sind, finde ich es trotzdem interessant einen Vergleich zu ziehen zwischen Glasgow/Edinburgh und Esch/Luxemburg-Stadt. Weil die größere Stadt jeweils versucht, dieses Postkartenimage von der perfekten Stadt abzugeben, alles schön sauber geputzt und attraktiv für Touristen, und die andere ist halt eher so auf „dirty realism“.
Also habe ich in meinem Vorschlag für den Lehrstuhl gleich diesen Anspruch angekündigt, dass ich in diese Richtung forschen und ganz stark auch die soziale Komponente der Stadt mit in Angriff nehmen wollte, und dass wir dafür die entrückte Enklave in Belval verlassen müssten und einen Satelliten brauchten. Die Jury fand das damals super interessant und als ich dann den Job bekommen habe, war ich höchst motiviert und habe mich gleich auf Raumsuche begeben. Ich kam relativ schnell auf einige wirklich gute Räume, von denen lustigerweise zwei der Stadt gehörten. Der Raum – den wir nach längeren, wenn auch minimalen Umbauarbeiten, die auf der Basis unserer Vorschläge und Zeichnungen gemacht wurden, beziehen konnten – hat wohl früher einen Handyladen beherbergt, darüber sind kleine Wohnungen für Doktoranden. Seit Ende Februar ist die Adresse auf der Nummer 24 der Brillstraße unter dem Namen „Cultures of Assembly“ unser Hub in der Stadt.
Kommen die Nachbarn und die Einwohner/innen aus dem Brillviertel denn auch rein?
Sie nutzen es, ja. Ich finde sogar, es gibt ziemlich viel Austausch, davon der meiste während des Tages. Bei den offiziellen Veranstaltungen, wie zum Beispiel den Vorlesungen, kommen auch viele Escher, aber eher konkret inhaltlich motiviert, als direkt von der Straße. Diesen Raum gibt es jetzt und er wird bespielt. Dafür gibt es verschiedene Formate, die wir langfristig pushen wollen. Bisher war alles, was da stattgefunden hat, eigentlich zu 100 Prozent von mir und meinem Team kuratiert. In der langfristigen Perspektive wollen wir einen dreigleisigen Ansatz fahren: Full Control, Medium Control, No Control. Das bedeutet bei Full Control, dass wir kuratierten wie bisher. Dann gibt es aber auch Zeiten oder Projektphasen, wo es lediglich Medium Control gibt, das bedeutet, dass wir Leute einladen, die dann wiederum ihr eigenes Programm mit reinbringen – also, dass wir ihnen eine Plattform geben. Die Idee ist grundsätzlich, dass wir diesen physischen Raum als Plattform in der Stadt haben und zusätzlich eine virtuelle Plattform culturesofassembly.org, wo wir ein Podcast-Format und Archiv anbieten, das jetzt sukzessive ausgebaut wird, auch mit Oral Histories. Beim Modell No Control werden wir Open Calls anbieten, über die sich Bürgerinnen und Bürger mit konkreten Ideen hinsichtlich temporärer Formate bewerben können. Die Idee dabei ist, dass man versucht, die Stadt realer und in ihrer ganzen Heterogenität abzubilden als mit unseren typischen akademischen Veranstaltungen. Wir haben zum Beispiel ab dem Herbst auch regelmäßig kollektive Musikproben im Raum, eine Idee des Soziologieprofessors Boris Traue. Wir arbeiten aber auch daran, dass die Stadtplanungskommission in regelmäßigen Abständen ihre Sitzungen bei uns abhält, damit wir uns diesbezüglich einbringen und gleichzeitig von den Erfahrungen ihrer Mitglieder lernen können.
Daneben haben wir unsere eigenen Projekte, wie zum Beispiel die Esch Clinics, für die wir eine große Bewerbung für Finanzierung beim FNR am laufen haben. Wenn das durchkommt, können wir das vierjährige Forschungsprojekt richtig anstoßen, auch mit guter Beteiligung von außen, national und international, wo wir dann auch auf konkrete Ergebnisse und Produkte hinarbeiten: es wird verschiedenste öffentliche Formate geben, wir bauen ein best practice-Archiv auf, wir werden eine Ausstellung dazu machen, und das Endprodukt des ganzen Forschungsprojektes wäre ein Katalog von urban „policy suggestions“, sowohl für Esch wie national.
Die große Frage, die sich bei partizipativen Formaten immer stellt, ist die des outcome: wo führen militante Bürgerbewegungen hin? Du sprichst in deinem Buch von Occupy Wallstreet 2011 in New York, das gleiche gilt für Nuit debout 2016 in Paris oder die Fridays for Future ab 2018 überall auf der Welt: das findet eine Zeitlang statt, die Medien berichten – und dann ist es auf einmal einfach vorbei. Also die Frage ist immer: Wozu führt das, was sind die realen Konsequenzen?
