Das ist Luxemburg-Stadt: Knapp 52 Quadratkilometer groß, 126 790 Einwohner/innen im Januar 2021. Aus 167 unterschiedlichen Nationen kommen sie. Eine Menge, wenn man bedenkt, dass die Uno 193 Mitglieder hat. DP-Bürgermeister Paul Helminger ließ der kosmopolitischen Stadt seinerzeit den Beinamen „Multiplicity“ geben, um sie besser vermarkten zu können. Heute weiß man noch, dass dort das Armutsrisiko ausgeprägter ist als im Landesschnitt. Zum Beispiel.
Erhoben wurde das für das erste Observatoire social. Das ist eine Unternehmung der Stadt mit dem Forschungsinstitut Liser. Die Stater Linken widmeten dem Bericht gestern eine Pressekonferenz und waren damit die ersten, die über ihn sprachen. Dabei wurde das 200 Seiten lange Observatoire schon Ende April fertig. Doch das gab der DP-CSV-Schöffenrat nicht bekannt. Nun kam eine Oppositionspartei ihm zuvor. Lénk-Gemeinderat Guy Foetz meinte auf der Pressekonferenz, „wir können uns denken, dass im Observatoire ein paar Dinge stehen, die dem Schöffenrat unangenehm sind“.
Was für welche? Darüber kann seit Mittwoch auch die Öffentlichkeit nachdenken. Seitdem steht das Observatoire social auf der Webseite der Stadtverwaltung. „Ich habe gesagt, setzt alles online!“, als sie erfuhr, dass es eine Pressekonferenz geben werde, erklärt DP-Bürgermeisterin Lydie Polfer dem Land. Die Andeutungen der Linken, dass der Schöffenrat womöglich etwas verbergen wollte, seien „unfair“. Zwar sei es richtig, dass erst am 26. Oktober die Sozialkommission der Stadt das Observatoire vorgestellt bekam. Während es dem Schöffenrat schon Anfang Mai vorlag. Doch in den Wochen danach seien die kommunalen Dienste, die an der Datensammlung beteiligt waren, mit Empfang und Versorgung ukrainischer Flüchtlinge beschäftigt gewesen. Danach waren Ferien. Und in der Kommissionssitzung vor zwei Wochen sei festgestellt worden, dass der Bericht noch „verfeinert“ werden muss. Verschiedene Daten fehlten, so Lydie Polfer. „Von 40 000 Bürgern wissen wir nicht genau, ob sie arbeiten.“
Sieben Monate vor den Gemeindewahlen ist natürlich alles politisch. Der erste Versuch, im großen Stil Sozialdaten über die Hauptstadt zusammenzutragen und sie publik zu machen, ist es auch. Wenngleich Natalia Zdanowska und Frédéric Durand vom Liser vor allem Daten präsentieren, ist das Observatoire ein schillerndes Daten-Porträt einer Stadt voller Widersprüche und mitunter außerordentlichen sozialen Dynamiken. Die zeigen sich zum Beispiel an den Migrationen: Im Jahr 2020 kamen in der Stadt 16 031 Einwohner/innen neu an, gleichzeitig verließen 14 793 Menschen sie. Fast drei Viertel der neu Hinzugezogenen kamen aus dem Ausland. Die aus der Stadt fortzogen hingegen verließen sie ungefähr fifty-fifty Richtung Ausland oder anderen Gemeinden im Großherzogtum. Der Einwanderungssaldo lässt die Stadtbevölkerung wachsen. Der Auslands-Saldo hält den Ausländeranteil hoch. Dass er bei 70 Prozent stagniert, liegt vor allem daran, dass Jahr für Jahr eine beträchtliche Zahl Ausländer/innen eingebürgert wird. Das Observatoire spricht sogar von einer „Explosion“: von 4 311 Einbürgerungen im Jahr 2010 auf 9 387 im Jahr 2020. Dazwischen wurden 2018 sogar knapp 12 000 gezählt. Ob das mit dem Brexit zu tun hatte, erläutert der Bericht nicht.
Deutlich macht er aber, dass die Zuwanderung sich diversifiziert. Die größte Gruppe stellen mittlerweile Personen von außerhalb Europas dar, 3 704 waren es im Jahr 2020. Gefolgt von 2 877 EU-Ausländer/innen, die nicht aus Frankreich oder Portugal kamen, und 2 642 Neuankömmlingen aus Frankreich. Über alles betrachtet aber sei die Multiplicity der Stadt nach wie vor in erster Linie eine „EU-zentrierte“.
Von den Profilen der Zuzügler/innen aus könnte sich das Sozialporträt der Stadt gut weiterzeichnen lassen. Sofern Lücken wie die von den 40 000 unbekannten Beschäftigten, von denen die Bürgermeisterin spricht, das Bild nicht allzu stark verfälschen. Das Observatoire selbst ist vorsichtig mit Interpretationen. Einen Grund für den in letzter Zeit starken Zuzug von außerhalb der EU nennt er nicht. Es mögen Flüchtlinge mit Statut sein oder „Talente“ für hochqualifizierte Jobs, die in Drittstaaten rekrutiert werden. Im Sektor „Activités spécialisées, scientifiques et techniques“ (kodiert nach der Nace-Norm der Branchen) waren im 2021 in aufsteigender Reihenfolge vor allem Drittstaatlerinnen (1 274), Franzosen (1 364) und EU-Bürger abgesehen von Deutschen, Belgierinnen, Franzosen und Portugiesinnen beschäftigt. In Finanz-Jobs standen vor allem Französinnen (5 528), Luxemburger (6 085) und an der Spitze (6 615) EU-Bürger ohne die Nachbarländer sowie Portugal. Drittstaatler sind in dieser Branche die viertgrößte Gruppe (4 464).
