Annekathrin Kohout (*1989) ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin und schreibt als freie Autorin über Popkultur. Wolfgang Ullrich (*1967) ist Kunstwissenschaftler und freier Autor unter anderem mehrerer Bücher über zeitgenössische Kunst. Gemeinsam geben sie seit 2019 die Buchreihe „Digitale Bildkulturen“ im Verlag Klaus Wagenbach heraus: 80 Seiten dünne bebilderte Bände, jeweils vier pro Jahr, setzen sich mit Phänomenen der neuen Medien auseinander, ob Selfies, Memes, Gifs oder Emojis, Bildzensur, Bildproteste oder Screenshots. Das Land hat mit ihnen über Neugier, Bild-Analphabetismus und die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen der sozialen Netzwerke gesprochen.
d’Land: Kunstlehrer/innen beklagen regelmäßig, es werde zunehmend schwerer, sich mit Schüler/innen klassische Kunst in Museen anzuschauen, weil die jungen Menschen in einer säkularisierten Gesellschaft die Codes nicht mehr haben, um die Bilder zu entschlüsseln. Wie sollen sie Jesus auf einem Esel erkennen, wenn sie die Bibel nicht kennen? Sie nennen das dann „Bild-Analphabetismus“. Beim Lesen verschiedener Bände eurer Serie über „digitale Bildkulturen“ dachte ich, dass ihr damit ja eigentlich auch versucht, einem Bild-Analphabetismus entgegenzuwirken, indem ihr Codes vermittelt, um Bilder zu entschlüsseln – nur eben für die Kunst von heute und morgen. Könnte man die Ambition dieser Serie so beschreiben?
Annekathrin Kohout: Ja und nein. Kunsthistorische Referenzen spielen in der digitalen Kultur durchaus eine Rolle. Man kann die Diagnose stellen, dass das Wissen darum verloren geht, aber andererseits auch, dass das Wissen permanent zugänglich ist. Man hat eine Referenz auch schnell entschlüsselt im Digitalen, indem man zum Beispiel einfach das Bild schnell bei Google-Bildersuche eingibt und sich Herkunft und Kontext anzeigen lässt. In der Meme-Kultur wird genau das immer gemacht, werden Bilder aufgegriffen und in andere ästhetische Konstellationen eingebunden. Also ich würde eher sagen, es gibt hier eine Gleichzeitigkeit verschiedener Bild-Traditionen, aus der Geschichte und aus der Gegenwart. Man hat nicht mehr nur ein lineares Denken, was die Geschichte betrifft, sondern eher ein motivisches. Aber es ist uns definitiv ein Anliegen gewesen, eine gewisse Medien-Kenntnis zu vermitteln und zu zeigen, dass in den Sozialen Medien neue Bild-Typen, Verwendungsweisen oder Kontexte entstanden sind, die nicht vergleichbar sind mit einem Pressefoto aus der vordigitalen Zeit oder einem Gemälde in der Salonmalerei, und dass dies neue Arten der Rezeption erforderlich macht.
Wolfgang Ullrich: Klar mag es unter den Digital Natives Leute geben, die Jesus nicht mehr als Jesus auf einem Bild erkennen, aber dann spüren sie vielleicht die Pathos-Formel, die diesem Bild zugrunde liegt, und sie sehen plötzlich Ähnlichkeiten zwischen einer mittelalterlichen Jesus-Darstellung und irgendeinem Film-Still eines Hollywoodfilms und basteln daraus ein tolles Meme, das sie dann auf ein ganz konkretes Thema anwenden. Aus der Sicht der Digital Natives ist es umgekehrt ein Analphabetismus, wenn die Bildungsbürger/innen das Meme nicht kapieren. Den Vorwurf kann man also wechselseitig machen. Und so könnte man die Ambitionen unserer Reihe erklären: Wir wollen diese beiden, oft auch von Unverständnis voneinander geprägten Gruppen zusammenführen, den Bildungsbürger/innen die Chance geben, sich dieses neue Wissen anzueignen, den ersten negativen Affekt zu überwinden gegenüber digitalen Bild-Phänomenen wie Memes und Gifs und Selfies. Und umgekehrt wollen wir den Digital Natives die Chance geben, das, was sie machen, kulturhistorisch zu verorten und dem noch einen anderen Tiefenraum zu geben.
