Darum Bühnenkunst!

d'Lëtzebuerger Land du 07.01.2022

Es gibt diesen Moment der Spannung, jedes Mal bevor der Vorhang aufgeht und Bühne und Kostüme lüftet ... Manchmal vermag allein schon das Bühnenbild die perfekte Kulisse zu schaffen für das, was kommt. So geschehen im letzten Jahr bei Pas un pour me dire merci im Escher Theater, wo eine psychisch Kranke mit ihrer Familie eine emotionale Berg- und Talfahrt durchlief und die Schauspielerin in den vielen Falten ihres Kleides wie in ihrer Pein regelrecht versank. Wuchtige Momente, wie bei Shakespeares Was ihr wollt im TNL, wo die SchauspielerInnen mit einer Welle auf die Bühne gespült wurden und aus dem Bühnenbild platzten wie aus einem zerberstenden Ei.

Es braucht keinen Prunk. Erst das Spiel macht, dass etwas Wahres entsteht. Im besten Fall schaffen RegisseurInnen mit Ideen Bilder und die SchaupielerInnen mimen ausdrucksstark Momente, die einen zur kritischen Reflexion antreiben und zum Lachen oder Weinen bringen.

Während der Corona-Pandemie gab es weniger Theater, seltener Produktionen und weniger Plätze. Vielleicht wurden die zauberhaften Momente, in denen man durch das Spiel zum Träumen gebracht wurde, gerade deshalb noch wertvoller.

Ich erinnere mich daran, wie fünf TänzerInnen über Monate zu Ligetis verkopften Etuden eine vertrackte Choreografie einstudierten. Kein leichtes Unterfangen. Doch bei der Premiere verschmolzen Tanz und Musik und die TänzerInnen schienen zu schweben.

Ich erinnere mich an eine schräge Komödie rund um einen Reiterhof. Glitzernd und schrill. Helge Schneiders derber Witz auf die Spitze getrieben im Kapuzinertheater. Zum Wiehern!

Ich erinnere mich an eine Schnitzeljagd im Wald, bei der die ZuschauerInnen stolpernd durch das Gebüsch irrten und an Ufo-artigen Stationen improvisiertes Theater erlebten: individuelle Erfahrungen großer Schönheit.

Es gibt SchauspielerInnen, die einen in ihren Bann ziehen und Momente erschaffen, in denen man meint, die ganze Schwere der Welt liege auf der Bühne: Augenblicke, die einen auf- oder erregen, jubeln, aufstampfen und abheben lassen.

Es gab eindrucksvolle Bühnenstücke, die zeigen, dass Online-Produktionen kein Ersatz dafür sein können, dass die Bretter bespielt werden und die Bühne knarzt.

Es gibt verkannte AutorInnen, deren Texte in gut gemeinten Inszenierungen untergehen oder die missverstanden werden. Und es gibt jene sich selbst überaus wertschätzenden AutorInnen, die Bühnentexte schreiben, doch mit ihrer Feder vor allem nur ihre eigenen Federn aufspannen.

Es gab Theaterstücke, die untergehen oder die keiner besucht, weil schon vorab die Nase gerümpft wird wie über O comeco perdido: Mixtape#1, auf deren Premiere fast mehr Menschen auf der Bühne als im Publikum waren, weil das Luxemburger Publikum offenbar noch nicht bereit ist für Theater auf Portugiesisch. Es braucht wohl noch ein paar Jahrzehnte für diese „Normalität“. (Schade. Hana Sofia Lopes und Fabio Godinho haben übrigens grandios gespielt, und Ihr habt sie verpasst!)

Es gab zauberhafte Märchen, die Kindern die Illusion verschafften, sie könnten alles sein und alles werden, wie All d’Déieren aus dem Bësch. Für eineinhalb Stunden konnten die sozialen Ungleichheiten ausgeblendet werden und Kinder konnten davon träumen, GlücksministerIn zu werden.

Es gibt Momente, in denen Theater das kann, was verpasst wurde, nämlich gesellschaftliche Debatten nachholen. Dann spricht die Lady Rosa endlich – wenn auch recht plakativ – mit 20 Jahren Verspätung. Und „der Unfug“ muss nicht mehr weg, sondern wird aus dem Museumsspeicher zum Leben erweckt.

Theater muss nicht pädagogisch mit dem Hammer daherkommen, effektvoll oder rauschend sein und keine Knalleffekte bieten. Es reicht aus, wenn es dramaturgisch überrascht, Missstände aufzeigt, in Wunden piekt oder einfach Neues bieten kann.

Dieses kleine Land hat alles, was es braucht: kleine und große Bühnen, schillernde SchauspielerInnen und TänzerInnen, tolle BühnenbildnerInnen, DramaturgInnen mit Ideen, versierte AutorInnen mit spitzer Feder, kluge RegisseurInnen, kreative ChoreografInnen und TheaterpädadagogInnen, die Kinderaugen zum Leuchten bringen. Nur nicht gerade viele KritikerInnen. – Und es fehlt an aufgeschlossenem Publikum, das bereit ist, sich überraschen zu lassen, zu staunen, und das sich weg von der Couch raus ins Theater traut, wo es die große Welt im Kleinen (zu erleben) gibt.

Anina Valle Thiele
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