Auf dem hauptstädtischen Kirchberg gibt es gewaltige Festungen aus Beton, Stahl und Glas, die so mit Sicherheitsbeamten, Barrieren, Metalldetektoren und manchmal auch Polizei vom Rest der Stadt, der Landes abgeschottet sind, dass sie nicht zur Stadt und zum Land zu zählen scheinen. Eines dieser Gebäude ist die Europäische Investitionsbank auf einem weiträumigen Gelände gleich hinter der Roten Brücke, vier zu einem Kreuz verbundene graue Trakte und ein modischer, langer Erweiterungsbau, vor dem die Fahnen der 28 EU-Staaten im kalten Januarwind knattern.
Im Konferenzsaal der Europäischen Investitionsbank trafen sich am frühen Montagmorgen Vertreter von Regierung, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. Auf Einladung des Wirtschafts- und Sozialrats sollten sie präzise eine Stunde und 45 Minuten lang Sozialdialog zum Thema Finanz- und Wirtschaftspolitik spielen.
Die fast exterritoriale Institution war perfekt gewählt, da spätestens seit der Einführung des Euro und seit der Stabilitätspakt, der Two-Pack, der Sixpack, das Europäischen Semester und die Defizitbremse 2013 Gesetzeskraft erhielten, auch die staatliche Finanzpolitik weitgehend exterritorialisiert, von der Europäischen Kommission und dem Europäischen Ministerrat ferngesteuert wird. Der viel zu große Konferenzsaal war der perfekte Ort, um aus großer Entfernung aneinander vorbeizureden.
Denn der Kampf um die „Strukturreformen“ oder „Wirtschaftspopulismus“ genannten, angebots- oder nachfrageorientierten Umverteilungsoptionen und um den Zwang zum strukturellen Haushaltsüberschuss war längst entschieden. Die Europäische Kommission hatte die drei Ziele für 2015 und 2016 vorgegeben: die „Fortsetzung der Strukturreformen“ zur Erhöhung der Produktivität, zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und zur Deregulierung des Handels mit Gütern und Dienstleistungen, eine „verantwortungsbewusste Haushaltspolitik“ mit Sanierungsmaßnahmen, einer betriebsfreundlichen Steuerpolitik und einer Modernisierung des sozialen Schutzes sowie einer „Neuankurbelung der Investitionen“.
Da hatte der Unternehmerdachverband UEL keine Probleme, die Ziele der Kommission zu unterstützen, wie Präsident Michel Wurth mitteilen konnte. OGBL-Präsident André Roeltgen erkannte dagegen in den drei Zielen eine Förderung des Wettbewerbs zwischen den Staaten, eine Fortsetzung der Austerität und eine Erhöhung des Drucks auf die Löhne und das Arbeitsrecht.
Finanzminister Pierre Gramegna (DP) versuchte, die europäische und damit die eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik auf höchstem technokratischem Abstraktionsniveau sozial ausgewogener erscheinen zu lassen und stellte es als wichtiges soziales Zugeständnis dar, dass das VMU-Scoreboard des Stabilitätspakts erstmals drei Kriterien zum Arbeitsmarkt vorsieht.
Hinzu komme, so Pierre Gramegna, dass die Europäische Kommission die „relativ guten Prognosen für Luxemburg bestätigt“ habe. Das Statec sehe 3,4 Prozent Wachstum dieses Jahr voraus, die Kommission rechne mit einem „ähnlichen Ergebnis“. André Roeltgen pfichtete bei, die Kommission sei „mehr als zufrieden mit Luxemburg“, die öffentlichen Finanzen gehörten zu den besten in Europa. Laut Michel Wurth erfreue sich die Volkswirtschaft guter Gesundheit, weil sie die „Vitamine“ des niedrigen Euro-Kurses, der niedrigen Zinsen und des billigen Erdöls schlucke.
Um so mehr erschienen André Roeltgen die Ziele des Stabilitätspakts übertrieben. Er griff zu Powerpoint: Laut Eurostat seien sowohl die Mehrwertschöpfung wie auch der Bruttobetriebsüberschuss pro Arbeitsplatz 2014 die höchsten in Europa gewesen, Luxemburg sei also „absolute Spitze in Europa“, wenn es um die Produktivität und Rentabilität gehe. Doch die Kaufkraft stagniere, weil die Wirtschaftspolitik auf den Export konzentriert sei, gleichzeitig investierten die Unternehmen nicht genug.
