Selektive Reproduktion und Ehezeugnis als eugenische Denkfiguren in Luxemburg

Ehe-Enzyklika und Zwangssterilisation

d'Lëtzebuerger Land du 21.01.2022

Die moderne Eugenik entstand im 19. Jahrhundert. Als Begründer gilt Francis Galton, ein typischer vermögender Amateurwissenschaftler der viktorianischen Zeit. In den 1860er-Jahren hatte Galton die Theorie entwickelt, dass Talent und Charakter überwiegend vererbt würden und der Einfluss der Umwelt von zweitrangiger Bedeutung sei. Von dieser Beobachtung aus war es nur ein kleiner Schritt zu seiner Überlegung, die menschliche Rasse könne und müsse genetisch verbessert werden: Die besonders Begabten müssten unterstützt werden, überdurchschnittlich viele Kinder zu zeugen (positive Eugenik), und die „Untauglichen“ sollten weitgehend von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden (negative Eugenik) — durch Heiratsverbote, Anstaltsunterbringung, Propagierung von Verhütungsmitteln und Sterilisation1.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Eugenik auch in Luxemburg öffentlich thematisiert, auch weil über die Initiativen der verschiedenen ausländischen Eugenik-Gesellschaften immer öfter in der einheimischen Presse berichtet wurde. In Luxemburg entstanden der erste eugenisch motivierte Gesetzvorschlag sowie eine Eugenik-Kommission in den 1920er-Jahren. Welche Ziele verfolgten die Verfasser und Begründer? Welche Parteien, Weltanschauungsbewegungen und Medien setzten sich für die Einführung der eugenischen Konzepte ein? Und gab es Reaktionen des gegnerischen Lagers?

Der erste eugenisch motivierte Gesetzvorschlag

Ein Gesetzesvorschlag zur Einführung eines obligatorischen ehelichen Gesundheitszeugnisses wurde am 20. Januar 1927 vom sozialistischen Oppositionsabgeordneten René Blum in der Kammer mit folgender Begründung eingereicht: „Der Staat hat größtes Interesse sich der Vereinigung schwachsinniger Paare zu widersetzen und so die Geburt entarteter Nachkommen zu verhindern, die eines Tages eine Belastung sein werden [...]. So liegt es in der Verantwortung der Behörden ihr Möglichstes zu tun, um die menschliche Rasse zu verbessern.2“

Nach der Lesung in der Kammer wurde der Vorschlag am 21. Januar 1927 zur Begutachtung an den Staatsrat weitergeschickt. Der Staatsrat aber beurteilte ihn nicht, wozu er auch nicht verpflichtet war. Der Text wurde an die Kammer zurückgeschickt, aber im Nachhinein fanden weder eine Debatte noch ein Votum statt.

Der eigentliche Autor des Textes war der 1894 in Luxemburg geborene Bezirksrichter Jules Salentiny, Abkömmling einer großbürgerlichen Familie von Juristen und hohen Beamten, der nach erfolgreichem Studium zuerst Bezirksrichter im Norden des Landes, dann ab 1934 in der Hauptstadt wurde, und schließlich bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1959 das Amt des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs bekleidete. Sowohl Blum als auch Salentiny waren Mitglieder des Vereins für Volks- und Schulhygiene, dem eine besondere Stellung im gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Bereich in Luxemburg zukam.

Der Verein für Volks- und Schulhygiene

Der Verein entstand 1904 im Umfeld des Vereins Luxemburger Naturfreunde. Gründer waren der Oberschulinspektor Theodor Witry sowie Edmond Klein, ein Gymnasiallehrer aus Diekirch, und Ernest Feltgen, ein Mediziner aus Luxemburg-Stadt. Der Aufruf zur Vereinsgründung richtete sich an „alle Luxemburger, denen das leibliche und geistige Wohl des Volkes am Herzen liegt“. Mitte der 1920er-Jahre gehörten Personen der verschiedensten politischen und weltanschaulichen Strömungen dem Verein an: Vertreter der katholischen Soziallehre, des Klerus selbst, Abgeordnete der Rechtspartei, Freidenker, liberale und sozialistische Politiker, Gewerkschaftler und Antiklerikale3. Die fast alljährlich erschienenen Jahrbücher des Vereins (1904 bis 1937) geben Aufschluss über die diversen Aktivitäten und Interessen des Vereins zu verschiedenen Zeitpunkten. Dabei kristallisieren sich drei Perioden heraus, jede mit eigenen charakteristischen Merkmalen.

