Während Nachhaltigkeitsvorschriften systematisch aufgeweicht werden, drängen Rüstungskonzerne in ESG-Fonds

Die Zeitenwende der nachhaltigen Finanzwelt

Diesen Montag über der Avenue de la Liberté
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 20.06.2025

Es gibt wenige Börsenkurse, die die tektonischen Verschiebungen unserer Zeit so prägnant abbilden wie der von Rheinmetall. Als russische Panzer am 24. Februar 2022 über die ukrainische Grenze rollten, notierte der Düsseldorfer Rüstungskonzern bei bescheidenen 96 Euro. Zweieinhalb Jahre später steht die Aktie bei rund 1 800 Euro — ein Plus von fast 1 800 Prozent. Die Binsenweisheit, dass jeder Krieg seine Profiteure hat, manifestierte sich selten so deutlich wie in diesem Börsenkurs. Doch dahinter verbirgt sich eine weitaus fundamentalere Transformation: der Rückzug vom nachhaltigen Investieren im Schatten geopolitischer Spannungen — während ausgerechnet die Verteidigungsindustrie sich den Anschein der Nachhaltigkeit gibt.

Rheinmetall (einst Paria der nachhaltigen Finanzwelt) fand sich nur selten in ESG-Portfolios (Environmental, Social and Governance). Reine Waffenhersteller galten zu Recht als Reputationsrisiko für Fondsmanager, die das Label „nachhaltig“ tragen wollten, auch wenn die EU-Gesetzgebung ihre Aufnahme freilich nie explizit verboten hatte. Lediglich völkerrechtlich geächtete Waffen sind seit Mai 2024 ausgeschlossen. Die Beschränkungen basierten in erster Linie auf freiwilligen Selbstverpflichtungen der Vermögensverwalter. Doch auch hier ist die Zeitenwende angekommen: Allianz Global Investors öffnete im April 2025 seine ESG-Fonds für Rüstungsaktien, die DWS – die Vermögensverwaltung der Deutschen Bank – kündigte an, entsprechende Investitionen zu erleichtern, und die UBS strich Umsatzgrenzen für Waffenhersteller aus ihren Nachhaltigkeitsfonds. Bereits 2022 hatte die schwedische SEB — einst Vorzeigeunternehmen nachhaltiger Anlagen — ihre Verteidigungsausschlüsse aufgehoben.

Heute findet sich Rheinmetall — gemeinsam mit BAE Systems, Lockheed Martin und anderen Schwergewichten der Waffenproduktion — in einer wachsenden Zahl von ESG-Fonds wieder. Dahinter steht zum einen die Furcht vor unterdurchschnittlichen Renditen: Fondsmanager, die Rüstungsaktien mit ihren astronomischen Kursgewinnen ausschließen, riskieren, ihre Benchmark zu verfehlen und Kunden zu verlieren.

Zum anderen hat die Verteidigungsindustrie für diese Kehrtwende die perfekte narrative Rechtfertigung gefunden: „Sicherheit ist die Mutter aller Nachhaltigkeit.“ Was 2021 vom Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie als Slogan lanciert wurde, klang zunächst wie ein missglückter Werbespruch und stieß nicht selten auf Spott. Doch der Ukraine-Krieg verhalf dem vermeintlichen Euphemismus zu ungeahnter Karriere — was einst absurd wirkte, gilt heute vielen als strategische Einsicht.

Deutliche Kritik an dieser Entwicklung kommt von der Zivilgesellschaft. Luca Schiewe von der deutschen NGO Facing Finance moniert gegenüber dem Land eine Verwässerung von ESG-Standards. Ignoriert werde laut Schiewe zudem, dass Rüstungsfirmen nicht nur die EU-Armeen ausrüsten: „Sie liefern auch Waffen für menschenrechtsverletzende Diktaturen und völkerrechtswidrige Angriffskriege weltweit.“

Es ist eine Kritik, die momentan wenig Gehör findet, denn der Wind weht längst in eine andere Richtung: Während EU-Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsausgaben auf mindestens zwei Prozent des BIP aufstocken, entstehen neue EU-Programme, die Milliardenbeträge in die Rüstungsbranche lenken. Der ReArmEurope-Plan koordiniert diese Bemühungen mit einem Gesamtvolumen von 800 Milliarden Euro über vier Jahre. Deutschland ermöglichte unbegrenzte Verschuldung für Verteidigungsausgaben, während die EU-Kommission vorschlägt, dass Mitgliedstaaten zusätzlich 1,5 Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben dürfen, ohne Defizitregeln zu verletzen. Selbst Luxemburg will bereits in diesem Jahr zwei Prozent des Bruttonationalprodukts für Verteidigungsausgaben erreichen – nicht erst 2030, wie ursprünglich geplant.

