Ab dem 16. Juli sollen Kindergärten auf Normalbetrieb umstellen. Doch obwohl die Wirtschaft ohne Fremdbetreuung kaum durch-
starten kann, ist das Überleben mancher Einrichtung nicht sicher

Im Krisenmodus

d'Lëtzebuerger Land du 19.06.2020

„Zum Glück war unsere Tochter schon vor Corona ganztags eingeschrieben“, sagt Lynn B*. „So hat uns die Krippenleitung direkt einen Platz zugesagt.“ Lynn ist Lehrerin an einem Gymnasium in Luxemburg-Stadt, ihre zweijährige Tochter seit dem 25. Mai wieder täglich in der Crèche mit vier anderen Kindern und zwei festen Betreuerinnen. „Alles läuft sehr gut, sie musste sich nur wieder eingewöhnen.“ Ihre Krippe bietet eine Notbetreuung – wie andere Krippen und Kindergärten wegen des Corona-Ausnahmezustands mit  besonderen Schutzauflagen, darunter in erster Linie reduzierte Gruppen: Nicht mehr als fünf Kinder und zwei Erzieher/innen dürfen in einer Gruppe sein, gegessen wird im kleinen Kreis, und auch beim Spielen im Garten oder Hof bleiben alle Gruppen voneinander getrennt. So soll das Sars-CoV2-Übertragungsrisiko auf ein Minimum reduziert werden. Laut Ministerium werden derzeit 7 481 Kinder zwischen null und vier Jahren in den Krippen fremdbetreut, im Durchschnitt 32 Stunden die Woche.

„Das Ministerium unterstützt uns finanziell, sonst wäre die Notbetreuung in der Form nicht möglich“, sagt Maria Castrovinci. Die Leiterin zweier Tagesstätten in Esch-Alzette hat, statt der 42 Kinder, die vor der Pandemie bei ihr eingeschrieben waren, nun 30, die in Kleingruppen und mit festen Erzieherteams betreut werden. „Wir haben Eltern, mit denen wir einen Vertrag haben, leider absagen müssen.“ Die Auswahl ergab sich aus Vorgaben der Regierung: Eltern mit systemrelevanten Berufen, also vor allem Ärztinnen und Krankenpfleger aus dem Gesundheitssektor und Lehrkräfte mit Kindern, die seit Mai wieder unterrichten, haben Vorrang. „Und Alleinerziehende, weil die sonst nicht in den Beruf zurückkehren können“, erklärt Castrovinci. Die übrigen Eltern, fast ein Drittel, gingen leer aus. In Luxemburg-Stadt waren es bei den Gemeindekrippen 27 Kinder, die nicht angenommen werden konnten. Wie viele landesweit ohne Krippenplatz geblieben sind, wird nicht zentral erfasst.

Ansturm auf Sonderurlaub Vor allem Familien, in denen beide Partner berufstätig sind, und Alleinerziehende sind auf Fremdbetreuung angewiesen. Einige fanden kurzfristig Tageseltern; insgesamt sei die Nachfrage aber zurückgegangen, so Caroline Ruppert von der Agence Dageselteren. In der letzten Maiwoche waren 458 Kinder bei Tagesmüttern eingeschrieben. Weil ältere Personen über 65 Jahre als Risikogruppe gelten, fallen Großeltern als Betreuungsalternative aus, sodass vielen Eltern nichts anderes bleibt, als Sonderurlaub aus familiären Gründen zu beantragen. „Einige Eltern waren erleichtert über die Absage. So konnten sie ruhigen Gewissens den Sonderurlaub zu beantragen“, so Castrovinci. Nur Eltern, die ihre Kinder nicht anderweitig unterbringen können, haben Anrecht auf diese Leistung. Befindet sich jemand in Kurzarbeit oder ist der Partner arbeitslos, gibt es darauf kein Anrecht.

Während dem Lockdown verlängerte der Staat im Kontext seiner Stützungsmaßnahmen für die heimische Wirtschaft die Mitgliedschaftsverträge für das einkommensbasierte Gutscheinsystem Chèque service bis zum 25. Mai: Kindertagesstätten – konventionierte wie nicht-konventionierte – bekamen den Anteil des Stundentarifs, für den der Staat in Nicht-Coronazeiten maximal aufgekommen war (bis sechs Euro Stundentarif), während des Lockdown weiterhin ausbezahlt, obwohl die Kindergärten geschlossen hatten: Je nach Region und Einrichtung ist das viel Geld. „So war sichergestellt, dass die meisten Betreiber Geldmittel hatten, um die Gehälter der Mitarbeiterinnen während der Zwangspause weiter zu bezahlen“, erzählt Castrovinci. Auch nach dem Lockdown hilft der Staat und bezahlt seinen Anteil für die Eltern, die wegen der Notbetreuung nicht kommen können, weiter.