Die Zeit zwischen 1904 und 1924 kann als Phase der Sozialhygiene bezeichnet werden. Das Aktionsprogramm des Vereins richtete sich vor allem an die Mitglieder hygienischer Risikogruppen wie Schulkinder und sozial Schwächere. Ab 1908 trat der Kampf gegen Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und Alkoholmissbrauch immer mehr in den Vordergrund.

Die Phase der Eugenik wurde 1925 mit einem Artikel über Eugenik im Jahrbuch des Vereins eingeleitet. Unter dem Titel Die Ansicht des belgischen Vereins für Eugenik über das ärztliche Ehezeugnis vom moralischen Standpunkt aus betrachtet rechtfertigte ein Jesuit der Universität Leuven das ärztliche Attest im Auftrag des belgischen Vereins und gratulierte der Belgischen Gesellschaft für Eugenik zur Konsolidierung der Ehe, dieser „unentbehrlichen Familieninstitution“. Es folgte ein Merkblatt für Eheschließende von der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene: ein Plädoyer für das ärztliche Heiratszeugnis, insbesondere in Bezug auf die Früherkennung von Geschlechtskrankheiten. 1925 tauchte auch der Name Jules Salentiny erstmals in der Mitgliederliste auf, aber eine Eugenik-Kommission gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zeitungsberichte legen nahe, dass sie wahrscheinlich im Laufe der Jahre 1926/27 im Schoße des Vereins für Volks- und Schulhygiene gegründet wurde. Im Juni 1927 fand eine von Salentiny geführte Eugenik- Kommission in den Medien Erwähnung. Neben Kommissionspräsident Salentiny bildeten der Hautarzt Franz Demuth, ein Gefängnisdirektor und zwei weitere Ärzte das fünfköpfige Komitee. Nach dem im Januar 1927 gescheiterten Versuch, das ärztliche Heiratszeugnis in Luxemburg einzuführen, entwickelten sich der Bezirksrichter und die Eugenik-Kommission zu den auffälligsten Verfechtern der Eugenik in Luxemburg. In der Jubiläumsbroschüre 1929 zum 25-jährigen Bestehen des Vereins fanden sich gleich mehrere Aufsätze über Eugenik.

Unter dem Titel Eugenik fasste Salentiny den Stand der eugenischen Frage in England, Amerika und Frankreich zusammen. Nach einer kurzen Erklärung die „Wissenschaft zur Rassenverbesserung“ betreffend, befasste er sich mit den Vorschlägen der verschiedenen eugenischen Gesellschaften, sich des hohen Prozentsatzes von geistig Minderwertigen zu entledigen. Besondere Erwähnung fanden dabei die Gesetzgebung zur Zwangssterilisation und die Bemühungen zur Reinhaltung der „weißen Rasse“ durch Verbote der „Rassenkreuzung“. Zum Schluss betonte der Schreiber, zu diesen „wissenschaftlichen Gedankengängen“ nicht persönlich Stellung nehmen zu wollen und auch nicht zu untersuchen, inwiefern sich das eine oder andere Mittel in einer vorsichtigen Anwendung für Luxemburger Verhältnisse eignen könne. In einem öffentlichen, im Tageblatt vom 6. April 1927 zusammengefassten Vortrag über das eheliche Gesundheitszeugnis zwei Monate nach dem verworfenen Gesetzentwurf, hob Salentiny allerdings noch einmal die Wichtigkeit der Gesetzgebungen hervor, die Heiratsverbote im Falle von – wenn auch geheilten – „Wahnsinnigen, rezidivierenden Verbrechern und chronischen Alkoholikern“ erlaubten.

Der Höhepunkt der Berichterstattung über Eugenik aber war dem seit 1924 in Luxemburg niedergelassenen Hautarzt Franz Demuth vorbehalten4. Nach einem kurzen historischen Rückblick auf die Entwicklung der Eugenik dank des „genialen“ Galton und einigen pseudowissenschaftlichen Erläuterungen, bekannte sich Demuth zu der vom deutschen Arzt und SPD-Abgeordneten Alfred Grotjahn (1869-1931) vertretenen praktischen Eugenik. Dieser hatte sich früh einer „negativen Eugenik“ zugewendet, die Asylierung und Zwangssterilisationen befürwortete.