Das ist eigentlich genau das, was wir am Anfang besprochen haben: Für die Art von Partizipation, die am Ende produktiv sein und irgendein Resultat haben soll, braucht man einen wahnsinnig langen Atem. Wir haben ja eigentlich alle schon genug Themen, um unseren Alltag irgendwie zu bewältigen. Deshalb finde ich den Ansatz von DemocracyNext so wahnsinnig interessant: Man gibt Leuten die Chance, eine Plattform zu nutzen, und bezahlt sie aber gleichzeitig auch für ihre und diese Arbeit. Das ideale Modell wäre vergleichbar dem des Schöffen in Deutschland. Das ist etwas anderes als hier in Luxemburg: In Deutschland ist ein Schöffe eine aus der Öffentlichkeit ausgewählte Person, die sich vor Gericht hinsichtlich der Entscheidungsfindung miteinbringt. Sie können sich entweder selber, proaktiv vorschlagen oder werden, wenn sich auf diese Weise nicht genug Schöffen finden lassen, nach einem randomisierten Losverfahren gezogen. Ihr Zeitaufwand wird vergütet, und es gibt eine Entschädigung für ihren Verdienstausfall. Ihre Amtsperiode beträgt 5 Kalenderjahre. Der Arbeitgeber muss dir diese Zeit geben. Und diese Zeit, was auch sehr wichtig ist, wird nicht aus deiner Freizeit herausgezogen, sondern es handelt sich um eine Art replacement activity Das finde ich schon ziemlich interessant, muss ich sagen.
Aber das klingt schon sehr utopisch oder idealistisch, weil Raumgestaltung unterliegt einfach auch wirtschaftlichen Faktoren, besonders in Luxemburg derzeit: Also wem gehört das Bauland und wer hat das Geld, dieses Land nicht nur zu erwerben, sondern auch zu bebauen? Und was ist seine Macht gegenüber der Politik?
Ja, das stimmt natürlich. Aber Politik kann die Rahmenbedingungen gestalten – auch wenn meiner Meinung nach in dem Bereich noch wesentlich Luft nach oben besteht. Wenn du dir zum Thema Wohnungsbau das herausragendste Beispiel, Wien, anschaust, wie das historisch gelöst wurde und wo die Stadt sich sehr stark eingebracht hat: da gibt es sehr viel geförderten Wohnungsbau und das Thema ist ein explizit öffentliches. Aber hier ist dieser Bereich mehr oder weniger in privater Hand, das ist natürlich schon was anderes. Gleichzeitig hat man das Gefühl, dass viel hinter vorgehaltener Hand besprochen wird und es keine wirklich öffentliche Debatte zum Thema gibt. Céline Zimmer, die als Doktorandin mit meinem Kollegen Florian Hertweck arbeitet, verteidigt dazu im Dezember ihre Doktorarbeit. Das wird für den Luxemburger Kontext noch sehr interessant. Ich finde es ehrlich gesagt schwierig, wenn Meinungsmacher immer gleich von Utopien und Idealismus sprechen, wenn man versucht eine IST-Situation zu ändern. Veränderungen finden oft dann statt, wenn man mit Krisen umgehen muss. Und wir befinden uns in multiplen Krisen, auch in Luxemburg. Also packen wir’s an!
Zu wissen, wer Markus Miessen ist und was du sonst noch machst, das ist ziemlich schwierig: du bist auch selbst Architekt, machst Ausstellungsdesign und schreibst permanent Bücher. Man hat das Gefühl, dass du auf der einen Seite einem unbändigen Drang hast, zu „machen“ und andererseits diese Sachen festzuhalten in Büchern…
Ich habe mich schon relativ früh fürs Schreiben interessiert, seit der Abitur-Zeit, mit Schülerzeitungen und anderen Formaten der subkulturellen Kommentierung. Aber eigentlich hat es so richtig begonnen während des Studiums in Glasgow, vor allem dann aber in London an der AA, wo ich einen tollen Mentor hatte, Paul Davies, der sich sein Leben lang mit der dirty reality von Las Vegas beschäftigt hat. Nicht dem repräsentativen Bild, sondern dem IST-Zustand. Es ging ihm kaum um Architektur, sondern um das informelle Leben, die Back-Alleys, die Strip-Clubs, die Cafés an den Tankstellen, wo man sich abends auf ein Bier trifft. Er und seine Frau haben eine absolute Las-Vegas-Obsession und haben über 30 Jahre lang Feldforschung betrieben, auch mit Studierenden. Das hat mich total fasziniert, auch wie er schreibt und wie er einen in eine Situation hineinzieht. Mich hat das akademische Schreiben immer genervt, ich finde es super hermetisch und weder einladend noch produktiv. Das typische Problem ist, dass Leute jahrelang an ihrer Doktorarbeit schreiben, und am Ende lesen das fünf Leute aus der Bubble, davon waren drei die Prüfer. Was mich immer interessiert, ist es hinzubekommen, so zu schreiben, dass es verständlich bleibt – vielleicht nicht journalistisch, aber narrativ, fast archivarisch, aber propositional und mit einer klaren politischen Message.