Im September erscheinen zwei neue Bände: KI-Kunst (Merzmensch) und TikTok (Isabell Otto) – dann sind es zwanzig. Mich hat frappiert, dass alle Autor/innen eine sehr positive Grundeinstellung gegenüber den verschiedenen Phänomenen haben und versuchen, deren Beschreibung sehr positiv anzugehen und mit Neugier Recherchen darüber zu machen.
AK: Genau: „mit Neugier“ – darauf liegt definitiv die Betonung. Ich würde schon sagen, dass das programmatisch ist bei uns, dass wir versuchen, nicht kulturpessimistisch zu argumentieren. Deshalb wählen wir oft Autore/innen aus, die den digitalen Phänomenen nicht per se mit einer ablehnenden Haltung gegenübertreten, sondern offen sind und sie ernstnehmen. Manche, die eine kapitalismuskritische oder generell kulturpessimistische Position haben, neigen zu der Ansicht, man darf das alles gar nicht erst anfangen, ernst zu nehmen, dass das keine Themen sind, mit denen man sich ausführlich beschäftigen sollte. Aber natürlich müssen wir uns den tiefgreifenden und folgenreichen neuen oder modifizierten Kulturtechniken unserer Gegenwart stellen. Trotzdem wollen wir auch immer die kritischen Dimensionen ansprechen, darauf hinweisen und dafür sensibilisieren.
WU: Und wir haben ja auch einige Bände, wie etwa den über Gesichtserkennung oder den über Bildzensur, in denen sehr klar Kritik geübt wird an den Praktiken großer Social-Media-Plattformen oder anderer Unternehmen, die mit Daten umgehen und das sehr intransparent tun, und wo sich dann immer wieder auch die Frage stellt: Ist das überhaupt auf Dauer akzeptabel in demokratischen Rechtsstaaten, dass hier private Unternehmen so eine unglaubliche Macht kriegen und mit Algorithmen, mit Regeln arbeiten können, die in der Öffentlichkeit gar nicht wirklich transparent sind? So wollen wir auch das Bewusstsein schärfen für die Praktiken, mit denen User/innen der sozialen Medien unbedacht Daten abgeben. Das ist eine andere Art von Analphabetismus, bezogen auf diese komplexen Datenereignisse, die Bilder heute sind. Sie umfassen ja viel mehr Daten als das, was man sieht. Viele Leser/innen sagen uns, dass sie überrascht, aber auch sehr dankbar sind, etwas mehr darüber zu erfahren.
Die Berliner Wochenzeitung Freitag hatte dem ersten Band über Selfies 2019 einen „naiven Fortschrittsglauben“ bescheinigt, aber das hat sich mittlerweile geändert...
WU: Das war schon programmatisch, dass wir erst mal nicht in das Untergangslamento einstimmen, sondern alle Themen erst mal ernst nehmen wollten. Nächstes Jahr erscheint etwa sogar ein Band über Cat Content, aber auch da wird der größere kulturhistorische Zusammenhang geliefert. Über die Rolle von Tiermalerei im 19. Jahrhundert zum Beispiel. Und es geht um die Entlastungsfunktion, die Bilder auch haben. Warum sind niedliche Katzen so beliebt, gerade in Zeiten, wo die sozialen Medien sonst geflutet sind mit Krisenberichten und Problemen und Hate Speech? Wir wollen immer ein differenzierteres Bild anbieten.
Offensichtlich war die Ursprungsidee eine ästhetische Auseinandersetzung, aber die politischen, wirtschaftlichen und soziologischen Aspekte dieser Phänomene kann man ja nicht auslassen.
AK: Wir sind beide Bildwissenschaftler/innen, und deshalb kommen wir erst mal mit kunsthistorisch-ästhetischen Fragestellungen und betrachten diese Bilder auch aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive. Nichtsdestotrotz sind sie nicht unabhängig von wirtschaftlichen und ökonomischen Kontexten. Natürlich können wir über Cat Content schreiben und nachdenken, aber man muss die Plattformen benennen, auf denen diese Bilder publiziert und vertrieben werden, welche Konsequenzen das hat und zu welchen Mitteln und Zwecken sie eingesetzt werden, für Werbung oder andere manipulative Mechanismen. Es geht darum, beides in den Blick zu nehmen und in allen Dimensionen analytisch zu betrachten, die Eingebundenheit und die Abhängigkeiten, aber auch die produktiven Kulturtechniken, die damit verbunden sind und vielleicht neu entstehen.
