Die Lockerungen des Lockdown sind für alle Menschen gleich.
Wirklich? Menschen mit Behinderungen werden diskriminiert

„Totale Inklusion“

d'Lëtzebuerger Land du 12.06.2020

„Ich habe nicht einmal das Recht, mich an die Regeln zu halten, weil ich hier nicht raus darf.“ Es sind eindringliche Worte, mit denen Carine Nickels ihre Lage und die anderer Bewohner des Behindertenheims in Dalheim beschreibt. „Ich würde ja gerne“, sagt die junge Frau in einem fünfminütigen selbstgedrehten Video. Zum zweiten Mal seit Ausbruch der Pandemie wendet sich die Bewohnersprecherin via Youtube an die Öffentlichkeit. „Die da draußen bekommen nicht mit, wie es uns hier drinnen geht.“

Von „totaler Inklusion“ hatte Corinne Cahen gesprochen: Mehr als elf Wochen nach dem ersten bekannt gewordenen Fall von Covid-19 habe es im Behindertenbereich keinen einzigen bestätigten positiven Fall gegeben, so die Familienministerin vergangene Woche gegenüber Radio 100,7 stolz. „Das, was für alle Leute gilt, gilt auch für die Leute im Behindertenbereich, respektive das, was für die Leute im Behindertenbereich gilt, gilt auch für all die anderen Leute hier im Land“, so die Zwischenbilanz der DP-Politikerin.

Plausch auf der Terrasse Das erleben Betroffene jedoch ganz anders. „Das ist, wie wenn eine Bevölkerung einen Teller Suppe bekommt und dann heißt es, alle müssten die Suppe mit dem Löffel essen.“ Aber während „die normalen Leute“ einen Löffel bekommen, bekämen die Behinderten keinen Löffel, beschreibt Nickels die ungleichen Lebensrealitäten unter Covid-19. Dass Menschen, die zur Risikogruppe zählen oder die Regeln nicht verstehen, extra geschützt werden müssen, sieht sie ein: „Aber ich bin geistig fit; ich weiß, wozu die Schutzmaßnahmen gut sind, und halte mich daran.“ Trotzdem darf Nickels das Gebäude nur zum Plausch auf der Terrasse verlassen.

Dem Personal macht Nickels keinen Vorwurf. „Die Pfleger haben versucht, das Beste aus der Situation zu machen.“ Dass bis heute kein positiver Covid-19-Fall im Behindertenbereich gemeldet wurde, sei dem unermüdlichen Einsatz des Pflegepersonals zu verdanken, das unter hohem Druck und schwierigsten Bedingungen arbeite: Wie in vielen anderen Häusern fehlte es in Dalheim zunächst an Masken und Schutzkleidung.

Dass Menschen mit Behinderungen allgemein, insbesondere aber die, die in Heimen leben, nicht auf Augenhöhe einbezogen werden in Entscheidungen, die sie betreffen, kritisieren Behindertenselbsthilfegruppen wie Nëmme mat eis seit Jahren. Viele verlören fundamentale Rechte, wie das Recht, den behandelnden Arzt selbst zu wählen, sobald sie in ein Heim kommen, schreibt der OGBL in einem Kommunikee zur „maltraitance institutionelle“. „Die Corona-Krise hat die Diskriminierungen verschärft“, warnt Joël Delvaux, OGBL-Behindertenrechtsbeauftragter. Zwar sei während des Lockdown die Bewegungsfreiheit der gesamten Bevölkerung eingeschränkt worden, aber: „In den meisten Behindertenheimen leben die Bewohner noch immer fast komplett abgeschottet“, stellt er fest. „Dabei zählt nicht jeder Behinderte automatisch zur Risikogruppe.“ Delvaux verweist auf die von Luxemburg ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention: „Menschen mit Behinderungen sind in sie betreffende Entscheidungen unbedingt einzubeziehen.“

Über ungleiche Behandlung im Vergleich zur übrigen Bevölkerung klagen auch Angehörige von Bewohnern in Alten- und Pflegeheimen. War zu Beginn der Pandemie jeglicher Besuch von außen verboten, variierte der Grad an Bewegungsfreiheit in den Strukturen je nachdem, in welchem Heim jemand lebt: „Es gab und gibt Häuser, da konnten die Bewohner direkt nach der Aufhebung des pauschalen Besuchsverbots wieder Besuch empfangen. Andere waren zum selben Zeitpunkt noch auf ihrem Zimmer“, berichtet Michèle Wennmacher von der Patientevertriedung.

