Es sind besondere geopolitische Umstände, unter denen der grüne Verteidigungsminister Signale in zunehmender Stärke und Frequenz aussendet, die nichts weniger als eine militärpolitische, oder besser: militärkulturelle Zeitenwende bedeuten, um ein Diktum des deutschen Bundeskanzlers Scholz aufzunehmen. Seit der Besetzung der Krim durch Putins Russland 2014 ist den sicherheitspolitischen Experten klar, dass die Friedensordnung der Nachkriegszeit, aber auch die postsowjetische „Umzingelung durch Freunde“ ihr Ende gefunden hat.
Die Zeit der militärischen Abrüstung endete spätestens mit der nachdrücklicher werdenden Vorgabe des Zwei-Prozent-Zieles der Nato und den Erklärungen zu ihrer strategischen Neuausrichtung – der Rückkehr zu ihrer Kernkompetenz, der Bündnis- oder Territorialverteidigung. Auch die Aufteilung in Nato-Mitglieder, die für genuine Gefechtseinsätze vorgesehen sind, und solche, die eher gendarmerieartige Konfliktnachsorge durchführen, ist Vergangenheit.
Die Politik hat die veränderte Lage und die damit einhergehenden veränderten militärischen Notwendigkeiten zur Kenntnis genommen. Die erforderliche militär- und sicherheitspolitische Debatte in der Gesellschaft aber hat noch nicht stattgefunden. In den Köpfen der meisten Menschen ist die Nachricht noch nicht angekommen, beziehungsweise die Erkenntnis noch nicht gereift, was das unter Umständen für den Einzelnen und die Gesellschaft bedeutet.
Dem Land hatte Bausch schon 2019 erklärt, dass er nie Pazifist gewesen sei. Im Organ der Armeegewerkschaft Spal (Spal info, Ausgabe 1-2023) hat er das unlängst wiederholt und unter Verweis auf die Ukraine präzisiert, dass Gewalt für ihn das letzte Mittel der Verteidigung sei. Er verweist auf Fehler der Vergangenheit, in der die Armee zu sehr als soziales Auffangbecken dargestellt und wahrgenommen worden sei, und erklärt, Verteidigung und Armee müssten definitiv einen anderen Stellenwert bekommen. Dass die Armee kein Beruf wie jeder andere sei, bemerkt er unter Verweis auf „den Accident um Waldhaff (…), och wann et glécklecherweis rar ass, datt esou eppes virkënnt“. Der Verteidigungsminister betont, es sei naiv, sich eine Welt ohne Waffen vorzustellen. Dies wäre zwar ein Idealzustand, aber dazu bräuchte es eine ideale Welt.
In den neuen Verteidigungspolitischen Leitlinien mit Horizont 2035, die durch François Bausch als Minister verantwortet werden, steht auf S. 62 im Abschnitt über das Personalproblem der Armee, die Bemühungen zu seiner Behebung „doivent tenir compte des évolutions de notre société qui tend plutôt à mettre en avant des valeurs moins compatibles avec l’éthos militaire“. Die vorherrschenden sozialen Werte sind demnach nur schwer mit dem militärischen Ethos vereinbar. Gemeint ist damit wohl die ausdrückliche Betonung der individuellen Rechte und Freiheiten, die der kulturelle Wandel vor allem ab 1968 hervorgebracht hat. Die Delegitimierung des Militärischen hatte spätestens 1968 begonnen, durch den Vietnam-Krieg befeuert, und in weiten Teilen der westlichen Bevölkerungen Wirkung entfaltet. In vorderster Reihe standen spätere grüne Leitfiguren wie Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und Jürgen Trittin, die damals noch als extreme Linke fundamentalpazifistische Positionen vertraten.
Nun will es die Ironie der Geschichte, dass dieser kulturelle Wandel mit seiner Betonung individueller Rechte, der auch den Beginn der grünen Idee darstellt, in Luxemburg von einem grünen Verteidigungsminister als Problem erkannt wird. In der postheroischen Gesellschaft werden militärtypisch notwendige Einschränkungen individueller Freiheiten über die Parteigrenzen hinweg nicht mehr ausreichend akzeptiert. Sie zu akzeptieren, ist aber nötig, um die freiheitliche, individualistische, offene und durchgrünte Gesellschaft verteidigen zu können, die unter militärischen Druck durch eine unfreie russische Zwangsgesellschaft geraten ist. Die grüne Idee wurde sozusagen Opfer ihres eigenen Erfolgs. François Bausch interpretierte dies in einem Land-Interview (Ausgabe vom 19.5.2023) dahingehend, dass nicht der Individualismus einzuschränken sei, sondern die Armee und das Militärische einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert bekommen müssten.
So erklärt sich auch, dass eine Re-Legitimierung des Militärischen zum Schutz der freiheitlichen Post-68er-Gesellschaften nur durch die Grünen glaubhaft erfolgen kann. Anderen Akteuren würden reaktionäre, beziehungsweise restaurative Absichten unterstellt. Die politischen Nachkommen der Blumenkinder müssen also wieder Soldaten werden, weil sonst die Gefahr einer blutigen Unterdrückung droht. Der Alt-68er Joschka Fischer war es, der den Satz „Nie wieder Krieg“ ergänzte um „Nie wieder Auschwitz“, und damit klar machte, dass Krieg ein ultimatives Mittel sein kann, um ultimative Verbrechen wie Völkermord zu unterbinden. Er legitimierte damit die deutsche Teilnahme am Nato-Einsatz im Kosovo. Der grüne Fundi Trittin bezeichnete später einen bedingungslosen Pazifismus als „Vulgärpazifismus“. Und es war der grüne deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, der angesichts der Realität in der Ukraine schon im Mai 2021 Waffenlieferungen an sie gefordert hatte und vor der Geschichte Recht behielt.
