Während die Nato von Luxemburg einen robusten militärischen Beitrag einfordert, leistet die großherzogliche Truppe sich die Kultivierung von Animositäten

Militärische Anachronismen

Zwischen der Charta der Armee und der Konzeption vom Staatsbürger in Uniform klafft eine kulturelle Lücke
Photo: Patrick Galbats
d'Lëtzebuerger Land du 15.09.2023

Die Zeiten sind kriegerisch an Europas Ostgrenze und darüber hinaus. Nach langem Zögern schwenken die Westeuropäer bei Militär und Rüstung von Lippenbekenntnissen hin zu harten Fakten. Geld und Material werden mobilisiert und Truppen in die östlichen Nato-Länder verlegt. Luxemburg ist mit einem Zug Aufklärern, beziehungsweise einer Transporteinheit dabei und hat pro Kopf der Bevölkerung sogar einen Spitzenplatz unter den Geberländern. Das Verteidigungsbudget wurde sehr deutlich erhöht und wird weiter steigen. Infrastrukturen werden neu errichtet, beziehungsweis saniert. Fahrzeuge, Drohnen, Flugzeuge, Waffen und Gerät werden in nie gesehenem Tempo beschafft.

Dieser für Luxemburger Verhältnisse überaus hektischen Betriebsamkeit stehen eine ausgesprochene Behäbigkeit und ein bemerkenswertes Beharrungsvermögen bei innerer Organisation und Selbstreflektion der Institution Armee gegenüber. Ihre innere Verfasstheit und Verfassung ist für einen militärischen Einsatz mindestens so entscheidend wie Bewaffnung, Material und Ausbildung des militärischen Personals. Vor Jahren war eine psychologische Untersuchung zum Truppenklima an den Feierkrop geleakt worden. Sie offenbarte, dass es arg an Zusammenhalt und Vertrauen mangelt. Konkret wurde ein abgrundtiefes Misstrauen zwischen den Dienstgradgruppen der Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere festgestellt.

Einige Ereignisse und Umstände legen die Vermutung nahe, dass dieses Misstrauen nach wie vor gegeben ist. So ging es bei der leidigen „Boxemännercher-Affäre“ weniger um traditionelles Saisonalgebäck als vielmehr um die Wahrnehmung von Ungleichbehandlung zwischen Unteroffizieren und Offizieren bei der Gewährung von Vorteilen. Weiter ist die offen ausgetragene Guerilla zwischen dem Kopf der Armee-Gewerkschaft Spal, Christian Schleck, und dem mittlerweile pensionierten Generalstabschef Alain Duchène nicht ausgestanden. Anlässlich der diesjährigen Feier mit Gala-Konzert der Militärmusik zum fünfzigjährigen Bestehen des Spal war trotz Einladung kein Vertreter des Generalstabs erschienen, was auch von den anwesenden Politikern und anderen Gewerkschaftsvertretern zur Kenntnis genommen wurde. In Zeiten, in denen die Nato von Luxemburg einen robusten militärischen Beitrag einfordert, leistet die großherzogliche Truppe sich die Kultivierung von operettenhaft-anachronistischen Animositäten, statt den Zusammenhalt zu fördern.

Der spezifische Zusammenhalt in militärischen und paramilitärischen Truppen heißt in der Fachsprache „Kohäsion“. Die Militärpsychologie betrachtet ihn als ein Schlüsselelement sowohl für den militärischen Erfolg, als auch für das Überleben des Einzelnen angesichts der physischen und psychischen Härten in einem Kampfeinsatz.

Das zwischen Offizieren und Unteroffizieren der Armee herrschende Misstrauen hat seinen Ursprung einerseits in der von den Unteroffizieren wahrgenommenen Geringschätzung ihrer Fähigkeiten und ihrer Zuverlässigkeit durch die Offiziere. Dies wird festgemacht an einer ausgesprochenen Tendenz zum Mikro-Management, worunter die unangemessene Regelung und Kontrolle von Details bei der Erteilung von Aufträgen zu verstehen ist. Andererseits werfen die Unteroffiziere den Offizieren mangelnde Planungsfähigkeiten vor, was weitreichenden Einfluss auf die Lebensplanung vor allem der Unteroffiziere habe.