Für viel Empörung hatte die Entscheidung von Heimträgern und Kliniken gesorgt, sogar im Sterbefall keinen Besuch zu erlauben. Enkelkinder berichteten davon, dass sie ihre an Covid-19-erkrankten Großeltern nicht verabschieden konnten und diese einsam starben, weil die Leitung es nicht anders gestattete (d’Land vom 1.5.). „Das waren schreckliche Geschichten“, erinnert sich Diane Dhur von Omega 90. „Für die Angehörigen ist das traumatisch.“ Die Präsidentin des Vereins für Palliativmedizin und Sterbebegleitung hatte die Regierung per offenen Brief aufgefordert, Todkranke vom Besuchsverbot auszunehmen.

Diese Praxis hatte die Familienministerin damit erklärt, die Regeln zum Besuchsrecht mache nicht sie, sondern das Gesundheitsministerium; die Entscheidung liege bei den Trägern. Erst als der öffentliche Druck so groß war, weil Angehörige ihre Geschichten via soziale Netzwerke teilten, gab die blau-rot-grüne Regierung ihr kategorisches Nein auf. Aber nicht sofort: Auf einer bemerkenswerten Pressekonferenz am 28. April beharrten Cahen und Marc Fischbach, Präsident des Heimträger-Dachverbands Copas, noch darauf, diese Entscheidung weiterhin den Heimleitungen zu überlassen. Am 4. Mai dann die Kehrtwende: Per Verordnung gestattete die Gesundheitsdirektion endlich Zusammenführungen von Todkranken und ihren Angehörigen – unter strikter Einhaltung der Schutzmaßnahmen wie Maske, Schutzanzüge und Sicherheitsabstand.

Doch was für Sterbenskranke mit einem Mal ging, geht für Gesunde weiterhin nicht, trotz offiziellem Déconfinement: Bis vor wenigen Wochen war Kindern unter 16 Jahren der Zutritt zu Altersheime verboten, was zu absurden Situationen führte wie die, dass ein 16-Jähriger den gemeinsamen Opa besuchen konnte, der elfjährige Bruder aber nicht. Erst als frustrierte Kinder sich mit Protestbriefen an die Familienministerin wandten, wurde die Altersgrenze aufgehoben.

Pfleger als Aufpasser Dem Land liegen mehrere Berichte vor, wonach Alten- und Behindertenheime die Regeln um Ausgang und Besuch sehr unterschiedlich auslegen und umsetzen: So dürfen die Bewohner einer Einrichtung im Osten des Landes nur eine halbe Stunde Besuch empfangen, obwohl das Heim in einem Dorf liegt und die Anfahrtszeit aus der Hauptstadt mehr als 30 Minuten beträgt. Im Heim eines Trägers im Süden, in dem Menschen mit ähnlichen Behinderungen leben, gilt dagegen eine Besuchszeit von einer Stunde. Eine Erklärung für die ungleiche Behandlung gibt es nicht. Die meisten Treffen finden in einem eigens dafür hergerichteten Saal hinter Plexiglas, auf dem Balkon oder auf der Terrasse statt – unter Aufsicht durch das Personal.

„Wie sollen da persönliche Gespräche möglich sein?“, fragt Michèle Wennmacher. Eine Frau hatte sich bei der Patientevertriedung beschwert, die mit ihrem im Heim lebenden Ehemann nach Wochen Kontaktsperre endlich dringende Finanzfragen besprechen wollte. Sie durfte dies aber nicht unter vier Augen tun. „Die Frau hat das als Verstoß gegen ihre Menschenwürde erlebt.“ Joël Delvaux vom OGBL wird deutlicher: „Das ist eine Frechheit und zeigt, dass Heimleitungen elementare Rechte auf Privatsphäre nicht ernstnehmen“, empört sich der Gewerkschafter, der selbst in einem Rollstuhl sitzt. Oder, wie es ein Heimbewohner beschreibt: „Das ist strenger als im Gefängnis.“ Anwälte dürfen mit Häftlingen im Rahmen ihr Mandats ohne Aufsicht reden.

