„Systematisch“ würden Schwangere vom ersten Tag an eine Arbeitsbefreiung erhalten, sagt der Sozial­minister, und will das ändern

Der neue Missbrauch

d'Lëtzebuerger Land du 07.10.2010

Mit der Vorlage zur Gesundheitsreform Ende Juli kam die Rede auf einen neuen Missbrauch am System: die Arbeitsbefreiungen für Schwangere. Gesundheits- und Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) beschrieb das Problem mit starken Worten: „Systematisch, wirklich systematisch und immer systematischer wird eine Arbeitsbefreiung ab dem ersten Schwangerschaftstag erteilt.“ Ein wenig erinnerte das an die Kriegserklärung des Ministers an die Adresse der „Krankenscheinautomaten“ in der vorigen Legislaturperiode.

Allerdings gibt es über die Arbeitsbefreiungen Zahlen von der Gesundheitskasse CNS und der Generalinspektion der Sozialversicherung IGSS, die durchaus für sich sprechen. 2009 nahmen die Ausgaben für Lohnersatz für Schwangere mit Arbeitsbefreiung um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu. Der Ausgabenzuwachs für den regulären Mutterschaftsurlaub war nicht mal halb so hoch, und das scheint ein längerfristiger Trend zu sein: Zwischen den Jahren 2000 und 2009 wuchsen die Gesamt-Geldleistungen für Mutterschaft um etwas mehr als das Doppelte und stiegen von 45,2 Millionen auf 101,5 Millionen Euro. Die Kosten für Arbeitsbefreiungen dagegen stiegen nahezu um den Faktor fünf und von 4,2 Millionen auf 20,2 Millionen Euro.

Woran das wohl liegt? Sicher nicht allein an der Zunahme der Schwangerschaften beziehungsweise der Entbindungen; deren Zahl wuchs 2009 im Vergleich zum Vorjahr nur um knapp zwei Prozent. Und vermutlich auch nicht nur daran, dass während des starken Arbeitsplatzzuwachses in den Jahren vor der Krise vor allem Arbeitnehmerinnen im so genannten gebärfähigen Alter neu eingestellt und bereits kurz darauf schwanger geworden wären. Arbeitsbefreiungen sollen ja auch nur dann erteilt werden, wenn die Schwangere an ihrem Arbeitsplatz untragbaren Gesundheitsrisiken ausgesetzt ist und die Risiken sich durch betriebsinterne Maßnahmen nicht beseitigen lassen. So steht es im Arbeitsgesetzbuch.

Die damit verbundene Prozedur hat drei Stufen: Zunächst muss der Arbeitgeber einen Arbeitsmediziner einschalten und mit diesem untersuchen, ob die Gesundheitsrisiken durch „Veränderungen“ am Arbeitsplatz vermieden werden können. Klappt das nicht, muss der Arbeitgeber – weiterhin in Abstimmung mit dem Arbeitsmediziner – die Schwangere ohne Gehaltseinbuße anderweitig beschäftigen. Erst wenn das ebenfalls nicht möglich ist, erteilt der Arbeitgeber auf ein erneutes arbeitsmedizinisches Gutachten hin eine Arbeitsbefreiung. Wie lange sie gilt, entscheidet der Arbeitsmediziner. Wird eine Arbeitsbefreiung nicht gewährt, kann die schwangere Arbeitnehmerin dagegen Einspruch vor den Gerichtsinstanzen der So-zialversicherung einlegen.

Einzelheiten über die Arbeitsbefreiungen Schwangerer will die IGSS Ende des Jahres in ihrem Jahresbericht veröffentlichen. Bis dahin teilt sie so viel mit: In bestimmten Branchen würden solche betriebsinternen Maßnahmen „in der Regel gar nicht“ ergriffen. Das sei vor allem in Krankenhäusern so, aber auch im „Sozialsektor“. Dass es sich dabei um Branchen handelt, wo Gehälter gezahlt werden, die sich an der Lohnentwicklung im öffentlichen Dienst orientieren, erklärt vielleicht einen Teil des Ausgabenwachstums von den Geldbeträgen her.