Diese Prioritätenverschiebung zeigt sich nicht nur in Haushaltsdebatten, sondern erobert zunehmend auch die Sprachwelt der Finanzbranche. Im Mai 2025 verkündete der europäische Börsenbetreiber Euronext ein bemerkenswertes Rebranding: Bei Euronext steht ESG nun nicht mehr nur für Environmental, Social and Governance, sondern auch für „Energy, Security and Geostrategy“ – drei Buchstaben, die ihre Form behalten und doch alles ändern. Dieses „New ESG“, wie es CEO Stéphane Boujnah nennt, sei eine direkte Reaktion auf eine „neue geopolitische Ordnung“. Investoren zeigten sich „begierig“ auf europäische Verteidigungs- und Energieinvesti-
tionen. Die Marktdaten scheinen Boujnah recht zu geben. Was sich in der Branche „ESG-Fatigue“ nennt, lässt sich konkret messen: Der Appetit nach traditionellen ESG-Fonds hat weltweit abgenommen. Laut einer Studie von Morningstar verzeichnete Europa im ersten Quartal 2025 erstmals seit 2018 Nettoabflüsse aus nachhaltigen Fonds, während amerikanische Anleger sogar bereits das zehnte Quartal in Folge Geld abzogen. Weltweit erreichten diese Abflüsse mit 8,6 Milliarden Dollar einen neuen Rekord.

Zeichen dieser Neuausrichtung finden sich auch in Luxemburg. Das Großherzogtum, das seine grünen Finanzprodukte bekanntlich als Markenzeichen vermarktet, erhielt im April 2025 von seiner Handelskammer einen Lux4Defence-Bericht mit zehn Empfehlungen zur Entwicklung einer nationalen Verteidigungsindustrie. Zwar handelt es sich bislang lediglich um einen Vorschlag – doch die Richtung ist aufschlussreich: Luxemburg soll, wenn es nach den Autoren des Berichts geht, sein Stück vom Rüstungskuchen abbekommen. Dabei soll auch der Finanzsektor eine zentrale Rolle spielen: Eine neu zu schaffende Task Force soll nicht nur die industrielle Entwicklung koordinieren, sondern explizit auch Finanzierungsstrategien steuern. Mit speziellen Fonds für Verteidigungsforschung, steuerlichen Anreizen und einer geplanten „Marketplace“ für Rüstungsgüter könnte sich Luxemburg (sofern die Vorschläge umgesetzt werden) als künftige Drehscheibe für europäische Verteidigungsinvestitionen positionieren. Dass dabei die mühsam aufgebaute Reputation als nachhaltiger Finanzplatz zur Disposition stehen könnte, scheint zweitrangig.

Dass sich der Zeitgeist gewandelt hat, zeigt auch eine private luxemburgische Initiative: Die Private-Equity-Firma Ilavska Vuillermoz Capital verkündete im März 2024 noch euphorisch den Start eines „ClimateTech Fund“ mit 60 Millionen Euro Zielvolumen, um gegen „das größte Problem der Menschheit seit Generationen“ (den Klimawandel) zu kämpfen. Im April desselben Jahres schloss sich das Luxembourg Institute of Science and Technology der Initiative an, um wissenschaftliche Expertise zu liefern. Ein „first close“ war für Sommer 2024 geplant. Heute ist von dem angekündigten Klimafonds keine Rede mehr – er wurde offenbar nie aufgelegt. Stattdessen gründete das Unternehmen im Mai 2025 einen „DefenceTech Fund“. Man versteht sich nun als Investor, der für „globale Sicherheit, Stabilität und friedlichen gesellschaftlichen Fortschritt“ eintritt. Die existenziellen Bedrohungen der Menschheit scheinen sich schneller zu wandeln als erwartet – je nachdem, wo Investoren ihr Geld sehen wollen.

Besonders symbolträchtig ist auch die Kehrtwende der auf dem Kirchberg ansässigen Europäischen Investitionsbank (EIB). Die „Klimabank“ der EU, die sich jahrelang weigerte, reine Rüstungsprojekte zu finanzieren, hat ihre Ausschlusskriterien grundlegend überarbeitet. Im Mai 2024 strich sie die Anforderung, dass Dual-Use-Projekte mindestens 50 Prozent zivile Nutzung nachweisen müssen. Vorige Woche machte die EIB ihre neue Prioritätensetzung besonders deutlich: Sie verdreifachte die Finanzierung für kleine und mittlere Unternehmen in der europäischen Verteidigungslieferkette von einer auf drei Milliarden Euro und unterzeichnete ein Abkommen mit der Deutschen Bank über 500 Millionen Euro zur Finanzierung von Rüstungskonzernen.