In einem anderen Heim sitzt das Personal bei Besuch in etwa drei Metern Entfernung. „Sie stören uns nicht“, erzählt ein Betroffener dem Land. „Aber gut finde ich das nicht.“ Die meisten Bewohner/innen seien noch im Zimmer eingesperrt und könnten bis heute nicht raus. Zur Erinnerung: Das pauschale Besuchsverbot hatte Staatsminister Xavier Bettel am 28. April (!) aufgehoben. Ein Bewohner, der die Einsamkeit nicht länger aushielt und mit dem Adapto-Bus kurzerhand eine Freundin besuchen fuhr, musste 14 Tage in Quarantäne. „Das war es mir wert“, sagt er bestimmt.

Auch im Blannenheem in Mersch, wo Angehörige von Bewohnern wegen einer angeblich miserablen Kommunikation und schlechten Behandlung durch die Heimleitung Alarm schlugen – dies nicht nur während Corona-Zeiten –, ging es unter anderem um Besuche, die verweigert, respektive erst mit zwei Wochen Verzögerung ermöglicht wurden: Der inzwischen vom Verwaltungsrat geschasste Direktor Jean-Paul Grün, durch Interim Christian Erang ersetzt, hatte die Verspätung im Tageblatt mit Lieferengpässen bei den Plexiglasschutzvorrichtungen begründet. Andere Bewohner/innen berichteten, ihnen seien zwei Wochen Quarantäne angedroht worden, sollten sie vor die Tür gehen. Angehörige bekamen eigenen Aussagen zufolge nur 20 Minuten Besuchszeit erlaubt.

Paternalistische Praxis „Wir haben binnen einer Woche Plexiglas ins Büro geliefert bekommen und eingebaut“, wundert sich Michèle Wennmacher. Der Verein, der sich für die Rechte von Patienten einsetzt, hatte sich, weil sich die Klagen häuften, des Falls Blannenheem angenommen und war zunächst mit einer Mitteilung, dann mit einer Pressekonferenz vergangene Woche an die Öffentlichkeit gegangen. „Uns ging es nicht um eine Entlassung des Direktors, sondern darum, dass der Träger mit den Heimbewohnern spricht und Lösungen findet“, unterstreicht Wennmacher. Bisher sei das nicht geschehen.

Dass Corona die Heimleitungen vor große organisatorische Herausforderungen gestellt hat, weiß sie: „Für uns alle war die Situation neu und unbekannt.“ Inzwischen aber hätten Ministerium und Träger genügend Zeit gehabt, alle nötigen Vorkehrungen zu treffen, meint Wennmacher: „Wir bekommen Beschwerden von Angehörigen, die ihr Besuchsrecht noch immer nicht voll ausüben können.“ Woran das liegt, sei unklar; die Praktiken unterschieden sich von Haus zu Haus.

In den Empfehlungen der Copas an die Heimleitungen vom 29. Mai zum Déconfinement steht allgemein und unverbindlich: „Anzahl und Dauer der Visiten können erhöht werden“. Auf Nachfrage des Land, ob es ein Mindestbesuchsrecht gibt, das jedes Heim seinen Bewohnern gewähren muss, heißt es nur: „Nein, das gibt es nicht.“ Auch eine Liste mit den unterschiedlichen Regeln, nach Heim ausgeschlüsselt, führt der Dachverband nicht. Auf vielen Webseiten ist indes nicht zu erkennen, wie ein Haus Besuchs- und Ausgehrechte umsetzt – wenn da überhaupt etwas zu Covid-19 steht. Die Patientevertriedung wandte sich in einem Brief an die Copas, um Klarheit zu bekommen, bisher ohne Antwort. Auch bei den Behindertenheimen fehlt eine solche Gesamtübersicht.