WU: Stimmt! Am Anfang sind wir stärker von Bildtypen ausgegangen: Modebilder, Bodybilder, Hassbilder… Aber dann haben wir gemerkt, dass es auch übergreifende Themen gibt, Filter zum Beispiel oder die Frage nach dem Copyright, ein total wichtiges Thema. Gerade in diesen Bänden kommen kritische Fragen noch mal stärker zur Geltung.
Dank ihrer globalen Verstrickung gibt es auch eine neue Militanz in den sozialen Netzwerken, die neue Gruppen und Zusammenschlüsse hat entstehen lassen, wie Netz-Feminismus (Annekathrin Kohout, 2019) oder politische Militanz wie den Arabischen Frühling, wo auch neue Solidaritäten entstehen.
AK: Interessant ist ja zu analysieren, welche neue Öffentlichkeit durch die sozialen Medien entstanden ist und wie diese neue Öffentlichkeit funktioniert, in der mehr Menschen als je zuvor die eigene Stimme erheben können. Es gibt heute nicht mehr eine publizistische Öffentlichkeit, wo es „Sender“ gibt, die Inhalte für „Empfänger“ produzieren, also für passive Konsument/innen, sondern es gab eine Aufhebung dieses klassischen Modells – mit allen Vor- und Nachteilen.
Die Vorteile sind ganz sicher, dass man neue Stimmen hört, dass man andere in einer ähnlichen Situation sieht wie man selbst und sich mit ihnen vernetzen kann. Man kann sich identifizieren und vielleicht sogar ein gemeinsames Anliegen formulieren und damit diese Öffentlichkeit für sich selber produktiv werden lassen. Das ist eine neue Form von Aktivismus. Ob das im politischen Bereich ist, im Feminismus oder Antirassismus – dort entstehen Gruppen, die allerdings Gefahr laufen, zur „Filter Bubble“ zu werden, wo man nur noch von Gleichgesinnten umgeben ist und deswegen eine Art eigene Realität kreiert. Aber gleichzeitig überschreitet man auch ständig diese „Filter Bubble“, und dann kommt es zu größeren gesellschaftlichen Konflikten. Das ist dann das, was wir Polarisierung nennen oder als solche empfinden: Wenn bestimmte Narrationen aus der eigenen Community heraustreten und auf die Öffentlichkeit der sozialen Medien treffen, die damit so gar nichts anfangen kann oder sich eben sogar provoziert fühlt. Ganz sicher handelt es sich dabei besonders um ein Adressatenproblem: Man fühlt sich immer angesprochen, weil alles auf den eigenen Feed kommt, aber meistens ist man gar nicht angesprochen.
Beim Scrollen der Plattformen sieht man jede Minute tausende neuer, oft ziemlich beliebiger Bilder. Das „Ikonische“ bekannter Bilder scheint verloren – ich denke an Fotos von großen Pressefotograf/innen bei der Befreiung von Paris oder Berlin, die wurden zu Referenzen für einen historischen Moment. In der aktuellen Schwarmlogik, wo jede/r immer und überall unscharfe und schnell geknipste Fotos veröffentlicht: Welche Bilder werden bleiben?
WU: Dass es gerade in der großen Zeit des Fotojournalismus so was wie Bild-Ikonen gab, hatte zum Teil auch mit den Infrastrukturen zu tun: Es gab wenige Orte, an denen diese Bilder publiziert wurden, oder es musste oft schnell gehen, und deshalb wurde immer wieder auf dieselben Bilder zurückgegriffen. So haben sich bestimmte Bilder eingeprägt, sind immer und immer wieder gedruckt worden. Heute haben wir ganz andere Infrastrukturen und es gibt sehr viel mehr Bilder, sehr viel mehr Orte, wo die Bilder auftauchen können. Deshalb ist es vielleicht erstmal schwerer, dass ein Bild zu einer Ikone wird, oder ein Bild braucht andere Eigenschaften, um ikonisch zu werden. So muss es sich heute ganz unterschiedlichen Kontexten anpassen oder mit immer anderen Bedeutungen versehen werden können.