…dein Stil ist für mich eher popkulturell…
Es gibt auf jeden Fall thematisch immer einen roten Faden. Ab 2002-2003 habe ich ernsthaft veröffentlicht, in Tageszeitungen oder Architekturzeitschriften. Da habe ich immer geschaut, wenn mich etwas interessiert, welches Medium ist dann die ideale Plattform, um darüber zu schreiben, und zwar so, dass es Leute und auch Entscheidungsträger erreicht. Ich habe immer versucht, so zu schreiben und auch an „Orten“ zu schreiben, wo dadurch ein breiterer Diskurs entstehen kann.
Außer bei den contributions, wenn ich eingeladen wurde, für die Bücher anderer zu schreiben, habe ich mich bei meinen eigenen Büchern immer auf die beiden Themenstränge fokussiert: das eine ist das Thema der Partizipation, und dann, besonders seit dem Harvard fellowship 2010, auf das Assembly-Thema, was natürlich eng mit Fragen hinsichtlich der Partizipation verwoben ist. Parallel dazu habe ich vor zehn Jahren, zusammen mit Nikolaus Hirsch, die Reihe Critical Spatial Practice gestartet, auch bei Sternberg Press6, die eine Art Langzeitausstellung aus kuratierten Büchern geworden ist und noch einige Zeit weiterlaufen wird.
Du bist auch ein Netzwerker: Seit 20 Jahren entwickelst du Netzwerke, entwickelst nicht nur mit Architekten, sondern auch und besonders mit Künstler/innen, Kuratoren, Politikern, allen möglichen Berufen und Hintergründen…
Es hat mich, ehrlich gesagt, immer mehr interessiert, wie Leute, die nicht aus der Architektur kommen, über Raum denken – weil klassische Architekten natürlich immer mit dem Dilemma umgehen müssen, dass sie von ihren Geldgebern abhängen. Die meisten Architekturstudiumsabsolvierenden arbeiten am Ende in Architekturbüros. Und da bleibt oft nur Zeit für die Architektur mit dem großem A, und eine die grundsätzlichere aber gleichzeitig auch tiefergehendere Auseinandersetzung mit Räumen und deren Kulturen bleibt auf der Strecke. Ich meine das gar nicht böse, denn fairerweise muss man sagen: Wenn man in einem großen Büro arbeitet, geht es einfach knallhart darum, Genehmigung fertig zu machen, die ganzen Zeichnungen rauszuhauen und dann auf der Baustelle zu jonglieren. Und natürlich schafft man auch so eine Realität. Ich finde es nur wichtig, dass es einen Austausch mit denen gibt, die es von außen betrachten und dass diese Betrachtungen mit in die aktive und physischen Raumproduktion einbezogen werden.
Architektur lediglich als Gestaltung und Produktion von physischem Raum zu verstehen hat mich schon während des Studiums ziemlich frustriert. Ich habe damals in Glasgow angefangen, ein Netzwerk zu anderen Künstlern und politisch aktiven Bürgern und Organisationen aufzubauen. Mein erstes Buch habe ich dann 2002 mit Kenny Cupers geschrieben. Es heißt Spaces of Uncertainty7, und auch hier bestand die Keimzelle aus dieser Frustration. Wir haben uns 2000 in Berlin kennengelernt, haben kurz zusammen in einem Büro ein Praktikum gemacht, doch wir fanden das so frustrierend, dass wir beide gleichzeitig aufgehört haben und uns lieber mit Berlin als Stadt und ihrer marginalen Kulturen beschäftigten. Da war Berlin natürlich noch eine andere Stadt und es gab wahnsinnig viele Brachflächen. Da haben wir lange Radtouren gemacht, viel fotografiert und angefangen, dazu zu schreiben.
Das ist eigentlich nach wie vor das, was mich am meisten interessiert an Stadt: dieses Archivarische, was natürlich wahnsinnig romantisch und manchmal auch ein bisschen verklärt klingt. Aber man muss erstmal so arbeiten, um den Kontext zu verstehen und daraus Schlüsse zu ziehen, wie man in Zukunft mit Flächen oder Orten oder Communities umgehen kann, wie bestimmte Kulturen gepflegt werden müssen oder man sich vielleicht von manchen Themen und Situationen, auch unter Schmerzen, verabschieden muss. Das erlaubt mir, dieser Lehrstuhl hier zu machen, und darüber bin ich sehr glücklich.