Leitartikel

6 382 Kilometer

d'Lëtzebuerger Land du 16.11.2018

Die Entfernung zwischen Luxemburg und der amerikanischen Hauptstadt beträgt 6 382 Kilometer Luftlinie. Aber manchmal scheint es bis nach Washington D.C. nur ein Katzensprung zu sein. Vergangene Woche war die Aufregung in internationalen Medien groß, als US-Präsident Donald Trump den CNN-Journalisten Jim Acosta während einer Pressekonferenz beschimpfte, ihn als „rude, terrible person“, als „unhöfliche, schreckliche Person“ bezeichnete, weil er unangenehme Fragen stellte. Eine Mitarbeiterin des Pressedienstes versuchte, Acosta das Mikrofon zu entreißen.

Vor genau vier Jahren beschimpfte Finanzminister Pierre Gramegna (DP) beim Pressebriefing nach den Luxleaks-Veröffentlichungen mit fast identischen Worten eine Journalistin, als sie wie eine Schülerin die Hand hob, um das Mikrofon zurückzufordern, das ihr ein Ministeriumsmitarbeiter weggenommen hatte. Die Geste sei „von einer unglaublichen Unfreundlichkeit“, schimpfte der Minister. Bei einem der seltenen Briefings, die Staatsminister Xavier Bettel in den vergangenen beiden Jahren nach der wöchentlichen Kabinettssitzung abhielt, und zu denen er stets mit Leibwache erscheint, erteilte sein Mitarbeiter nach kurzer Zeit niemandem mehr das Wort, obwohl es offene Fragen gab. Während die Bodyguards ihren wachsamen Blick über den Saal schweifen ließen, beendete er das Briefing, weil Bettel am Rednerpult keine gute Figur abgab.

Auch nach Moskau ist es von Luxemburg aus nicht weit. Nämlich wenn bei offiziellen Presseterminen nur noch ausgewählte Journalisten im Voraus mitgeteilte Fragen stellen dürfen. Wie bei der Visite von Angela Merkel Anfang 2017. Oder im März bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Bettel und EU-Ratspräsident Donald Tusk in dem von Soldaten gesicherten Schloss in Senningerberg. Nicht zufällig wählten Bettels Mitarbeiter die Frage aus, die ihm eine Vorlage lieferte, um gegen einen politischen Gegner zu wettern, in diesem Falle EU-Kommissar Pierre Moscovici, der Luxemburgs Steuerpolitik angeprangert hatte.

Anfang September warteten Dutzende Journalisten stundenlang im Schloss Junglinster, sprinteten dann unter dem Kommando des Pressedienstes mit ihrem Material durch enge Schlosstreppen, quetschten sich in einen winzigen Saal, damit schließlich vier von ihnen Xavier Bettel, Emmanuel Macron, Charles Michel und Mark Rutte eine Frage stellen durften, bevor alle aufspringen und schnell zum Buskonvoi zurücksprinten mussten.

Diese Theaterform führte in Luxemburg niemand anderes als der russische Präsident ein, als er ein halbes Jahr nach der Ermordung von Anna Politkovskaya im Mai 2007 zur Staatsvisite kam. Bei ihrer Ankunft zur gemeinsamen Pressekonferenz von Staatsminister Jean-Claude Juncker und Wladimir Putin in Senningerberg wurde den Journalisten vom Pressedienst mitgeteilt, Fragen seien nicht möglich. Dieses Privileg war drei, vier Reportergrößen vorbehalten, deren geschmeicheltes Ego sie verleitet hatte, bei dieser Scharade mit ein paar Gefälligkeitsfragen freie Presse zu spielen. Mit grimmigen Blicken und ohne Mühe verhinderten die breitschultrigen Leibwächter des russischen Präsidenten, dass andere ohne Mikrofon Fragen in den Raum warfen.

Damals löste dieses Vorgehen unter denen zu Statisten degradierten Pressevertretern noch Empörung aus. Heute ist diese Methode zur Normalität geworden und wird kaum noch hinterfragt. Unter dem Druck, etwas berichten zu müssen, gehen Rechte und Pressefreiheiten schnell flöten. Statt sich gegen Öffentlichkeitsberater zu wehren, die sie einschränken wollen, spielen Reporter das Spiel mit, indem sie zu verhandeln beginnen, wer zu welchem Thema eine Frage stellen soll und darf.

Michèle Sinner
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