Die Militärpsychologie unterscheidet zwischen horizontaler und vertikaler Kohäsion. Horizontale Kohäsion beschreibt den Zusammenhalt und das Vertrauen zwischen hierarchisch Gleichen. Vertikale Kohäsion kommt zustande durch das Vertrauen der machtferneren Untergebenen in Führungsfähigkeit, Gerechtigkeit und Zuverlässigkeit der mächtigeren Führenden, umgekehrt durch das Vertrauen der Führenden in die Fähigkeiten und Zuverlässigkeit der untergebenen Geführten. Die wehrpsychologischen Daten hierzu werden zwar erhoben, aber seit den Feierkrop-Leaks sind sie nicht mehr zugänglich.

Luxemburg hat allgemein die Tendenz, sich aus immateriellen Problemen mit Geld herauskaufen zu wollen, und leistet sich die bestbezahlten Militärs der Nato. Die geschilderten Umstände führen dazu, dass Frustrationen kompensiert werden durch materielle Forderungen nach Gehalt, Freizeitausgleich und ähnliche Ansprüche. Die grundlegenden Probleme bleiben unerwähnt. Die herrschende Führungs- und Organisationskultur trägt in keinster Weise zu einer Lösung bei. Eine Aufteilung von Zuständigkeiten, Kontrolle, Planung und Verantwortung auf die Truppe, den Generalstab, die Direction de la Défense im Außenministerium und den Verteidigungsminister ist nicht an Effizienz orientiert und widerspricht einer führungstechnischen Einheitlichkeit.

Ein rezentes Beispiel dafür ist die Anschaffung von gepanzerten Fahrzeugen des Typs Eagle V. Die politisch-strategische Erkenntnis, dass Bündnisverteidigung in einem symmetrischen Konflikt, sprich: die Territorialverteidigung, das Szenario sei, auf das es sich künftig vorzubereiten gelte, hat sich offensichtlich nicht von der politisch-strategischen Ebene bis zur Beschaffer-Ebene herumgesprochen. In der Folge wurden Fahrzeuge beschafft, die wohl für die Einsätze der Vergangenheit, wie zum Beispiel in Mali, geeignet waren, aber mitnichten für ein Ukraine-Szenario. Das Land hatte über den Vorgang berichtet („Rollende Särge“, Ausgabe vom 18.11.2022). Die auffallend hohe Fluktuationsrate bei Sanitätspersonal, Psychologen und Kommunikationsfachleuten, aber auch die wachsende Zahl von Berufsmilitärs, die der Armee den Rücken kehren, sprechen ebenfalls für sich.

Die Symptome sind offensichtlich, die Diagnose ist gestellt. Einige Therapievorschläge liegen auf dem Tisch. Die vorerwähnte Vielfalt von Stellen mit Zuständigkeiten im militärischen Bereich ist einer eindeutigen Zuordnung von Kompetenzen und Verantwortungen abträglich und das Gegenteil von militärischer Effizienz. Dies, sowie das absehbar zunehmende Verteidigungsbudget machen einen Umbau, beziehungsweise eine Integration der Direction de la Défense zu einem vollwertigen Ministerium mit einem Verteidigungsminister als alleinverantwortlicher Spitze unumgänglich.

Als einen Versuch der Sinnstiftung noch vor dem Ukrainekrieg kann man die Ausarbeitung einer Werte-Charta für die Armee ansehen, die im Oktober 2020 vorgestellt wurde. In der Charta wird der Opfertod als eine noble Haltung von Soldaten im Dienste des Vaterlands erwähnt. Doch dies ohne weitere Vertiefung auf junge Menschen einer postheroischen Gesellschaft loszulassen, scheint aus der Zeit gefallen und zeugt von einer anachronistischen Gedankenwelt. Immerhin hat Minister François Bausch (Grüne) erklärt, dass in unserer Gesellschaft Werte verbreitet seien, die nicht mit dem Militärdienst kompatibel sind. Der Inhalt der Charta stellt somit wohl mehr ein Wunschdenken als eine Zustandsbeschreibung dar. Die Charta macht auch Vorgaben zum militärischen Miteinander. Es werden Gleichheit, Gerechtigkeit, Zuverlässigkeit und Rechtschaffenheit als zentrale Werte genannt. Auch damit wird ein Ideal beschrieben, das aktuell bestenfalls Ziel sein kann. Die Empirie zeichnet ein anderes Bild. Die Wahrnehmung der Realität durch die handelnden Akteure muss zwangsläufig zu kognitiver Dissonanz führen.