Die nötigen Veränderungen müssen angesichts der Realität des Krieges im europäischen Osten zügig erfolgen. Die Luxemburger Gesellschaft und weitgehend auch die politische Klasse vertragen diesen kulturellen Wandel jedoch nur in kleinen Häppchen. Dass mehr Geld ins Militär fließen wird, stellt kein großes Problem dar. Ungleich schwerer tun sich Politik und Gesellschaft damit, dass die Armee vom dekorativen Beiwerk einer Monarchie zum kampffähigen Teil eines Bündnisses wird, beziehungsweise, dass das „postmoderne Militär“, das einen Beitrag zur Friedenswahrung oder Friedenswiederherstellung, zu humanitären Hilfeleistungen und Rettungseinsätzen in Katastrophenfällen zu leisten hat, zurück zu seiner genuinen, kriegerischen Bestimmung findet. Der Soziologe Ulrich Beck formulierte 1999 die These vom „postnationalen militärischen Humanismus“, dem „Einsatz transnationaler Militärmacht mit dem Ziel, der Beachtung der Menschenrechte über nationale Grenzen hinweg Geltung zu verschaffen“. Krieg werde „zur Fortsetzung der Moral mit anderen Mitteln“.
Es war im Prinzip dieses Konstrukt, welches das Weiterbestehen der Nato nach 1990 legitimierte. Luxemburg sah in dieser Art Militär auch eine Möglichkeit, an außenpolitischer Statur zu gewinnen. Allen insgeheim vielleicht gehegten Hoffnungen zum Trotz machen die Verteidigungspolitischen Leitlinien 2035 klar, dass es nicht gelingen wird, sich aus dem blutigen Teil der Bündnisverpflichtungen herauszukaufen: „…pour honorer le principe de la solidarité il est demandé à chaque allié de fournir des capacités de combat aptes à opérer dans un contexte de haute intensité“. Gefechte „hoher Intensität“ sind das, was sich derzeit in der Ukraine abspielt.
Dass man es damit durchaus ernst zu meinen scheint, geht aus der Pressemitteilung der Verteidigungsdirektion vom Donnerstag vergangener Woche hervor, als François Bausch mit seiner belgischen Amtskollegin Ludivine Dedonder den Kooperationsvertrag zur Schaffung und zur Betreibung des binationalen Aufklärungsbataillons unterzeichnete. Die Mitteilung zitiert Bausch so: „Ce bataillon sera d’une importance capitale en matière de transformation de l’armée luxembourgeoise, parfaitement en réponse aux attentes de l’OTAN ou de l’UE“. François Bausch gebührt Respekt dafür, bisher Unsagbares teilweise verklausuliert, aber auch ganz offen ausgesprochen zu haben. Erforderlich ist eine offene politische und gesellschaftliche Debatte zu Themen wie Reserve-Armee, Militärhospital und Armee-Lyzeum; über ein eigenständiges Verteidigungsministerium, das Armee-Gesetz, eine Luxemburger Version eines Wehrbeauftragten beim Parlament und so weiter. François Bausch bejahte im Land-Interview vom 19. Mai ausdrücklich die Frage, ob er noch vor den Wahlen eine Diskussion um das Militärische anstoßen werde. Er habe bisher noch nie ein Problem damit gehabt.
Allerdings sind überaus dicke Bretter zu bohren. Das zeigen die bibeldicken Vorlagen zum neuen Armeegesetz. Einerseits regeln sie beamtenrechtliche Details bis zum Exzess, andererseits weisen sie, wie das Gutachten des Staatsrats zum Gesetzentwurf belegt, flagrante Fehler bei der eindeutigen Festlegung der Befehlskette auf. Die Befehlskette ist das zentrale Element, das eine Truppe überhaupt führbar macht. Dass höhere Militärs bei der Schaffung des neuen Regelwerks beteiligt waren, beziehungsweise nicht korrigierend eingegriffen haben, wirft Fragen auf. Der Vorgang verdeutlicht zweifellos, dass es viel Raum für Verbesserungen gibt, bis das vereinbarte luxemburgisch-belgische Bataillon einsatzbereit ist. Dessen Auftrag soll Kampfaufklärung sein. Was das bedeutet, sieht man derzeit im Zuge der beginnenden ukrainischen Offensive.
Bausch legt seiner Partei nahe, im Falle einer erneuten Regierungsbeteiligung das Verteidigungsressort zu behalten und Stéphanie Empain zu seiner Nachfolgerin zu machen. Jede nach den Wahlen vom 8. Oktober mögliche Regierung hat jedoch zuvorderst eine Debatte über das Wesen und die Bestimmung des Militärischen an sich zu führen. Es geht um nichts weniger als um die Frage, ob und wofür eine demokratische Gesellschaft bereit ist, ihre Soldaten kämpfen zu lassen, das heißt, zu töten und zu fallen. Der Teufel verschwindet nicht, wenn man seinen Namen nicht ausspricht.