Der Weg sei klar vorgezeichnet, so Demuth. Die moderne Eugenik müsse in allen gesellschaftlichen Bereichen ihren Platz haben, um dem drohenden Unheil des qualitativen und quantitativen Untergangs der Bevölkerung entgegenwirken zu können.

Von 1933 bis 1939 wurden eugenische Themen ausgeblendet. Neben Tuberkulose- und Geschlechtserkrankungen wurden ab 1933 nur noch allgemeine Überlegungen im Zusammenhang mit dem Thema Hygiene behandelt. Es zeichnete sich eine Rückkehr zur Sozialhygiene nach französischem Muster ab und die Titelblätter der Vereinsbücher wurden nach 1933 auf Französisch verfasst. Die Eugenik war in den Vereinsheften kein Thema mehr, und 1946 wurde die Eugenik-Kommission in „Justiz-Kommission“ umbenannt, nach wie vor unter dem Vorsitz von Jules Salentiny. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die frühen klerikalen Mitglieder des Vereins, Kanonikus Jean Origer, Mitglied der Rechtspartei und Direktor des Luxemburger Wort, Abt Friedrich Mack, Direktor der Caritas und des bischöflichen Konvikts, erklärte Gegner der Eugenik, am Ende der 1930er-Jahren immer noch auf der Mitgliederliste des Vereins standen, trotz der Eugenik befürwortenden Veröffentlichungen der 1920er-Jahre.

Die katholische Einstellung zur Eugenik

Für den 1903 gegründeten katholischen Luxemburger Volksverein stand der Kampf gegen moralischen und materiellen Verfall der Gesellschaft durch Sozialismus und Überfremdung im Mittelpunkt. Explizite Bezüge zu einer Rassentheorie fanden nur marginale Erwähnung5.

Der 1909 gegründete katholische Akademikerverband hatte zum Ziel, „die katholische Weltanschauung und Kultur in unserem Vaterland nach allen Seiten zu fördern [und dabei] alle Mittel anzuwenden, die nach katholischer Sittenlehre zulässig sind“6. In der August-Ausgabe 1934 der Vereinszeitung Academia wurden zwar nationalistische Aussagen des Präsidenten der Rechtspartei veröffentlicht und integral in das faschistische Volksblatt übernommen7, aber Eugenik war für den Akademikerverband inakzeptabel, wie der Präsident des Vereins im Kontext der Sommertagung 1935 in einem Referat über Sterilisation und katholische Moral im Dritten Reich betonte. Auch wenn es wissenschaftliche und volksgesundheitliche Argumente für die gesetzliche Sterilisation gebe, so seien doch für die moralische Beurteilung die „klaren Richtlinien“ der Eheenzyklika Casti Connubii von Pius XI. maßgebend. Diese war eine längst überfällige päpstliche Stellungnahme zur Eheproblematik und behandelte vornehmlich die „modernen“ Bedrohungen des christlichen Eheideals. Die Eugenik war also nicht Hauptgegenstand des Rundschreibens und für längere Zeit bestand der Eindruck, der Papst lehne jegliche Form der Eugenik ab. Festzustellen war, dass er den harten negativ-eugenischen Maßnahmen, insbesondere den eugenischen (Zwangs-) Sterilisationen und Eheverboten, eine klare Absage erteilte. Die „direkte“ Verletzung der körperlichen Integrität aus eugenischen Gründen war für den Papst unzulässig. Er ließ aber durchaus Raum für die „weichen“ negativ-eugenischen Maßnahmen der eugenischen Eheberatung und der „eugenischen Erziehung“. Mit dem deutlichen Verweis auf die Notwendigkeit einer „starken und gesunden Nachkommenschaft“ verschloss sich der Papst nicht explizit der positiven Eugenik. Auch die Asylierung erbkranker Menschen lehnte Pius XI. nicht ausdrücklich ab. Vielmehr ließ er die Frage offen. Die Enzyklika war trotz aller Skepsis von einer breiten Akzeptanz eugenischen Denkens getragen8.