Handfester als die wunschzettelähnliche Charta scheint die Forderung nach einer Institution ähnlich der des Wehrbeauftragten der deutschen Streitkräfte. Dieser fungiert als Bindeglied zwischen dem Parlament und der Bundeswehr. Er kann von jedem Militär unter Umgehung des Dienstweges angerufen werden. Er kann von sich aus tätig werden, wenn ihm Sachverhalte bekannt werden, die vermuten lassen, dass gegen Rechte der Soldaten oder Grundsätze der Inneren Führung verstoßen wird. Der Wehrbeauftragte hat das Recht, unangekündigt jede militärische Liegenschaft zu betreten, und kann Akteneinsicht sowie Auskunft verlangen. Für luxemburgische Verhältnisse müsste solch eine Institution spezifisch angepasst werden. Neben der offensichtlich notwendigen Ventilfunktion bei unterdrückten Konflikten würde eine solche Institution der Kontrolle der Streitkräfte ungleich besser gerecht als eine im Außenministerium angesiedelte Direction de la Défense. Diese Kombination erinnert etwas an Nutella zu Rollmops.

Der Begriff der Inneren Führung ist schon gefallen. Darunter ist eine Führungskultur zu verstehen, die sich an der Idee des Staatsbürgers in Uniform ausrichtet, der selbstständig mitdenkt und verantwortungsvoll handelt. Dieses Leitbild verankert den Soldaten in der demokratischen Gesellschaft und deren Grundordnung und Werten. Man erkennt sofort, dass zwischen dieser Konzeption und der pathosgetränkten Charta eine kulturelle Lücke von mehreren Jahrzehnten klafft, die auch viel über die herrschende Kultur in der großherzoglichen Truppe verrät.

Ähnliche Konzeptionen haben mittlerweile in vielen Streitkräften demokratischer Staaten Raum gewonnen. Eng verbunden mit der Idee des selbstständig mitdenkenden und verantwortungsvoll handelnden Militärs ist das Prinzip des Führens mit Auftrag. Das französische Konzept der „subsidiarité“ ist ganz ähnlich: Der Vorgesetzte erteilt einen Auftrag und weist die Mittel zu dessen Erfüllung zu. Der Ausführende hat bei der Umsetzung des Auftrags Handlungsfreiheit. Gleichzeitig mit dem Auftrag erklärt der Vorgesetzte das übergeordnete Operationsziel. Dadurch kann der Ausführende im Fall sich zufällig bietender Möglichkeiten oder bei Abriss der Kommunikation im Sinne der Absicht des Führenden selbstständig weiter handeln.

Das ist das Gegenteil der von Unteroffizieren monierten Tendenz der Offiziere zum Mikromanagement, deren führungstechnische Ausprägung das Führen mit Befehl ist, wie zum Beispiel in den russischen Streitkräften. Dort tut der Untergebene, vereinfacht ausgedrückt, stur, was ihm befohlen wird. Eigenständige Entscheidungen trifft er keinesfalls.

Die Führungskultur der Luxemburger Armee reflektiert nicht den sozialen Wandel der letzten 50 Jahre. Sie entspricht auch nicht dem, was junge Offiziere und Unteroffiziere von ihrer modernen Ausbildung im Ausland mitbringen. Der kulturelle Wandel in der Truppe ist überfällig. Er dürfte ungleich schwerer zu bewerkstelligen sein als die Anschaffung von Material, Waffen und Fahrzeugen. Die Diskrepanz zwischen der gewandelten Gesellschaft und der Truppe darf nicht zu groß werden. Früher gewährleistete die Wehrpflicht eine ständige Verbindung zwischen Truppe und Gesellschaft. Diese Wehrpflicht gibt es nicht mehr, aber neben der Funktion des Personalaufwuchses bei Krisen aller Art könnte eine Reserve-Komponente auch die Verankerung und Akzeptanz der Streitkräfte in der Gesellschaft deutlich verbessern. Streitkräfte eines demokratischen Landes müssen stets ein Spiegel der Gesellschaft sein.

Reiner Hesse
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