Trotz der schrittweisen Lockerungen stehen der Betreuungsbranche nicht alle Mitarbeiter/innen wieder voll zur Verfügung: Nicht wenige Erzieher/innen haben selbst Familie und Kinder, die es in der Coronakrise zu versorgen galt und noch gilt und die, weil der andere Partner arbeiten muss, daheimbleiben. Weil die Schulen zwar wieder geöffnet, aber noch nicht auf Normalbetrieb umgestellt haben, sondern mit wöchentlich wechselnden Gruppen funktionieren, bleibt in vielen Familien nach wie vor mindestens ein Elternteil daheim, um die Kinder in den B-Wochen oder nach der Schule zu versorgen. 

„Auch in meinem Betrieb haben vier oder fünf Mitarbeiterinnen den Sonderurlaub beantragt“, sagt Arthur Carvas, Leiter einer Kindertagesstätte und zudem Präsident des Dachverbands der rund hundert Betreiber privater Kindertagesstätten, Felsea. Weil der Staat den Unternehmen das Geld für den Arbeitsausfall als Vorauszahlung überwiesen hat, half das den Tagesstätten, über die schlimmste Finanznot zu kommen. „Das waren rund 20 000 Euro. Da ist viel Geld“, sagt Maria Castrovinci. Eben diese Hilfen hätten viele Einrichtungen über Wasser gehalten. Unklarheit besteht nun darüber, ob die Betreiber dieses Geld zurückzahlen müssen. Laut Gesetz erhalten nur die Betriebe staatliche Hilfen, die nicht bereits vom Staat unterstützt werden. „Der Chèque service ist eine solche Subvention“, sagt Arthur Carvas.

Existenznot Düster sieht die Lage ausgerechnet für Betreiber von Privatkrippen in reicheren Stadtvierteln wie Limpertsberg oder Merl aus. Bei ihnen klafft wegen des Lockdown ein Riesenloch im Budget. Weil die Eltern höhere Stundentarife zahlen und der Staat anteilig weniger, der Elternbeitrag aber während der coronabedingten Schließungen ausfiel, war auch der staatliche Zuschuss geringer und sind die finanziellen Ausfälle entsprechend höher. „In ungefähr 30 Strukturen auf dem Stadtgebiet zahlen Eltern im Regelbetrieb einen höheren Stundentarif“, sagt Carvas. „Bei ihnen geht es ums Überleben.“ 

Denn Miete und Personalkosten müssen die Privatanbieter, die Dienstleistungsschecks erhalten, trotzdem stemmen: Die Mitarbeiter in Kurzarbeit (Chomâge partiel) zu schicken, wie das andere Branchen konnten, die coronabedingt schließen mussten, geht im staatlich bezuschussten Betreuungssektor nicht. „Wir haben uns verpflichtet, das Personal über den Lockdown hinaus zu behalten und zu bezahlen“, so Arthur Carvas. Weil das Erziehungspersonal im Lockdown nicht arbeiten konnten und der Anteil des Staats je nach Einrichtung teils nur 70 Prozent der Kosten deckte, haben einige Betreiber die Gehälter der Mitarbeiter/innen während des Lockdown auf 80 Prozent gekürzt, zum Missfallen der Gewerkschaften, die 100 Prozent Lohnausgleich fordern. Andere Corona-Sonderhilfen, die das Wirtschaftsministerium in Aussicht stellte, können die Kindertagesstättenbetreiber nicht beantragen: „Das wäre auf eine Kumulierung von Beihilfen hinausgelaufen und die ist unzulässig.“, so Carvas. 185 Tageseltern, die als Selbständige gelten, haben im Juni einen Antrag auf eine einmalige Finanzspritze von 2 500 Euro gestellt, 35 bekamen sie bewilligt. 

Damit nicht genug: Anders als bei den konventionierten Einrichtungen, wo der Staat 75 Prozent der Kosten übernimmt und die Gemeinden 25 Prozent tragen, und wo im Falle von Defiziten Refinanzierungen zulässig sind, tragen die Privaten das volle finanzielle Risiko – auch im Pandemie-Szenario. „So funktioniert der Markt“, sagt Arthur Carvas und sieht die Privaten benachteiligt: Seit 2009, seitdem der Staat den Bau von Kindertagesstätten massiv gefördert hat, klagen die Privaten über Wettbewerbsverzerrungen. „Es ist ein unfairer Wettbewerb“, sagt Carvas, „die Coronakrise potenziert diese strukturellen Nachteile.“