Ein vorbildliches Beispiel nicht nur der damaligen Verzahnung der Luxemburger Vereinslandschaft, sondern auch für die eugenischen Ansichten einiger Mitglieder der klerikalen Elite lieferte das Gründungsmitglied des Vereins für Volks- und Schulhygiene Edmond J. Klein, der ebenfalls Mitglied des Volksvereins und der Naturalistenbewegung sowie Präsident verschiedener Regierungskommissionen war. Klein war bestens bekannt für seine gegen Darwins Lehren gerichteten Attacken in zahlreichen Vorlesungen und Veröffentlichungen. In einer Analyse des Darwinismus äußerte sich Klein ebenfalls über die Eugenik, an der er nichts auszusetzen hatte, solange sie sich auf die christlich-humanitäre Ethik berief. Die Verhinderung der Fortpflanzung von Minderwertigen durch Internierung sei mit christlichen ethischen Vorstellungen vereinbar9.

Die ambivalente Haltung des 1898 gegründeten Vereins gegen den Alkoholismus, deren langjähriger Schriftleiter und Mitglied des Vereins für Volks- und Schulhygiene Abbé Joseph Sevenig war, wurde verdeutlicht als die Mitgliederzeitschrift Das Volkswohl 1918 eine Rezension zusammen mit einigen Auszügen zu einem 1914 erschienenen Werk des norwegischen Rassenbiologen Jon Alfred Mjöen veröffentlichte. Dieser hatte darin die Forderung erhoben, ein sogenanntes „physiologisches Kinderproletariat“, auch noch nach Erreichen der Volljährigkeit, zu internieren und „unkontrollierte Wohltätigkeit“ nicht mehr zu dulden.

Der Autor der Rezension fand das Buch hochinteressant. Es sei mit großer Sachkenntnis und warmer Begeisterung geschrieben. Weitere explizite Beiträge zu einer „Rassentheorie“ fanden sich in den Veröffentlichungen dieses Vereins allerdings nicht mehr.

Die katholische Rechtspartei blieb trotz wirtschaftlicher und sozialer Krisen fast ununterbrochen bis zum Zweiten Weltkrieg in der Regierungsverantwortung, meistens in einer Koalition mit den Liberalen und ab 1937 mit den Sozialisten. Die enge Verbundenheit mit dem Luxemburger Katholizismus, insbesondere im gemeinsamen Kampf gegen Sozialismus und Kommunismus, war nicht zu übersehen, aber in Fragen zur Eugenik überließ die Partei dem klerikalen Luxemburger Wort die Stellungnahme.

Das Wort bezog mehrmals Stellung gegen die Eugenik, indem es den höheren moralischen Stellenwert des katholischen Ehe-Ideals hervorhob. Führende deutsche katholische Moraltheologen wie Franz Walter und Hermann Muckermann lehnten in den 1920er-Jahren die eugenische Sterilisierung ab. Lediglich eine Asylierung wollte Letzterer gelten lassen. Anfang der 1930er-Jahre schwenkten die deutschen katholischen Eugeniker allerdings auf negative Maßnahmenkataloge um und betrachteten die Sterilisierung nun als den wirkungsvollsten negativ-eugenischen Weg10. Am 13. Juli 1934 teilte das Wort seinen Lesern eine Stellungnahme des Osservatore Romano mit, aus der hervorging, dass die römisch-katholische Kirche, entgegen der Haltung „gewisser Theologen in Deutschland, nach wie vor an der grundsätzlichen Ablehnung des Sterilisationsgesetzes als Ganzem festhält“. Auffallend ist, dass die Berichte des Bezirksrichters Salentiny über Eugenik und das eheliche Heiratszeugnis, die in den meisten übrigen Tageszeitungen veröffentlicht wurden, im Luxemburger Wort öfters unerwähnt blieben, dies obwohl der Direktor der Zeitung Mitglied des Vereins für Volks- und Schulhygiene war. Auch Texte über den Verein für Volks- und Schulhygiene wurden mit Reserven und der Bitte um Veröffentlichung seitens des Vereins erwähnt.

Die katholische Eugenik zeigte sich also durchaus facettenreich und kann auch in Luxemburg nicht undifferenziert als „anti-eugenisches Bollwerk“ betrachtet werden.