Ein Bild sollte heute nicht schon selber so eine starke Bedeutung haben wie das Napalm-Mädchen im Vietnamkrieg (Nick Ut/AP, DPA: The Terror of War, 1972; Anm. d. Red.). Das war eine Ikone, keine Frage, aber in der digitalen Welt würde es wahrscheinlich keine Ikone mehr werden. Einerseits weil es gegen bestimmte Richtlinien verstößt, zum Beispiel, dass man keine nackten Kinder in den sozialen Medien zeigen darf – und erst recht nicht in einer für sie entwürdigenden Situation. Und andererseits ist dieses Bild so stark determiniert durch seinen Inhalt, dass man es eigentlich nicht zu einem Meme machen oder in ganz andere Kontexte setzen kann. Dagegen wird irgendein Stockfoto wie das des Distracted Boyfriend, das an sich ein völlig harmloses Bild ist, jetzt zur Ikone, weil man tausend Alltagssituationen damit assoziieren und dieses Bild immer noch mal neu variieren kann.
AK: Wenn man die Ikone als Einzelbild definiert, als das eine Bild, das sich von allen anderen unterscheidet, dann würde ich auch sagen, gibt es in diesem Sinne keine großen Ikonen mehr. Aber moderne Ikonen sind eben Bilder, die besonders anschlussfähig sind, besonders gut variierbar oder „Meme-fizierbar“. Der Bildtypus des Memes steht für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit einem politischen Thema. Aber es gibt auch viele davon, die einfach nur negative Ikonen sind, sich über jemanden lustig machen oder Personen anprangern, und trotzdem sehr populär werden.
Vielleicht wird sich auch erst mit der Zeit herauskristallisieren, was bleibt im Universum der Netzwerke, in dem vieles extrem kurzlebig ist... Ich komme aus dem Journalismus, habe das über 25 Jahre lang gemacht, und uns wurde schon an der Uni eingebläut, dass die objektive Distanz oberstes Gebot sein muss. Die Bilder in sozialen Netzwerken sind allerdings das Gegenteil: Es sind subjektive Bilder von User/innen, die sich über etwas aufregen oder uns an ihrem Leben teilnehmen lassen, das sie mit viel Emotionen unmittelbar zeigen – ich denke zum Beispiel an die Bilder über das Feuer in Hawaii oder die Waldbrände in Kanada vor Kurzem. Was sagt uns diese Subjektivität über unsere Zeit?
WU: Die Objektivität ist ja generell eine Kategorie, die nicht mehr diesen Stellenwert hat. Im aktuellen autofiktionalen Schreiben oder bei vielen identitätspolitischen Debatten geht es immer auch um die Frage: Wer sagt etwas oder wer kommuniziert etwas oder eben wer macht oder postet ein Bild? Diese Information gehört dann dazu und man erklärt Objektivität vielleicht auch zur Fiktion.
Der Eindruck von Objektivität konnte nur entstehen, so lange es auch eine sehr homogene Gesellschaft gab, ja solange diejenigen, die aktiv an dieser Gesellschaft mitgewirkt haben, alle relativ ähnlich waren. So konnte der Eindruck entstehen, eigentlich würden alle ungefähr dasselbe sehen oder fühlen, es gebe also sowas wie Objektivität. In einer pluralen Gesellschaft oder in einer Welt, in der sehr viel mehr Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenswelten sich gleichartig artikulieren können, ist von vornherein klar, dass man sich nicht auf eine Einschätzung oder einen Blick auf ein Phänomen einigen kann. Diese Pluralität ist immer da, aber es ist wichtig, dass man möglichst genau weiß, wer welchen Beitrag leistet und aus welcher Sicht etwas gesprochen oder gezeigt wird. Und genau das passiert in sozialen Medien exemplarisch und wirkt längst zurück auf den herkömmlichen Journalismus, der auch sehr viel stärker autofiktional ist, als das noch vor 20 Jahren der Fall war.