Bewohner/innen, die ihre Rechte verletzt wähnen, empfiehlt die Copas, sie mögen sich ans Seniorentelefon des Familienministeriums wenden. Auf die Nachfrage, wer kontrolliere, dass Heimleitungen das Besuchsrecht richtig umsetzen, geht die Copas nicht ein. Dabei steht in der Copas-Ethikcharta vom Oktober 2014, Bewohner/innen und Angehörige seien über „jedes wichtige Ereignis“ zu informieren, das sie oder ihre Angehörigen betrifft. Abhängige Personen hätten „die gleichen Rechte wie jede andere Person“, darunter der Respekt vor der autonomen Lebensführung und der Menschenwürde. Heimträger seien verpflichtet, ein „gerechtes Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung“ zu suchen.

Fehlende Kontrolle Die nationale Menschenrechtskommission, die Antidiskriminierungsstelle CET und der Mediateur wollen solche und andere Missstände nicht länger hinnehmen: Sie fordern die Regierung auf, künftig eine Aufsicht für den Heimbereich einzusetzen. „Mehr als den Leuten zuzuhören, können wir derzeit nicht“, bedauert Ombudsfrau Claudia Monti. „Die Regierung muss uns die Zuständigkeit für die Aufsicht der Heimeinrichtungen übertragen“, sagt Monti.

Corinne Cahen hatte im RTL-Interview gesagt, die letzten Wochen und Monate seien „ganz schwer“ gewesen für die Heimbewohner, „aber auch für das Personal, das dort arbeitet“. Die mehr als 6 000 Mitarbeitenden hätten Großes geleistet und sich „formidabel um die Leute gekümmert“, so die Ministerin. Es sind Akzentsetzungen wie diese, die Betroffene nicht mehr hören mögen, wie sich in zahlreichen entrüsteten Kommentaren zeigt. Cahen weist die Kritik zurück: Ihr Ministerium erteile zwar das Agrément, also die Betriebserlaubnis. Die sei jedoch vorrangig ans Gebäude gebunden und habe „höchstens noch mit dem Personalschlüssel“ zu tun. „Wir mischen uns nicht in die Häuser ein. Das sind Privatunternehmen.“

Genau diese Passivität macht die Betroffenen zunehmend wütend: „Die spielen Ping-Pong mit uns“, sagt Joël Delvaux verärgert. Er sieht eine Politik auf dem Rücken von Menschen, die sich aufgrund von ihrer Gebrechlichkeit oder Behinderung nur schlecht wehren können und auf Hilfe angewiesen sind. Auch deshalb würden nur wenige offen reden: Sie fürchteten Repressionen und negative Konsequenzen für ihr Leben im Heim.„Das ist Quatsch“, findet Carine Nickels selbstbewusst. Die Rollstuhlfahrerin lässt sich das Wort nicht verbieten und glaubt nicht, dass es Vergeltungsmaßnahmen für Kritiker von Missständen gibt: „Ich sage immer, was ich denke.“ Als Bewohnersprecherin setzt sie sich für die Rechte ihrer Mitbewohner/innen ein. Im Prinzip hat jedes Haus einen Sprecher und/oder sogenannte Heimräte, bloß werden diese nicht immer konsultiert. Und im Covid-19-Krisenszenario wohl gar nicht.

„Ich habe ein Problem mit den Aussagen der Ministerin“, sagt Marc Spautz. „Die Heime fallen in ihren Kompetenzbereich. Ergo müsste die Familienministerin den Lead haben, wenn es darum geht, Maßnahmen im Heimbereich umzusetzen“, so der sozialpolitische Sprecher der CSV, der früher selbst das Familienressort innehatte. Er verweist auf Cahens Parteikollegen, Bildungsminister Claude Meisch, der das Recht auf Bildung trotz sanitärer Auflagen durchgesetzt habe. Spautz hat diese Woche eine aktuelle Stunde im Parlament zur Lage in den Heimen beantragt. „Was Herr Meisch kann, kann Frau Cahen sicher auch.“

Ines Kurschat
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