Die Haltung rechtsextremer Kreise

Der Themenkatalog der rechtsextremistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts beschränkte sich fast ausschließlich auf Nationalismus, Traditionalismus, Ausländerfeindlichkeit, Antikommunismus und Antisemitismus. Die einzige dieser Bewegungen, die es in 1937 ins Luxemburger Parlament schaffte, war die National-Demokratische Bewegung. Im Parteiorgan Volksblatt wurden die populistisch-nationalistischen Themen behandelt. Eugenische Maßnahmen wurden aber weder propagiert noch unterstützt11.

1927 veröffentlichte der Luxemburger Verein für ländliche Wohlfahrt- und Heimatpflege in seiner Zeitschrift Landwuôl einen Artikel über Eugenik, um ein ärztliches Attest vor der Heirat zum Ausschluss aller Personen mit ererbten Fehlern und Krankheiten zu verlangen, und es wurde betont, dass Ehen von Angehörigen verschiedener „Rassen“ nicht viel Gutes erhoffen ließen. Unterzeichnet war der Text mit „H. G.“ für Hary Godefroid (1877-1942), Lehrer, Gründungsmitglied des Vereins Haus und Schule und Mitglied mehrerer nationalistischer Vereine, der in Luxemburg und Belgien des öfteren Vorträge über Eugenik hielt.

Das antiklerikale Lager und die Frage der gesellschaftlichen „Minderwertigkeit“

Um 1830 hielt der Begriff „Proletariat“ als Ersatz für den Begriff „Pöbel“ Einzug in den bürgerlichen Diskurs. Die daraus resultierende Grenzziehung zwischen „ehrlichen“ und „lumpigen“ Proletariern war besonders wirkungsvoll und in den folgenden Jahren wurde mit der biologischen Politisierung naturwissenschaftlicher Denkmuster die Pauperisierung zunehmend als Folge der Degeneration des Erbguts interpretiert und der „Lumpenproletarier“ zum „geborenen“ Schwerkriminellen und Gewohnheitsverbrecher stilisiert12. In den 1920er-Jahren war das „Lumpenproletariat“ nicht mehr die einzige Zielgruppe der Eugenik, die fortan auch Erbkranke im Allgemeinen in ihren Maßnahmenkatalog einschloss. Die politische Linke stellte früh fest, dass viele Eugeniker sich gegen traditionell konservative Institutionen wie Monarchie, Aristokratie und Klerus auflehnten. Insbesondere die deutsche Sozialdemokratie unterstützte die Eugenik bis zum Ende der Weimarer Republik insofern sie keine rassistischen Elemente beinhaltete.

Die Aggressivität der linken Presse gegenüber dem „Lumpenproletariat“ als Ansammlung von „Psychopathen, dummen Jungen, Geldgierige[n] und nicht denkfähige[n] Proletarier[n]“ blieb im 20. Jahrhundert ein zentraler Punkt13. So berichtete das sozialistische Tageblatt am 14. April 1925 voller Verachtung über das Londoner „Lumpenproletariat“: „[...] Der englische Proletarier greift zur Whiskyflasche, um sich zu betäuben, und im Whisky reifen die Perversionen, die Brutalitäten [...].“ Die Zeitung stellte einen Teil des „Bürgertums ohne Menschenwürde“ mit der so beschriebenen Gruppe auf eine Stufe.

Kritiklose Berichte über Eugenik-Kongresse, während deren auch negative Eugenik-Maßnahmen verteidigt wurden, waren keine Seltenheit, ebenso wenig wie Analysen von Bevölkerungsfragen: „Auf Dauer kommt niemand an der Eugenik vorbei, die in den meisten Ländern nur durch kleine, fortschrittliche Gruppen vertreten wird“, berichtete das Tageblatt am 5. Januar 1927. Sogar die Arbeit der zur Durchführung des Sterilisationsgesetzes eingesetzten Gerichts in Berlin mit 20 Sitzungen und Anordnung von 325 Zwangssterilisationen wurde den Lesern kommentarlos am 19. Juni 1934 geschildert.

Ebenfalls bemerkenswert war ein Beitrag über „Ehezeugnisse“ in der Frauenbeilage zum Tageblatt am 9. Oktober 1929: Nach einem Plädoyer für die eugenischen Eheberatungsstellen des preußischen Wohlfahrtsministeriums wurden noch einmal die Vorzüge einer solchen Einrichtung zur Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten sowie zur Schärfung des sozialen Gewissens erläutert. Nicht zuletzt wurde die eugenische Betrachtungsweise als ideale Haltung zur Erhaltung einer gesunden Nachkommenschaft hochstilisiert, „[...] auch wenn Heraufzüchtung der Rasse und ähnliche Zuchtwahltheorien noch in der Ferne liegen“.