Dass viele Arbeitsbefreiungen erteilt werden, bestätigt auch Carlo Steffes, Chef des Arbeitsmedizinischen Dienstes im Gesundheitsministerium: Bezogen auf die rund 5 000 Entbindungen im Jahr 2009 gab es 2 100 Anträge auf Arbeitsbefreiung. 1 700 Mal wurde die Befreiung auch gewährt; immerhin eine Quote von rund 80 Prozent. Nur in acht Prozent der 2 100 Fälle erhielt die Schwangere ihren Arbeitsplatz angepasst oder wurde betriebsintern umgesetzt. Tatsächlich würden viele Arbeitsbefreiungen in den Krankenhäusern erteilt, sagt Steffes. Doch das liege auch an dem dort mit fast 80 Prozent sehr hohen Frauenanteil am Pflegepersonal. Das Gros der Arbeitsbefreiungen würde in „Klein- und Mittelbetrieben“ vergeben. Aber dazu zähle auch der Sozialsektor, die Kinderbetreuungseinrichtungen zum Beispiel.

Dass solche Zahlen den Minister beunruhigen, ist gerade in Zeiten gewachsener Haushaltsdisziplin nicht unverständlich: Noch ist es der Staat, der für sämtliche Mutterschaftsleistungen zahlt; seien es Sachleistungen, wie Arzt- und Hebammenhonorare oder die Entbindung im Spital, seien es Geldleistungen, wie für den Mutterschaftsurlaub oder die Arbeitsbefreiungen. Weil die Ausgaben für Mutterschaft seit Jahren stärker zunehmen als alle Branchen der CNS, soll die Maternité den CNS-Leistungen zugeschlagen und aus Beiträgen finanziert werden.

„Kontrolliertere Handhabung und mehr Überwachung“ durch die Organe der Sozialversicherung sollen das Ausgabenwachstum bremsen, hieß es schon vor einem Jahr. Heute hofft Mars Di Bartolomeo, dass die Arbeitgeber sich verantwortlicher fühlen würden, wenn die Mutterschaftsleistungen unter die Regie der CNS gestellt werden. Denn wenn der Staat ohnehin für alle Kosten aufkommt, könnte es einem Betrieb recht sein, eine schwangere Beschäftigte vom ersten Tag in den staatlich bezahlten verlängerten Mutterschaftsurlaub zu schicken, statt aufwändige Anpassungen und Umsetzungen vorzunehmen.

Allerdings sind die Verhältnisse nicht ganz so simpel. Seit 2001 werden die Arbeitsbefreiungen nach EU-weit harmonisierten Prozeduren erteilt, doch die Mitgliedstaaten legen fest, worin überhaupt ein Gesundheitsrisiko für Schwangere besteht. Die für Luxemburg geltenden Risiko-Definitionen stehen in Anhängen zum Code du travail, „und wir Arbeitsmediziner halten uns nur an das, was im Gesetz steht“, sagt Carole Picard vom Arbeitsmedizinischen Dienst des Krankenhausverbands EHL. Und im Gesetz steht zum Beispiel, dass das Heben von Lasten über fünf Kilogramm schon ein unzumutbares Risiko darstelle. In der französischen Gesetzgebung ist dazu überhaupt nichts festgelegt. Und während in Belgien 80 Prozent der Arbeitsbefreiungen wegen toxischen oder Infektionsrisiken erteilt werden, werden hierzulande 80 Prozent mit Gefahren durch häufiges Heben oder langes Stehen begründet.

Dass die Arbeitsmediziner nur den „strikten Vorgaben“ folgen, findet auch Carlo Steffes. Wozu überdies die einschlägige Rechtssprechung beitrage: Im Schnitt werde zweimal monatlich ein Einspruch gegen eine nicht erteilte Arbeitsbefreiung eingelegt. Der Schiedsrat der Sozialversicherung gebe den Einsprüchen „quasi immer statt“.

Wäre eine deutliche Senkung der Arbeitsbefreiungen also nur mit einer Gesetzesänderung zu haben, die die Risiken für Schwangere anders definiert? Möglich ist das schon; vorgesehen ist es jedoch auch im Rahmen der Gesundheitsreform nicht. Und das Beispiel des Centre hospitalier du Nord in Ettelbrück und Wiltz zeigt, dass sich sogar in einem Krankenhaus, einem naturgemäßen Risikobetrieb, die Zahl der Arbeitsbefreiungen klein halten lässt. „Von 40 schwangeren Mitarbeiterinnen kann ich 30 Änderungen an ihrem Arbeitsplatz anbieten, so dass sie bleiben können“, sagt Pflegedirektor René Haagen.

