Sie kennen das: Es gibt Arbeit zu tun, doch die Motivation will nicht so recht aufkommen, also erstmal eine Runde im Internet surfen. Manche gehen gezielt auf die Plattform ihrer Wahl, um in lustigen Kommentaren Heiterkeit und positive Energie für den Tag zu finden. Die gibt es, neben all den Shitstorms auf Twitter zuhauf. #BadHairDay heißen die Selfies von Menschen, die montags oder an irgendeinem anderen Wochentag mit dem falschen Fuß aufgestanden sind, überstürzt in den Tag eilen und dann beim flüchtigen Blick in den Spiegel feststellen, dass die Frisur, naja, nicht so richtig sitzt. Eher so aussieht, als habe ein Huhn darin Eier gebrütet.
BadHairDay war auch das Hashtag, unter dem nach der Wiederöffnung der Friseursalons in Deutschland wegen der corona-bedingten Ladenschließungen Fotos auf Twitter und Instagram geteilt wurden, nachdem man endlich die monatelang gezwungenermaßen ungebändigt gewachsene Mähne wieder von echten Profis schneiden lassen konnte. Die Fotos erheiterten, es entstanden regelrechte Vorher-Nachher-Wettbewerbe. Selbst Luxemburg hatte etwas von dem Phänomen: Frisöre in der Hauptstadt erzählen, dass besonders Ungeduldige über die Grenze ins Großherzogtum fuhren, um dort den heißbegehrten Schneidetermin wahrzunehmen. Wie gut, dass das Land mehrsprachig ist und auch frankofone Friseurmeister/innen einige Brocken Deutsch beherrschen, um den Wunsch der ausländischen Kundschaft zu verstehen.
Das ist drei Wochen her, im Netz eine kleine Ewigkeit. Wer zu Beginn vorvergangener Woche #BadDay in Twitter eintippte, sah, wie vor allem in den USA Nutzer/innen persönliche Missgeschicke und Rezepte gegen den Frust teilten, wenn wieder einmal alles schiefläuft: auf dem Sofa zusammenrollen und mit Freund/in, Hund oder Katze kuscheln, kiloweise Eis oder Chips essen. Andere schauen Seifenopern in der Endlosschleife, bis der Kopf platzt, oder gehen ins Fitnesscenter und stemmen Extrakilos. Was sie aber ganz sicher nicht tun, ist asiatische Frauen in Spa-Zentren zu erschießen, so wie es ein weißer Rassist und Frauenfeind in Atlanta tat. Die unter #BadDay gesammelten friedlichen Gegenentwürfe zu Waffengewalt und toxischer Männlichkeit ist die zynische Antwort von Twitter-Fans auf die komplett deplatzierte Aussage des örtlichen Sheriffs Jay Baker, der den tödlichen Amoklauf des 21-Jährigen mit den Worten verharmloste: Der Mann sei am Ende gewesen und habe „gestern einen richtig schlechten Tag“ gehabt. Derselbe Sheriff wurde kurz darauf beschuldigt, rassistische und china-feindliche T-Shirts über sein Facebook-Konto verkauft zu haben. Eine Entschuldigung folgte, inzwischen ist der Polizist suspendiert. Manche Tweets sind nicht nur auf den Punkt, sondern bewirken Veränderung.
Die jüngste BadDay-Reihe, die für Erheiterung sorgt, ist dem armen Kapitän der „Ever Given“ gewidmet: Sein 400 Meter langes, fast 60 Meter breites Containerschiff steckt im Suezkanal fest und hat bereits einen kilometerlangen Schiffsstau verursacht, der globale Lieferketten und Kundenwünsche für die nächsten Wochen durcheinanderwirbeln dürfte. Prompt wird kollektiv über die Ursachen spekuliert, mal plausibler, mal wilden Seeräuber-Fantasien entsprungen. Ein Stromausfall an Bord soll die Navigationsinstrumente beeinträchtigt, raue Winde und die Übergröße des 224 000-Tonners das ihre zur Havarie beigetragen haben. Auch durch Verdrängung erzeugte Seitenwellen werden debattiert. Satellitenbilder zeigen die verzwickte Lage, Analysen zufolge soll der Kapitän zuvor eine Route, die einem Penis gleicht, gefahren sein (kein Witz!). Ein Gif (Graphic Interchange Format) der Parkszene aus dem Austin-Powers-Film International Man of Mystery fasst es zusammen: Rien ne va plus.
Die Einlassungen zum Schicksal des Ozeanriesen sind zugleich Beleg dafür, dass Twitter durchaus Erkenntnisgewinne beschert: Technische Daten zum Containerschiff werden geteilt. Frau erfährt, dass der Frachter zu den Mega-Frachtschiffen zählt, ähnlich den Gigalinern, die derzeit auf europäischen Straßen getestet werden. Jemand informiert über die wahrscheinlich sehr miserablen Arbeitsbedingungen der taiwanesischen unter panamaischer Flagge fahrenden Crew und empfiehlt als Lektüre The Outlaw Ocean, ein Buch des Investigativjournalisten Ian Urbina über illegale Flotten, Geisterboote und die brutale Rechtslosigkeit, die teils auf Hoher See herrscht. Es gibt sogar Gratis-Lebensweisheiten: Ob es eine subversive Protestaktion gegen die Globalisierung sei oder ein Fuck up, ein menschlicher Fehler? „Wenn Zweifel bestehen, immer Missgeschick wählen“, antwortet jemand trocken. Eine andere gesteht, sie habe soeben etwas Peinliches auf der Arbeit verbockt: „Aber das hier ist schlimmer. Solidarische Grüße an den Kapitän.“ Von wegen Prokrastination!