Das Eugenikverständnis des linken Flügels der internationalen Frauenbewegungen wurde in der Zeit zwischen den Weltkriegen ein einvernehmliches Mittel zum Zweck, ein Weg zur Emanzipation mit wenig Resistenz seitens Politik und Männerwelt14. Für die Luxemburger linken Frauenbewegungen war es noch zu früh, um das Selbstbestimmungsrecht mit kämpferischen Parolen umzusetzen. Bemerkenswert war auf jeden Fall der unermüdliche Einsatz der „sozialistischen Frauen“ für ein gesetzliches Ehezeugnis auch in den ersten Nachkriegsjahren.

In der Luxemburger Zeitung, dem Sprachrohr der Liberalen, standen wirtschaftliche Fragen im Mittelpunkt des Interesses. Im regelmäßig in der Zeitung publizierten Kammerbericht wurde besonders ausführlich über Haushaltsdebatten berichtet. Umso auffallender war ein Artikel vom 21. Januar 1927 über das eheliche Gesundheitszeugnis im Anschluss an einen Vortrag des Hautarztes Franz Demuth im Verein für Volks- und Schulhygiene am 8. Januar 1927 über den geplanten Gesetzentwurf. Die einzigen Einwände waren formaler und finanzieller Natur. Das Gesetz müsse auch Ausländer einbeziehen, aber mögliche eugenische Konsequenzen wurden nicht erwähnt. Es sei ein Gesetz zum Wohle der Volksgesundheit und ein neuer Fortschritt im Kampf um die Mehrung der Volkskraft.

Die eugenische Frage nach dem Zweiten Weltkrieg

In den ersten Nachkriegsjahren versuchte die sozialistische Frauenbewegung erfolglos, die Diskussionen um ein eheliches Heiratszeugnis mit den Argumenten von 1927 wieder zu beleben. Auch die Befürworter des Heiratszeugnisses im Verein für Schul- und Volkshygiene erneuerten ihre Bemühungen schon ab 1946 mit einem Brief an das Gesundheitsministerium, um die Vorzüge der Vorschläge Blums aus dem Jahr 1927 hervorzuheben. Das Schreiben ging diesmal auf neue frauenärztliche Mitglieder des Vereins zurück. Symptomatisch für die Entwicklung in den Nachkriegsjahren war die Verlagerung der Diskussionen um das Gesetz vom juristisch-politischen Lager in den ärztlichen „Wissenschaftssektor“.

Die Bedeutung des Vereins für Volks- und Schulhygiene nahm zunehmend ab, und andere Gesellschaften traten an seine Stelle, insbesondere die Aktion für Volk und Familie ab 1949. Die Gründung dieses Vereins beruhte auf einer Initiative der Luxemburger klerikalen und konservativen Kräfte, mit dem erklärten Hauptziel des Kampfes gegen Tuberkulose, Geschlechts- und Krebskrankheiten sowie Alkoholmissbrauch. Als Mittel wurden die Förderung einer „positiven erzieherischen Eugenik“ sowie der Kampf um die Gesundheit der Menschen als „ideales Feld christlicher Nächstenliebe“ genannt. Die katholische Familienaktion besaß das Monopol der Familienfürsorge bis in die 1960er-Jahre, als die linksliberale Luxemburger Bewegung für Familien-Planung gegründet wurde. Sexualaufklärung und das Propagieren von Empfängnisverhütungsmitteln wurden für sie zur obersten Priorität. Die Notwendigkeit eines ärztlichen Heiratszeugnisses fand, neben der ungünstigen demografischen Entwicklung, in der Gründungsversammlung Erwähnung und auch das rechte Lager widersetzte sich nicht mehr einem „wissenschaftlich“ begründeten Ehezeugnis. Der Weg für die Einführung eines obligatorischen ärztlichen Ehezeugnisses im Jahr 1972 war geebnet.