AK: Ganz oft dient die Subjektivität eigentlich der Herstellung von Objektivität, weil sie die eigene Sprecher/innenposition überhaupt erst bewusst macht. Das kann manchmal gelingen und manchmal nicht. Ich würde das nicht ausschließlich ins Positive wenden, denn es kann auch dazu führen, dass man in seiner eigenen Subjektivität komplett ausblendet, was es für andere Realitäten oder Identitäten gibt. Aber es gibt durchaus viele Nutzer/innen im Netz, die die Subjektivität nutzen, um die eigene Position zu erklären, und dann aus dieser Position heraus objektive Vermittlungsarbeit leisten, mit Quellen und Literatur arbeiten, also Autorität auf eine ähnliche Weise herstellen, wie das im Journalismus der Fall ist. Damit meine ich natürlich nicht die Influencerin, die uns durch ihren Alltag begleitet und Werbung für Lifestyle-Produkte macht, sondern eher politisch aktive Schreiber/innen oder Poster/innen.
Dadurch wird die Diversität der Gesellschaft auch immer sichtbarer: Die, die früher gesprochen haben, waren meist gesunde weiße Männer, doch heute ergreifen vermehrt Frauen das Wort, oder Menschen, die auf irgendeine Weise gefordert sind – die vielleicht Migrationshintergrund haben oder eine Behinderung, oder aus sozial schwachen Schichten stammen.
AK: Genau. Und sie haben ja meist eine andere Realität als eine weiße, privilegierte, westliche Person. Ihre Aussagen und Postings wirken vielleicht auf den ersten Blick für uns subjektiv, aber es ist vielleicht einfach nur eine andere Objektivität, oder?
Führt die Vermehrung der Blickwinkel auch zu einer größeren Demokratisierung, wenn sich mehr und verschiedenartigere Menschen in öffentliche Debatten einbringen?
AK: Ja und nein, würde ich da sagen. Einerseits wirkt es erst mal so, als könnte jede und jeder sprechen und hätte alle Möglichkeiten zur Verfügung. Aber weil man die Stimme in den sozialen Medien erhebt, gibt es keine Garantie, dass man auch damit auf Resonanz stößt. Denn es gibt trotzdem diverse Abhängigkeiten, die mit den Plattformen zu tun haben. Jede Plattform hat ihre eigenen Regeln, was dort publiziert werden darf und was nicht. Man unterschätzt noch immer deren Macht. Ich hatte neulich erst selber den Fall: Es werden oft Beiträge gesperrt oder Accounts blockiert für wirklich längere Zeiträume, besonders bei Personen des öffentlichen Lebens, die sehr reichweitenstark sind. Es gibt immer Leute, die Accounts melden, um die Arbeit dieser Personen zu behindern.
Und dann gibt es auf diesen Plattformen Algorithmen, bei denen man manchmal das Gefühl hat, man versteht sie, aber in Wirklichkeit sind sie überhaupt nicht für uns einsehbar, wir wissen nicht, welche Beiträge wie und wem angezeigt werden. Es gibt Erzählungen darüber, was funktioniert und was nicht. Aber in Wirklichkeit sind wir einfach total ausgeliefert – man denke nur an Twitter und Elon Musk. Das Beispiel hat gezeigt, dass die Plattformen privaten Konzernen gehören, die entweder pleitegehen oder sich einfach komplett neu definieren können, wie jetzt Twitter zu X. In dem Moment können die User/innen im schlimmsten Fall ihre ganze Existenz verlieren. Das ist eine Gefahr, die man nicht unterschätzen sollte. Also insofern ist es eine vielseitig bedrohte Demokratie, würde ich sagen.
