Der unerwartete Ausgang der Wahlen hat die CSV in eine Krise gestürzt. In den nächsten Monaten wird sie wohl wieder mit sich selbst beschäftigt sein, um neue Führungsleute zu bestimmen und eine politische Richtung zu finden. Doch davon, was aus der CSV wird, wer nach dem Untergang von Claude Wiseler neue starke Frau oder neuer starker Mann in der Partei wird, hängt vielleicht auch das Schicksal der großen Verfassungsrevision ab. Vielleicht will die Partei nach all den Vorwürfen, sie habe die Wahlen verloren, weil ihr Wahlkampf nicht aggressiv genug gewesen sei, nun kompromisslos Oppositionspolitik machen und der liberalen Koalition nichts mehr schenken. Dann könnte die Verfassungsrevision zu einem Kollateralschaden werden.
Vor fünf Monaten, am Vormittag des 6. Juni, hatte der parlamentarische Ausschuss der Institutionen und Verfassungsrevision nach einem letzten Brief des Staatsrats über den Gebrauch verschiedener Satzzeichen einen 156 Seiten langen Bericht über den Entwurf zur Verfassungsrevision und zur Einführung einer neuen Verfassung mit den Stimmen von DP, LSAP, Grünen und CSV verabschiedet. Der linke Abgeordnete Marc Baum hatte sich enthalten, die ADR hatte nicht an der Abstimmung teilgenommen, weil sie nur Beobachterstatus hatte. Durch die Revision, die seit 1984 geplant und seit 2009 als Entwurf begutachtet worden war, soll die aus dem Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts stammende Verfassung moderner und rechtsverbindlicher werden, weil ihre politisch so bequeme metaphorische Auslegung an ihre Grenzen stößt.
Nach ihrer Wahlniederlage gehört die CSV zwar weiter keiner Regierung an. Aber mit ihrem dritten Restsitz im Nordbezirk rettete sie ihre Sperrminorität für Verfassungsänderungen: Laut Artikel 114 der Verfassung müssen zu einer Revision mindestens drei Viertel der Abgeordneten anwesend sein und zwei Drittel von ihnen dafür stimmen. Zwei Drittel von insgesamt 60 Abgeordneten macht 40 aus, ohne die CSV sind es nur 39. Die CSV kann nicht entscheiden, was in die neue Verfassung kommt, aber sie kann deren Verabschiedung verhindern.
Der Revisionsentwurf bleibt eine zerbrechliche Konstruktion, so lange er nicht Gesetz ist. Denn er war das Produkt während Jahren ausgehandelter Kompromisse zwischen den Parteien und Institutionen. Käme aber unter veränderten politischen Bedingungen die eine oder andere Partei auf die Idee, einzelne Bestimmungen wieder in Frage zu stellen und ändern zu wollen, drohte die ganze Konstruktion einzustürzen.
Die Verabschiedung des gemeinsamen Ausschussberichtes im Frühjahr war das klarste Bekenntnis zur Revision, das die Regierungsmehrheit wenige Monate vor den Wahlen aus der CSV herauspressen konnte. Denn die Verfassungsrevision gehört zu den größten Misserfolgen der liberalen Koalition. In ihrem Koalitionsabkommen hatten DP, LSAP und Grüne 2013 klare Vorstellungen, wie die Verfassungsrevision Wirklichkeit werden sollte: „Fin 2015, après un premier vote parlementaire, le texte de la nouvelle Constitution sera soumis, selon la procédure constitutionnelle, à un second vote d’approbation par référendum.“ Aber das Referendum von 2015 über das Ausländerwahlrecht, das Wahlalter und die Amtszeit von Ministern, mit dem die Sperrminorität der CSV bei Verfassungsänderungen umgangen werden sollte, endete in einem Debakel, der Zeitplan war nicht mehr einzuhalten. Deshalb hatte die Regierung während einer Klausur Anfang 2016 eine neue Agenda beschlossen: Der Verfassungstext sollte bis Ende 2017 vom Parlament in erster Lesung verabschiedet und dann Anfang dieses Jahres einem Referendum unterzogen werden.
Doch so weit sollte es nicht kommen. CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler kündigte gleich bei seiner Nominierung die Mitarbeit auf und meinte, man solle nichts überstürzen, sondern bis nach dem kommunalen und legislativen Wahlkampf warten. Die CSV wollte nicht an der Seite der Regierung Wahlkampf für die Revision führen und ihr so sogar zum politischen Erfolg einer Referendumsmehrheit verhelfen. Sie wollte nicht, dass das wichtigste Gesetz erneuert würde, während sie in der für sie ungewohnten Opposition saß. Deshalb lehnte sie es ab, den Entwurf noch vor den Wahlen in erster Lesung mitzustimmen und das anschließende Referendum bis nach den Wahlen zu vertagen. Sie lehnte selbst den Vorschlag der Regierungsmehrheit ab, dass alle Parteien sich mit einem gemeinsamen Entschließungsantrag bis über die Wahlen hinaus zu dem Textentwurf bekennen sollten.
