Viele wenden sich heute ab von der Religion. Sie haben deren institutionalisiertes Schein-Wissen von dem, was die Welt der Lebenden ausmacht, satt. Die Vertreter der Religion (meist Männer) haben weniger Erfahrung und weniger Wissen als die, die sie belehren wollen, so dass ihre Haltung nur zur Indoktrination führt. Und wer will sich von Autoritäten führen lassen, deren Wissen sich längst als überholt erwiesen hat? Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass gerade in den zentralen Fragen der Sexualität Menschen zu Vorbildern und Ratgebern wurden, die erklärtermaßen mit diesem Bereich nichts am Hut hatten, ja die stolz darauf waren, keusch zu leben? Das Wissen um die Wahrheit ist nicht mehr an ein von Menschen als unfehlbar deklariertes Amt gebunden und auch nicht mehr an eine einzige Sicht der Wirklichkeit, weil die Auffassung der Wahrheit eine andere geworden ist.
Andererseits wollen manche, die diese Abkehr von den ratlosen Ratgebern vollzogen, doch nicht ganz Abstand nehmen von dem, was über den Menschen hinausgeht. Sie wollen nicht als unbedarfte Anhänger des reinen Zufalls gelten. Sie verstehen sich eher als Agnostiker, da sie im kategorischen Atheismus eine geistlose erkenntnistheoretische Position sehen, in der sie sich nicht wiedererkennen, da sie in ihren Augen nicht zu begründen ist. Hierbei vergessen sie, dass die atheistische Position nicht mehr sagt und nicht mehr sagen kann, als dass alle bisherigen theistischen Positionen in der Geschichte der Religion und des Glaubens von Menschen stammen und inkonsistent und widersprüchlich sind. Denn die Frage, ob Gott existiert oder nicht, ist so lange nicht zu entscheiden, ja ist so lange sinnlos, wie nicht präzise ausgesagt wird, was mit den vier Buchstaben gemeint ist. Und da hat man sich bisher mit der Ungenauigkeit eingerichtet, weil anderes uns nicht zugänglich ist.
Nun zum Spirituellen. Jede Form von Kunst und Wissenschaft geht hinaus über das Alltägliche. Nietzsche meinte mal: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ Und das hätte er ebenfalls über die Erkenntnisse und Werke aller kreativen Menschen sagen können. Hier liegt die Form des Spirituellen, die uns zugänglich ist. Die Astronomie etwa ist nicht weniger „geistig“ oder „spirituell“ als die Aufnahme einer Kantate von Bach. Die Gläubigen wollen einen Unterschied machen zwischen rein menschlichen Produktionen und solchen, die von einer das menschliche Dasein überschreitenden Qualität sind. Wenn sie zuweilen die Produkte Bachs oder Mozarts in übermenschliche Dimensionen rücken, so nur deshalb, weil sie vermuten, dass diese direkt mit den jenseitigen Kräften im Bund stehen.
Ob Astrologie, Bachblütentherapie, Tischrücken oder andere Ableger der „Wissenschaft“ auch zum Bereich des Spirituellen gehören, ist umstritten. Hier geht es darum, den insgesamt ungenauen Bereich des Geistigen zu begrenzen, und da sind die Auffassungen unterschiedlich.
Von einer Erkenntnis der Wissenschaft oder der Rezeption eines Kunstwerkes erwarte ich keine konkrete Hilfe für Probleme meines Lebens, da sie hier bestenfalls auf einem Umweg wirken können. Wer sich dem Aberglauben hingibt, erwartet direkte Hinweise und Hilfe für die Alltagspraxis und will nicht akzeptieren, dass wir in dieser Welt solche umsonst erwarten. Die Hilfestellungen der Wissenschaft und der Kunst sind anderer Art. Sie sind Produkte des Menschen und sie erwarten auch, dass wir uns in diese Produkte einarbeiten. Gottes Hilfe wurde als Gnade oder Geschenk angesehen. Aber an diese Hilfe glaubt in unseren Ländern der Mensch im Lauf der Zeit immer weniger, da ihm immer deutlicher wird, dass er in unserer Welt allein und auf sich gestellt ist. Auch die Hilfe Gottes, die dann zuweilen als eine solche identifiziert wurde, war ein Produkt des Glaubens, solange dieser nicht in Frage gestellt wurde. Dies aber ist in unseren Breiten seit einigen Jahrhunderten zunehmend der Fall.
Jacques Wirion
Catégories: Vom Rand ins Land
Édition: 04.05.2012