Schlussbetrachtung

Zwischen 1925 und 1932 erreichten die Kontroversen über Eugenik mit dem Gesetzvorschlag von 1927 ihren Höhepunkt. Eingebracht wurde er in Luxemburg vom sozialistischen Lager in der Person von René Blum, dem ehemaligen Kammer- und späteren Parteipräsidenten und Justizminister. Blum betonte im Motivenbericht die Notwendigkeit, Ehen für „Schwachsinnige“ und deren entartete Nachkommen zu verhindern. Eheverbote wären also unumgänglich gewesen und waren im Gesetzestext auch nicht ausdrücklich untersagt.

Der unpräzise Begriff „Schwachsinnige“ eröffnete Spielraum für Interpretationen und Übergriffe. Es war kein Zufall, dass die meisten Zwangssterilisationen in der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland ab 1933 bei Personen mit der Diagnose „Schwachsinn“ durchgeführt wurden. Die Luxemburger Sozialisten waren ähnlich wie die Sozialdemokraten in Deutschland vor 1933, regelmäßige Befürworter der Eugenik in diesem Zeitraum, wie das sozialistische Sprachrohr Tageblatt des öfteren unter Beweis stellte. Nach 1933 kamen eugenische Stellungnahmen immer seltener im Tageblatt vor, und die Berichterstattung wurde sehr zurückhaltend. Es scheint, als seien der Faschismus und die praktische Umsetzung der Eugenik in Deutschland ein Anstoß zum Umdenken gewesen: Der Rechtsextremismus wurde zur Hauptursache des schwindenden Enthusiasmus der Linken für die Eugenik.

Das klerikale Lager stand der Eugenik von Anfang an kritisch gegenüber. Das Luxemburger Wort verteidigte regelmäßig die Position Roms gegenüber der negativen Eugenik, ohne aber auf die Ambivalenz der päpstlichen Aussagen in der Enzyklika oder auf gegensätzliche Aussagen überzeugter Katholiken einzugehen. Befürwortete das linke Lager auch manche eugenische Maßnahmen, so blieben seine Anhänger doch überzeugte Antirassisten und Antifaschisten, während das klerikale Lager der Eugenik stets misstrauisch gegenüberstand, dafür aber öfter mit Antisemitismus und Faschismus liebäugelte.

Nach seiner Pensionierung schloss der Onkologe Julien Sand erfolgreich ein Bachelorstudium der Geschichte an der Universität Trier mit dem Forschungsschwerpunkt Geschichte der Eugenik in Luxemburg – ein bisher wenig erforschtes Thema –-ab.


1 Kühl, Stefan: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen eugenischen Bewegung im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2014, S. 26

2 Chambre des députés: Compte-Rendu des séances de la chambre des députés du Grand-Duché de Luxembourg. Session ordinaire de 1926–1927, Bd. 1, S. 747 und
Bd. 2, S. 222

3 Jungblut, Marie-Paule/Sand, Julien: „Luxemburg und die Familie Kallikak“, d’Lëtzebuerger Land, 13. 11. 2020

4 Verein für Volks- und Schulhygiene. Vereinsjahre 1926-1929. Jubiläumsnummer 1904-1929, Luxemburg 1930, S. 97-109

5 Mauer, Heike: Intersektionalität und Gouvernementalität. Die Regierung von Prostitution in Luxemburg, Opladen 2018,
S. 367

6 Margue, Paul: „Partei und katholische Vereine“, in: Trausch, Gilbert (Hrsg.): CSV. Spiegelbild eines Landes und seiner Politik? Geschichte der Christlich-Sozialen Volkspartei Luxemburgs im 20. Jahrhundert, Luxemburg 2008, S. 526-527.

7 Blau, Lucien: Histoire de l’Extrême-Droite au Grand-Duché de Luxembourg au XXe siècle, Luxembourg 1998, S. 178

8 Richter, Ingrid: Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene, Paderborn 2001, S. 261-267.

9 Massard, Jos/Geimer, Gaby: „Luxemburg und der Darwinismus. Ein historischer Rückblick », in: Bulletin de la société des naturalistes luxembourgeois 110 (2009),
S. 19-29

10 Richter, Katholizismus und Eugenik, S. 53

11 Blau, Extrême-Droite, S. 288-304

12 Schwartz, Michael: „,Proletarier’ und ,Lumpen’. Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4 (1994), S. 567

13 Schwartz, ebd., S. 549

14 Achtelik, Kirsten: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Berlin 2018, S. 68

Julien Sand
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