Diese politische und finanzielle Aufwertung der Verteidigungsindustrie geht einher mit einem systematischen Abbau von Nachhaltigkeitsstandards. Was als progressive Mindeststandards für verantwortliches Wirtschaften propagiert wurde (etwa menschenrechtliche Sorgfaltspflichten oder Klimaberichte), wird heute zunehmend als Belastung für die Wettbewerbsfähigkeit kritisiert. Den intellektuellen Überbau für diese Wende lieferte Mario Draghi. Sein im September 2024 veröffentlichter Bericht zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit stellte eine durchaus zutreffende Diagnose: Europa verliere dramatisch den Anschluss an die USA. Die Produktivitätslücke werde immer größer und drohe uneinholbar zu werden.

Als Reaktion auf den regulatorischen Wettbewerb mit den USA und China setzt die EU-Kommission diese Analyse nun in sogenannte Omnibus-Pakete um — gebündelte Gesetzentwürfe, die mehrere Nachhaltigkeitsrichtlinien gleichzeitig entschärfen sollen. Das erste dieser Pakete vom 26. Februar 2025 folgt weitgehend Draghis deregulierungsorientierten Empfehlungen: Die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD), nach jahrelangen Verhandlungen gerade erst in Kraft getreten, soll systematisch entkernt werden. Unternehmen müssten künftig nur noch direkte Geschäftspartner kontrollieren – die tieferen Ebenen der Lieferkette, wo die meisten Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden auftreten, blieben außen vor. Die zivilrechtliche Haftung nach Artikel 29, einst als Herzstück der Richtlinie gefeiert, soll komplett wegfallen. Überwachungspflichten würden von jährlich auf alle fünf Jahre gestreckt, die Pflicht zur Beendigung problematischer Geschäftsbeziehungen gestrichen.

Auch die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) soll deutlich zurückgefahren werden: 80 Prozent weniger Unternehmen müssten demnach berichten, die Schwellenwerte würden auf 1 000 Mitarbeiter angehoben. Die Kommission spricht von einer „Reduktion des Verwaltungsaufwands“, was Kritiker als Euphemismus für die systematische Aushöhlung von Transparenz und Verantwortung sehen. Diese Omnibus-Pakete (bislang sind es lediglich Vorschläge) sollen jenen regulatorischen Freiraum schaffen, den auch die Verteidigungsindustrie lange eingefordert hat. Wenn Nachhaltigkeitsstandards fallen, Berichtspflichten schrumpfen und Lieferkettenkontrolle zur Ausnahme wird, erleichtert dies kontroversen Branchen, sich als ESG-konform zu vermarkten. Das am Dienstag dieser Woche von der Kommission vorgestellte „Omnibus Defence“-Paket dürfte diese Neuausrichtung abrunden.

Kritik an dieser Entwicklung äußert gegenüber dem Land die Koordinatorin der deutschen AG Finanzsektor & Menschenrechte des CorA-Netzwerks für Unternehmensverantwortung, Sophia Cramer. Menschenrechte und Umweltschutz seien gerade in geopolitischen und wirtschaftlichen Krisenzeiten der Schlüssel zur Lösung und keine bürokratische Wirtschaftsbremse. Sie warnt: „Wer Menschenrechte und Umwelt jetzt zurückstellt, zahlt später doppelt – wirtschaftlich, sozial und politisch.“ Tatsächlich zeigt sich die Problematik besonders deutlich beim Klimaschutz: Ausgerechnet jene Branche, die sich mit dem Slogan „Sicherheit ist die Mutter aller Nachhaltigkeit“ als ESG-konform vermarktet, ist selbst ein massiver Klimakiller. Der CO2-Fußabdruck der EU-Militärausgaben betrug 2019 bereits 24,8 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent. Das entspricht den jährlichen Emissionen von 14 Millionen Autos. Wären die Streitkräfte der Welt ein Land, hätten sie den vierthöchsten CO2-Fußabdruck weltweit. Doch während überall der Klimaausstoß reduziert werden soll, sind Militärs von Berichtspflichten weitgehend ausgenommen. Die Widersprüche könnten demnach kaum größer sein. Nachhaltigkeit galt einmal zumindest offiziell als Frage der Prinzipien. Heute ist sie eine Frage der Auslegung. Die Finanzmärkte haben sich längst entschieden, was ihnen lieber ist.

Julian Bernstein
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