Michel Wurth schlug mit Powerpoint zurück: Seit 2007 sei die Produktivität um fünf Prozent gefallen, während der Durchschnittslohn pro Beschäftigten um fünf Prozent gestiegen sei. Im selben Zeitraum seien die Lohnstückkosten deutlich schneller gewachsen als in Deutschland, Belgien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz.
Weil die wirtschaftspolitischen Vorgaben aber längst in Brüssel beschlossen und 2013 vom Parlament zum Gesetz gemacht worden waren, beschränkte sich der Sozialdialog über Stabilitätspakt und Reformprogramm auf einen hoch ritualisierten Kommentkampf zwischen dem Vertreter der UEL und des OGBL, mit ihren Dutzenden Gefolgsleuten von Verbänden und Berufskammern im Rücken. Die Gewerkschaften verlangen eine nachfrageorientierte Politik durch eine Stärkung der Kaufkraft und wollen vor allem bei der bevorstehenden Steuerreform ein Stück vom Kuchen abbekommen. Die Unternehmer verlangen eine angebotsorientierte Politik im Interesse der Exportwirtschaft. Mit dem Rückenwind aus Brüssel blockte Michel Wurth gleich die „spektakulären Gewerkschaftsforderungen“ nach einer Erhöhung des Mindestlohns und der Sozialtransfers ab, die wie ein keynesianistisches Nachhutgefecht klingen mussten, während die Unternehmerseite mit einem Zukunftsentwurf im modischen Nachhaltigkeitsvokabular auftrumpfen konnte.
Michel Wurth klagte über ein „extensives Wirtschaftsmodell“, dessen Wachstum über die Zunahme der Beschäftigung und nicht über die Steigerung der Produktivität erfolge. Trotz starken Wachstums bleibe der Zentralstaat wegen seiner hohen Ausgaben defizitär, durch die Reform von 2013 sei das sich anbahnende „Drama“ der Rentenversicherung nur abgeschwächt worden. Die Rentenversicherung und der Sozialstaat liefen auf einen Pyramidenbetrug nach dem Ponzi-Scheme hinaus.
Nötig sei vielmehr „ein anderes Wachstum“, ein „anderes Wirtschaftsmodell“ auch vor dem Hintergrund der dritten Industriellen Revolution. Luxemburg solle nachhaltig werden, „Rifkin machen und mit Ponzi aufhören“. Deshalb bot Michel Wurth auch den Salariats- und Beamtenkammern an, sich an der Rifkin-Studie zu beteiligen.
Premierminister Xavier Bettel (DP) hatte dem Schaukampf bald gelangweilt, bald mit demonstrativem Interesse zugehört. Zuvor hatte er sich darauf beschränkt, die Erfolgsbilanz der Koalition zu wiederholen, die er bereits nach der Klausur in Mondorf gezogen hatte: von der Reform des Elternurlaubs über die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bis hin zum „konsequenten Umdenken“ in der Haushaltspolitik. Deshalb könne man sich über den Wirtschaftsaufschwung in Europa und in Luxemburg freuen und sich getrost der neuen Industriellen Revolution widmen, die bereits begonnen habe.
Aber der Regierungschef weigerte sich, einen Sieger im Powerpoint-Duell zu küren. Er enttäuschte Michel Wurth und André Roeltgen, als er relativierte, dass man „Statistiken so oder so interpretieren“ könne, und bedauerte, dass jedes Mal der eine der Redner missmutig den Kopf geschüttelt habe, wenn der andere geredet habe. So konnte der Premier wieder einmal seinen Wählern vorführen, wie die Regierung den goldenen Mittelweg zwischen den widersprüchlichen Interessen von Unternehmern und Gewerkschaften einzuschlagen scheint und dabei in Fortsetzung des Luxemburg Modells ein „Luxemburger Mirakel“ vollbringt, durch das am Ende „jeder ein wenig Recht bekommt“.