WU: Im Sinne einer Bewusstseinsbildung war es aber gar nicht so schlecht, was mit Musk und Twitter passiert ist. Denn vielen Leuten wurde jetzt klar, dass eine Plattform, wohlwollend gesprochen, wie eine Monarchie funktioniert, aber sicher nicht wie eine Demokratie. Nicht so wohlwollend formuliert könnte man sagen, dass sie wie eine Diktatur funktioniert, weil ein einzelner Mensch sagen kann: Der darf rein, der darf nicht rein, ich ändere die Regel jetzt so und so. Die Millionen von User/innen, die zum Teil auch viel intellektuelle oder andere Energie reingesteckt haben, sind dem völlig hilflos ausgeliefert. Es gibt keinen Rechtsweg, es gibt keine Instanzen, es gibt keine Transparenz, also all das, was man von einem demokratischen System erwarten kann, existiert auf diesen Plattformen nicht. Und das unterläuft die Demokratisierung, die auf der anderen Seite dadurch stattfindet, nämlich dass sich erstmal grundsätzlich fast jeder anmelden und die eigenen Dinge posten kann. Das ist schon wirklich die große Debatte, die wir im nächsten Jahrzehnt brauchen: Sind diese Plattformen überhaupt so verwandelbar, dass sie demokratischen rechtsstaatlichen Standards entsprechen? Oder sind es einfach mehr oder weniger dystopische Regimes, denen wir ausgeliefert sind? Vielleicht kann man das ja doch auch anders organisieren, und es wird eine neue Generation von Social-Media-Plattformen geben, die dann demokratischer sind als diese Monopolisten, die wir im Moment haben.
Eine andere spannende Frage ist die des Ephemeren, des Kurzzeitigen: Bei immer mehr neuen Plattformen wie BeReal zum Beispiel oder Snapchat und Instagram-Stories bleiben die Postings nur 24 Stunden lang sichtbar und die Idee des Archivs oder des Bleibenden verschwindet irgendwie. Jugendliche machen oft vorzugsweise Snapchats oder solche kurzen Postings, weil das für sie in dem Moment stimmt, aber sie wollen nicht in ein paar Jahren nochmal mit ihrem Ich von früher konfrontiert werden.
AK: Manchmal trügt dieser Eindruck. Denn wir vergessen oft, dass vieles, das wir für die sozialen Medien produzieren, eigentlichen ein Ersatz unserer mündlichen Kommunikation ist, und dass das, was wir untereinander sprechen auch vergänglich ist. Gleichzeitig gibt es viele Formen der Archivierung im Netz und in der Netzkultur. Allein für Memes gibt es zum Beispiel Know your meme, eine Enzyklopädie, die alle Memes erfasst und versucht, ihre Entstehung zu rekonstruieren, was wahrlich keine einfache Angelegenheit ist. Es gab schon immer auch die Trends, auf allen Plattformen, Archivierungsmöglichkeiten einzuführen, sei es bei Snapchat oder bei den Instagram-Stories. Es wird sich noch zeigen, wie sich das bei BeReal entwickelt. Ich finde eigentlich, dass man tatsächlich mehr mündlich belassen und Verständnis dafür entwickeln könnte, dass es auch oft darum geht, sich einfach ungezwungen auszutauschen. Nicht alles muss eine kulturgeschichtliche Relevanz haben und uns für immer erhalten bleiben.
WU: Auch hier sieht man aber, wie willkürlich die Plattformen agieren. Früher konnte man etwa immer zurückscrollen bis zum Anfang eines Accounts, das geht jetzt oft nicht mehr. Wenn man kein privilegierter User ist, kann man bei Twitter nur noch ein paar Monate zurückkommen, und ich kann nicht mehr nachschauen, was Donald Trump 2017 getwittert hat. Und bei Instagram ist es auch schwieriger geworden. Es werden oft bestimmte Arten von Suchen erschwert oder unmöglich gemacht. Die Plattformen regeln hier ziemlich stark, wer was überhaupt über einen bestimmten Zeitraum hinaus noch gezeigt bekommt.
Wenn man also wissenschaftlich über diese Themen arbeitet, leidet man unendlich. Es ist so viel einfacher, über das Mittelalter zu arbeiten als über die Gegenwart, weil die Verfügbarkeit der Quellen für die analoge Kultur auf einer ganz anderen, viel verlässlicheren Grundlage steht als die der digitalen Kultur und vor allem der Social-Media-Kultur.
AK: Wir haben uns deshalb angewöhnt, von allem Screenshots zu machen. Denn auch wenn das Internet nichts vergisst, alles kann gelöscht werden.
Konferenz
Wolfgang Ullrich hat den ersten Band der Serie geschrieben: Selfies (Wagenbach, 2019). Am 23. September um 15 Uhr wird er sich unter dem Titel „Je est une autre – Auto-optimisation, mise en scène et inversion des rôles dans l’art à l’exemple de Hsia-Fei Chang“ in der Konschthal in Esch mit Josée Hansen unterhalten.