Wieso auch nicht – wird doch in der IGSS vermerkt, dass schwangere Medizinerinnen, die Freiberufler sind und als Belegärztinnen in den Kliniken tätig, „im Grunde bis zum Beginn ihres regulären Mutterschaftsurlaubs weiter arbeiten“. Bei angestellten Paramedizinerinnen stellt sich, nicht zuletzt angesichts der strikten Rechtslage, ein komplexeres Problem. Da müssen Personaldelegationen gewonnen, die Vorgesetzten und nicht zuletzt die betroffenen Mitarbeiterinnen selbst überzeugt werden.

„Im Ettelbrücker Hôpital Saint-Louis gehört es zu der 2005 vom Verwaltungsrat bestätigten Betriebsstrategie, auf Veränderungen am Arbeitsplatz Schwangerer zu setzen“, sagt René Haagen. Eine Arbeitsbefreiung, sobald sie sich als schwanger melden, erhielten nur Radiologie-Assistentinnen wegen der Gefahren für den Fötus, die von ionisierender Strahlung ausgeht, und Labor-Assistentinnen wegen der bakteriellen Infektionsgefahren. Mit den meisten anderen Risiken lasse sich umgehen: Gegen Infektionen schütze das Tragen von Handschuhen, Augen- und Mundschutz; zum Heben von Patienten müsse man Schwangere nicht einsetzen, und abgesehen davon gebe es in einer Klinikstation eine Menge Verwaltungsarbeit, die das Pflegepersonal normalerweise ad hoc und reihum erledigt, die aber ohne Weiteres auf eine schwangere Mitarbeiterin konzentriert werden könne: Telefonate entgegen nehmen, das Patientendossier vorbereiten, die Verteilung von Mahlzeiten und von Medikamenten überprüfen und nicht zuletzt die angehenden Krankenschwestern und -pfleger vom Gesondheetslycée bei ihren Praktika in der Klinik betreuen.

Eine solche Strategie umzusetzen, selbst wenn sie vom Verwaltungsrat bestätigt wurde, kostet allerdings Zeit. Erst seit ungefähr zweieinhalb Jahren werde sie in dem Ettelbrücker Krankenhaus als alltäglich empfunden, und es werde „nur noch spärlich darüber diskutiert“, bilanziert der Pflegedirektor. Immerhin geht es auch darum zu verhindern, dass eine schwangere Mitarbeiterin sich krankschreiben lässt. Das wäre die schlechteste Lösung: Die vakante Stelle lässt sich nicht zeitweilig besetzen, und im Rahmen der Lohnfortzahlung wird unter Umständen über drei Monate lang Krankengeld fällig.

An der Frage der Krankschreibungen liegt es, dass man beim OGBL die vom Minister ausgelöste Diskussion um die Arbeitsbefreiungen sowie die Übernahme der Mutterschaftsleistungen in die Finanzierung durch die CNS kritisch sieht und die Reform in diesem Punkt für „noch nicht zu Ende gedacht“ hält. Denn genauso wenig wie die erteilten Befreiungen heute kontrolliert werden, ist das in der Zukunft vorgesehen. Der medizinische Kontrolldienst der Sozialversicherung etwa hat keinerlei Befugnis, die Entscheidungen von Arbeitsmedizinern zu überprüfen.

Ohne eine Handhabe der CNS aber werde es nicht gehen, meint OGBL-Sozialsekretär Carlos Pereira. „Auf keinen Fall darf es so sein, dass man die Arbeitsbefreiungen bekämpft und sich viele Schwangere dann krankschreiben lassen.“ So dass die Regierung am Ende vielleicht doch nicht umhin kommen wird, das Gesetz über den Schutz Schwangerer mit seinen Risikodefinitionen zu überprüfen, oder sich eine gewitzte Lösung einfallen lassen muss, um die Betriebe dafür zu interessieren, Schwangere länger zu beschäftigen. Andernfalls könnte, noch ehe die zuständige Hochrangige Arbeitsgruppe die Auswirkungen des Einheitsstatuts ausgewertet hat, ein erneuter Krankenschein-Konflikt zwischen Patronat und Gewerkschaften drohen.

Peter Feist
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