Einen Bildband von Picasso wünsche ich zu erstehen. Kann ja nicht so schwer sein, Herr Picasso ist einigermaßen berühmt, gibt sicher in der nächsten großen Buchhandlung einen dieser Kunstziegel mit hochglänzenden, deplatzierten Körperteilen. In mehreren Buchhandlungen im Wiener Zentrum finde ich außer einem postkartengroßen Bändchen nichts. Wie? Me Too?, scherze ich in der letzten. Der junge bärtige Mann nickt eifrig. Picasso war ein Chauvi-Schwein, von denen wird nicht mehr so viel geliefert. Hoffentlich ist eure Kunstabteilung nicht bald leer, murmele ich beklommen, wer weiß, was Hieronymus Bosch alles aufgeführt hat!
Das Schaufenster der cleanen Buchhandlung ist voll von Schiele-Bänden.
Im New Yorker Metropolitan bringt eine Künstlerin oder Aktivistin neben den Werken von Gauguin, Picasso und Balthus Hinweise an, die über „the sexual misconduct“ dieser Künstler informieren. Dass Gauguin zum Beispiel auf Tahiti und Hiva Oa seine Teenager-Ehefrauen mit Syphilis infizierte. Die Künstlerin nennt das Anbringen dieser Hinweise „Guerilla Performance“, das Museum entfernt sie alsbald.
Sie will sich nicht als Zensorin sehen, sondern, so schreibt sie, das Publikum lediglich über die dunkleren Seiten der Künstler unterrichten.
Welch löbliches Unterfangen! War es nicht gerade die dunkle Seite der Kunst, die fesselte, galt sie nicht geradezu als Voraussetzung für Kunst? Waren es nicht gerade die, die sich nicht den Normen der Zeit fügten und sie verrückten, die Verrückten, die faszinierten? Waren es nicht gerade die, die besessen in ihrem Dunkel wühlten, die uns erhellten? Berauschten? Trakl nahm Drogen, Warnhinweis also auf jeden Lyrikband, würde den Umsatz vielleicht steigern. Trakl war seiner Schwester verfallen und sie ihm, fällt der vermutliche Bruch des uralten Tabus auch unter sexual misconduct? Also ebenfalls Warnhinweis?
Ein Mensch ohne dunkle Seite, das klingt totalitär, beängstigend, unheimlich wie ein Scientology-Alien. Kunst ist ein Kampf mit dem eigenen Dunkel oder dagegen, Kunst ist der Versuch, das eigene Dunkel zu lichten.
Oder ist das alles old school, dreckige Romantik, nur eine letzte Degeneration, die sich mit Katholizismus und Puritanismus abmühte, jede Grenzüberschreitung als Befreiung feierte und den Blumen des Bösen noch was abgewinnen konnte? Und sich zu den Kompliz_innen der alten heroes machen, die so viele Weiber ins Unglück stürzten. Aber auch ins Glück, greisinnenmurmeln sie trotzig vor sich hin, Charisma, magnetische Anziehungskraft. Künstler! Sind doch Künstler! Von _innen reden wir nicht, wir sind ja im Museum, wir blättern in vergilbten Taschenbüchern, in denen Vorfahren sich austobten, sie tobten sich auch im Leben aus, wenn eine _in sich austobte, kostete sie das meist ordentlich was, den Ruf mindestens, den Verstand, das Leben.
Was aber jetzt mit den dreckigen Dichtern, den Malern, die ihre Musen und Models, pragmatisch veranlagt wie selbst die größten Genies sind, zu ihren Haus-Frauen machten, den Rock-Stars, die mit minderjährigen Groupies Dinge taten, die eine vor Dekaden vor Neid erblassen ließen, sollen wir sie jetzt alle verbannen? Diese geilen Genies, diese narzisstischen Sonnenkönige, in deren Schatten Frauen siechten, über deren Genie sie großzügig hinwegsahen. In die SchmuddeIecke der Dirty White Old Men zumindest, versehen mit dem Laster-Label? Keinen Film mehr von Woody Allen, und wenn, dann nur mit Prophylaxe? David Bowie nur noch für Vorgewarnte? Nur noch in ethisch gereinigte Museen?
Wer ist die Jury? Ist Henry Miller, der Mann meines Lebens, mit dem ich so viele tolle Tage und Nächte verbrachte, das potenteste Anti-Depressivum, wirklich nur ein Sexist? Klar, ich kann ihn aus dem Bett werfen, wenn ich genug von ihm habe, und ihn zehn Jahre ins Regal stellen, sicher von Vorteil. Bestimmt hat er sich sexuellen Fehlverhaltens schuldig gemacht. Aber wer schrieb schönere Hymnen an Huren mit Goldzähnen und schief getretenen Absätzen? Hure sagt man nicht mehr. Sexarbeiterin.
Kann man Hymnen an Sexarbeiterinnen schreiben? Darf man? Oder ist das sexuelles Fehlverhalten?