Zur Erinnerung: Das Bezahlsystem der Chèques service wurden 2009 eingeführt und 2012 auf 7,50 Euro festgesetzt. Mit der Reform des Jugendgesetzes von 2016, das die Qualität der Kinderbetreuung verbessern sollte, kamen weitere Auflagen für die Betreiber hinzu: Mehr und besser ausgebildetes Personal, französisch-luxemburgische Sprachförderung. 2017 wurde ein einheitlicher Tarif von sechs Euro als Obergrenze sowohl für konventionierte und nicht-konventionierte Einrichtungen festgehalten, die der Staat maximal beilegt. Seitdem gab es mehrere Indexanpassungen, nur wurden die Dienstleistungsschecks darin nicht einbezogen – zum Unmut insbesondere der privaten und der kleinen Betreiber.

Die Regierung sieht keinen Anpassungsbedarf, denn sie betrachtet den Chèque service als eine Familienzusatzleistung (Allocation familiale), die von Indexpanpassungen ausgekommen sei. Eine Lesart, die die Felsea nicht teilt: Laut einer Europäischen Direktive von 2012 zähle die Kinderbetreuung zur „öffentlichen Daseinsvorsorge“; schon aus der Logik heraus seien die Tarife an den Index anzupassen. Aus derselben Logik habe die Regierung den Betreuungseinrichtungen, Mini-Crèches und Tageseltern versprochen, ihnen finanziell unter die Arme zu greifen, sollten ihre Einnahmen aufgrund der ausfallenden Elternbeiträge und der durch die Corona-Schutzmaßnahmen erforderliche Umstellung nicht zu schultern sein. Auch die Gemeinden wollen diesbezüglich Gespräche mit der Regierung aufnehmen. Das sei bisher noch nicht geschehen, so Emile Eicher, Leiter des Gemeindeverbands Syvicol.

Bei den Privaten sei die Stimmung derzeit verhalten-optimistisch, die Aussicht auf baldigen Normalbetrieb gibt Hoffnung auf Besserung: „Das Personal wartet nur darauf, wieder arbeiten zu können“, sagt Carvas. Bisher seien Verständnis und Solidarität unter den Mitgliedern groß gewesen: „Dass wir eine Nullrunde in Kauf nehmen müssen, ist den meisten Betreibern klar. Die Frage ist aber, wie groß die finanziellen Einbußen sein werden“, warnt Carvas. Seine Sorge ist, der Enthusiasmus könnte umschlagen, sobald die Betreiber spüren, dass die Löcher, die die coronabedingte Zwangspause gerissen hat, auch am Ende des Jahres nicht gestopft sind. „Dann könnte es zu mehr Konzentrationen und Übernahmen in der Branche kommen“, fürchtet der Felsea-Leiter. „Das ist gerade für die kleinen Betreiber gefährlich.“

Umfassende Reformen Der Dachverband hatte im Frühjahr der Regierung ein Weißbuch zur Situation der privaten Kindertagesstättenbetreiber vorgelegt, das unterschiedliche Forderungen enthält, eine gründliche Reform des Chèque service-Tarifsystems, darunter eine Neubewertung der Betreuungsleistungen, sowie eine Überarbeitung des Statuts der Betreiber. 

Da ist es vielleicht doch nur ein schwacher Trost, dass die Regierung ab 16. März alle noch bestehenden Beschränkungen aufheben will. „Wir sehen durch Corona noch deutlicher als vorher, wie dringend reformbedürftig das System der Chèques service ist“, betont Arthur Carvas. Schon vor der Coronakrise kämpfte die Branche mit einem Fachkräftemangel, insbesondere Erzieher der privaten Einrichtungen blieben oft nicht lange und wechselten aufgrund besserer Gehälter zu konventionierten Trägern, sobald dort eine Stelle frei wurde. Eben dieser Druck könnte sich noch verschärfen: „Natürlich sorgen sich jetzt Mitarbeiter um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes“, so Carvas. „Aber es geht nicht, dass wir sie ausbilden und dann nicht wirklich etwas davon haben.“

Andererseits: Will die Regierung, dass die Wirtschaft wieder rundläuft und alle Beschäftigten die Arbeit wieder aufnehmen, müssen dringend mehr Betreuungsplätze her, die Kindertagesstätten also endlich zum Normalbetrieb zurückkehren. Das gilt insbesondere für die Altersgruppe der Kleinkinder bis vier Jahre. „An Corona zeigt sich, wie eng der Betreuungs- und der Beschäftigungsmarkt miteinander verflochten sind“, unterstreicht Carvas. „Kommt es dort zu massiver Arbeitslosigkeit, schlägt das auch in unserer Branche voll durch.“

* Name der Redaktion bekannt

Ines Kurschat
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