Dass in diesen Branchen gute Gehälter zu verdienen sind, könnte Dynamiken anstoßen, die zum Beispiel zu Segregationen in Stadtvierteln führt. Dass es soziale Ungleichheiten gibt, sogar eklatante, zeigt sich schon daran, dass im Jahr 2020 22,3 Prozent der Stadtbevölkerung (11 243 Personen) unterhalb der Armutsschwelle lebten, dabei offenbar in einer lohnabhängigen Beschäftigung standen, doch nicht mehr als 1 942 Euro an monatlichem Gehalt bezogen. Der größte Teil dieser „working poor“, wie der Bericht sie nennt, sei im Bahnhofsviertel und im Stadtteil Bonneweg-Süd wohnhaft. Der Median bei den Monatsgehältern der Stadt insgesamt lag 2021 bei 4 250 Euro. Die Hälfte der lohnabhängigen Stater verdiente also weniger. Die vom Gehaltsniveau ihrer Bewohner/innen her wohlhabendsten Stadtviertel sind die Oberstadt, Limpertsberg, Belair und Merl mit 6 771 bis 7 490 Euro Durchschnitts-Monatsgehalt. Das Bahnhofsviertel, Bonneweg Süd und Nord sowie Hamm und Pulvermühle liegen am anderen Ende der Skala mit 4 055 bis 4 536 Euro. Am wenigsten verdienen in der Stadt im Sektor „Transport und Lagerung“ sowie in der Haushaltshilfe Beschäftigte. Wobei gerade dort Drittstaatler, EU-Ausländerinnen (außer die Nachbarländer und Portugal) sowie Portugiesen am wenigsten verdienen, in letzterem Sektor nur durchschnittlich 501 bis 685 Euro im Monat und demnach in Teilzeit oder stundenweise.
Die Realität ist aber noch komplexer. Zum Beispiel geht die starke Präsenz von Drittstaatler/innen in hochqualifizierten Jobs nicht unbedingt damit einher, dass sie dort auch besonders viel verdienen. Vielmehr sind das in der Branche „Wissenschaft und Technik“ vor allem Luxemburger (im Schnitt monatlich 8 773 Euro), Belgierinnen (8 696 Euro) und Deutsche (7 169 Euro). Eine andere Feststellung: Selbst in bessergestellten Vierteln wie etwa Limpertsberg gibt es nicht nur Hochverdiener. Und im Bahnhofsviertel, wo der Einkommens-Median mit nur 3 000 Euro im Monat der stadtweit niedrigste ist, wohnen auch Bezieher „extrem hoher“ Gehälter im fünften Einkommens-Quintil. Was leicht vorstellbar ist: Die Straßburger Straße ist eine andere Wohngegend als der Boulevard de la Pétrusse. Noch interessanter ist, dass der Stadtteil Gare die wichtigste „Drehscheibe“ der Stadt für die Migration ist: Dort kommen besonders viele Leute an und besonders viele ziehen weiter. Überhaupt herrscht in der Stadt sehr viel Umlauf. Beinah 10 000 Umzüge innerhalb ihrer Grenzen gab es 2020; ohne Corona-Lockdowns wären es vielleicht noch mehr gewesen. Und mit allen Fort- und Zuzügen, aus dem Ausland oder in andere Gemeinden zusammengenommen, waren in jenem Jahr fast 41 000 Stater Bürger/innen in Bewegung, beziehunsgweise beihnahe ein Drittel ihrer Bevölkerung.
Dass das auch von den hohen Wohnungspreisen beeinflusst wird, ist ein naheliegender Gedanke. Die Quadratmeterpreise in der Stadt reichten im September 2021 von 9 784 Euro in Cents bis 11 638 Euro in Limpertsberg, die Mieten waren im Schnitt mit 1 260 Euro in Pfaffenthal am niedrigsten und in der Oberstadt mit 2 051 Euro am höchsten. Und wenngleich die Stadt 1 697 Sozialwohnungen zählt und das nach viel aussieht, wenn es im ganzen Land nur 4 000 sind, ergibt das einen Anteil von lediglich 0,016 Sozialwohnungen pro Einwohner. In Thionville und in Metz liegt er bei 0,1 beziehungsweise 0,13.
Einen Befund wie diesen meinten die Linken auf ihrer Pressekonferenz mit der Vermutung, „das könnte dem Schöffenrat nicht gefallen“. Aber ganz allgemein ziehen die Gemeinderäte Ana Correia Da Veiga et Guy Foetz aus dem Observatoire die Vermutung, dass Luxemburg-Stadt bei aller Dynamik riskiere, „auseinanderzufallen“. Einerseits wegen des vielen Kommens und Gehens, andererseits wegen der sozia-
len Klüfte, und drittens weil der Bericht auch davon spricht, dass es offenbar immer schwerer werde, die Stater Bürger/innen fürs zivilgesellschaftliche Leben zu interessieren.