Vielleicht rettete die CSV mit ihrer Blockadehaltung die Revision. Denn nach dem Referendum von 2015 erkannte man in allen Parteien ein Risiko, dass der Revisionsentwurf bei dem geplanten Referendum scheitern könnte, die ganze jahrelange Mühe umsonst wäre. Der Ausschuss hatte vor einem Jahr in einem Panikanfall noch schnell versucht, allerlei Lobbys mit Änderungsanträgen vom Tierschutz bis zur Sprachpflege zu bedienen, aber die Kammerwahlen vor drei Wochen zeigten erneut, welch unsicheres Geschäft doch Wahlen und wie unzuverlässig Wahlprognosen sind. Und das Versprechen, das Referendum mit öffentlichen Foren besser vorzubereiten als 2015, ist nur ein schwacher Trost, denn Referenden gehen meist anders aus als von ihren Initiatoren geplant.
Inzwischen fragen sich Politiker aus allen Parteien hinter vorgehaltener Hand, ob die Idee, ein Referendum über die Verfassungsrevision zu organisieren, so klug war. Hätte der parlamentarische Ausschuss nicht vor drei Jahren vollendete Tatsachen geschaffen: Drei Monat vor dem verhängnisvollen Referendum vom Juni 2015 änderte er den Titel von „Proposition de révision portant modification et nouvel ordonnancement de la Constitution“ um in „Proposition de révision portant instauration d’une nouvelle Constitution“. Dass eine Änderung und Neuordnung der alten Verfassung nicht unbedingt einer Volksbefragung unterzogen werden müsste, wäre vertretbar gewesen, aber eine neue Verfassung ohne Legitimation durch das ganze Volk einzuführen, klang wie ein Anachronismus.
Keine Partei wollte sich vorwerfen lassen, schlechte Demokraten zu sein und die Wähler zu übergehen. Sowieso können 15 Oppositionsabgeordnete oder 25 000 Wahlberechtigte ein Referendum über die Verfassungsrevision erzwingen, wenn eine Parlamentsmehrheit darauf verzichten will. Deshalb versprachen alle Parteien in ihren Wahlprogrammen mehr oder weniger schweren Herzens ein Referendum. Die DP beteuerte: „Die vier größten im Parlament vertretenen Parteien tragen diesen Text mit und haben sich für ein Referendum während der nächsten Legislaturperiode ausgesprochen. Da die Verfassung die eigentliche Rechtsgrundlage unseres Landes ist, muss im Vorfeld das Referendum mit weitgehendster und objektiver Information sowie mit weitmöglichster Bürgerbeteiligung begleitet werden.“ Die LSAP versprach: „Die LSAP wird prinzipiell am neuen Verfassungstext festhalten und sich im Parlament im Rahmen der ersten Lesung für das neue vorgeschlagene Grundgesetz aussprechen. Anstelle einer zweiten Lesung soll der neue Verfassungstext allen stimmberechtigten Bürgern anschließend nach breiter öffentlicher Diskussion zur Abstimmung per Referendum vorgelegt werden, damit er spätestens Ende 2020 in Kraft treten kann.“ Die Grünen fanden: „Deshalb ist es wichtig, die Reform unserer Verfassung zügig abzuschließen und per Referendum den Bürgern und Bürgerinnen zur Abstimmung vorzulegen.“
Anders die CSV. Auch sie bekannte sich in ihrem Wahlprogramm zu einem Referendum: „Dieser Text wird danach den Bürgern in einer Volksbefragung (Referendum) vorgelegt und wird das zweite verfassungsrechtliche Votum ersetzen.“ Aber sie versprach auch: „Vor dem ersten verfassungsrechtlichen Votum wird der Verfassungstext in regionalen Diskussionsrunden mit den Bürgern erörtert und durchdiskutiert. Sollten sich wichtige Erkenntnisse für den Verfassungstext ergeben, werden diese ihren Niederschlag im Verfassungstext finden. Erst dann wird die Abgeordnetenkammer das erste verfassungsrechtliche Votum in Angriff nehmen.“
Kommt die CSV tatsächlich mit neuen „wichtige[n] Erkenntnisse[n]“ und will das im Juni geschnürte Kompromisspaket wieder aufschnüren, könnte der parlamentarische Ausschuss erneut monate- oder jahrelang über Änderungen am Verfassungstext und den 28 davon abhängigen Gesetzen verhandeln. Wobei auch die anderen Parteien auf neue Ideen kommen könnten. Immerhin stand schon im Wahlprogramm der LSAP: „Die LSAP setzt sich weiter dafür ein, das Primat des Allgemeinwohls über Privatinteressen durch die Formel ‚Eigentum verpflichtet‘ in unserem Grundgesetz zu verankern.“ Der Grundsatz stammt aus der deutschen Verfassung von 1919 und dem Grundgesetz der BRD.
Für den Fall, dass die „Jahrhundertrevision“ bei einem Referendum übernächstes Jahr oder an der Unnachgiebigkeit der CSV scheitert, hat der parlamentarische Ausschuss schon eine Notlösung parat: Dann sollen die für wichtig gehaltenen Änderungen – wie am Notstandsartikel 32.4 vor einem Jahr – schrittweise vorgenommen werden. Denn wenn Einzelartikel nach und nach geändert werden, handelt es sich nicht mehr um eine Gesamtrevision, so dass auch kein Referendum mehr nötig scheint.