Die Bauern des Öslinger Dorfs Feulen arbeiteten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Lederindustrie. Sie schälten junge Eichenbäume und brachten die Rinde zu den Lohmühlen. Dort wurde die Rinde zu Gerbstoff zermahlen, mit dem die Söhne der Bauern in den Gerbereien Rinder- und Schafshäute zu Leder machten, eine anstrengende und gesundheitsschädigende Arbeit. 1827 ließ der Gerber Jean-Henri Elsen am Dorfbach, der Feul, eine Mühle errichten, um Eichenrinde und Öl zu mahlen und eine Sägerei zu betreiben. Aber das Unternehmen ging schief, und 1851 ersteigerte der Bauer Jean-Pierre Berns aus dem Niederfeulener Haus „an Hännes“ das Gebäude, das bald Hennesbau hieß. Es diente lange als Scheune, bevor die Gemeinde es 1979 kaufte und daraus, wie aus allen unnützen Gebäuden, ein Kulturzentrum machte.
Im Hennesbau in Niederfeulen ist die Welt noch rustikal. Es ist nicht die kalte Welt aus Glas, Stahl und Designermöbeln der Banken, Unternehmensberater und Vip-Lounges, des schnellen, heimatlosen Geldes in der Hauptstadt. Dunkelbraunes Fachwerk und weißer Porenbeton tragen einen gewaltigen hölzernen Dachstuhl, dessen grob zugehauene Balken mit Stahlwinkeln verschraubt sind. Über der hölzernen Theke hängt eine Bierreklame, davor sind einige, mit weißen Tüchern verkleidete runde Stehtische aufgereiht. Am anderen Ende des Saals steht eine kleine Bühne aus drei Reihen zusammenlegbarer Podeste, davor, fast meterhoch die ausgesägten und rot lackierten Buchstraben „adr“ und die Landesfarben.
Vor dem roten Vorhang hängt eine mit dem Foto einer Menschenmasse und der Wahlkampflosung „ÄR STËMM FIR LËTZEBUERG adr“ bedruckte Plane. So steht es auch auf dem Rednerpult an der Seite. Die Wahlkampflosung suggeriert, dass durch eine Wählerstimme für die ADR Luxemburg und die Luxemburger wieder eine Stimme im globalisierten Babel erhalten.
Langsam füllt sich der Saal. Ältere Frauen beeilen sich, einige der seltenen Sitzgelegenheiten entlang der Wände zu erhaschen. Männer in Anzug und Krawatte strecken selbstzufrieden den Wanst heraus, Jugendliche ohne Hipster-Bärte stehen herum. Manche auf Stöckelschuhen balancierende Kandidatinnen haben sich in Blumen- und Rüschenröcken herausgeputzt. Stämmige Mannsbilder mit Bürstenhaarschnitt reichen die ersten Biergläser an scheuen Alten mit Fischerwesten oder karierten Wollpullovern vorbei. Während die Kandidaten, Familienangehörigen und Parteiaktivisten Schreckliches von den Überschwemmungen des Vortags zu erzählen wissen, haben die Leute von der Parteiführung Funkmikrofone aufgesetzt, eilen zum Mischpult oder lesen ihren Redetext nach. Die neuen Verbündeten von Wee 2050 – Nee 2015 lassen sich lächelnd bewundern.
Vielleicht durch Vermittlung ihres Niederfeulener Gemeinderats, Guy Arend, trifft sich die ADR im Hennesbau, weil sie „nicht abgehoben ist von den Sorgen der Mehrheit der Leute“, so Präsident Jean Schoos in seiner Ansprache, weil „sie versteht, wie die Leute draußen denken“. Der eher diskrete Vorsitzende des Luxemburger Tierärzteverbands, Sekurist und freiwilliger Feuerwehrmann, war nach der politischen Bruchlandung Fernand Kartheisers an die Spitze der Partei gekommen. Die anderen Parteien hätten beim Referendum 2015 bewiesen, „wie weit sie sich von der Lebenswirklichkeit in Luxemburg entfernt“ hätten, klagt er. In der ADR aber „denkt man nicht, wie eine Regierung, dass es allen Leuten in Luxemburg formidabel geht“, wo doch 100 000 Leute in Luxemburg unter der Armutsgrenze lebten.
Deshalb verspricht das ADR-Wahlprogramm, ähnlich wie die LSAP, „realistische Lösungen, damit die Schere zwischen Arm und Reich sich nicht weiter öffnet“, so Jean Schoos. Wie die anderen Parteien will auch die ADR ihr gesamtes Pulver nicht an einem Abend verschießen und hält ihr Wahlprogramm noch zurück. Trotzdem zählt der Präsident schon einmal die Schwerpunkte auf: Die ADR trete dafür ein, „dass wir ein verantwortungsvolles Wachstum hier im Land bekommen sollen, und in diesem Sinn ist auch unser ganzes Wahlprogramm ausgerichtet“. Der Wohnraum soll wieder bezahlbar werden, die Mobilität „nicht bloß eine leere Worthülse“ sein. Notwendig sei „ein Umdenken in der Lebensmittelproduktion“, damit die Landwirtschaft in 30 Jahren noch „ihren Namen verdient“, damit „das Trinkwasser nicht aus der Flasche, sondern aus dem Hahn kommt“ und „den Tieren die verdiente Würde zugestanden wird“.
Das klingt bei der anderen Rechtspartei, der CSV, nicht anders. Die ehemalige Rentenpartei gibt sich nun mit einer „verantwortungsbewussten Rentenpolitik“ zufrieden, damit die heute Beschäftigten ein gesicherter Lebensabend erwartet. Wie die CSV plädiert sie für eine Familienpolitik, „die die Wahl lässt, statt ein Elternteil zu bestrafen, das für die Kinder zu Hause bleiben will“. Denn „die Familie als Kernzelle unserer Gesellschaft muss fair und gerecht behandelt werden“. Sie verspricht „eine Sprachen- und Integrationspolitik, die den Namen verdient“, ist gegen einen europäischen Zentralstaat und für „ein Europa der Nationen“, wie die nationalistische Fraktion im Europaparlament heißt.
Viele Versprechen der ADR, wie es werden soll im Land, enthalten das Adverb „wieder“, die Rückkehr zu angeblich besseren Zuständen von früher. Am liebsten wäre die ADR wohl eine Mittelstandspartei im Luxemburg der Fünfzigerjahre, denn sie will, so Jean Schoos, „alle Berufsschichten fair und respektvoll behandeln, die Bauern, die Winzer, die vielen Selbstständigen, Hotelbetreiber, Wirte, Geschäftsleute, Beamten“. Sie will eindeutig nicht die Partei des neuen Luxemburgs sein, der Geschäftsanwälte, Steuerberater, Unternehmensberater, Vermögensberater, der Startup-Unternehmer, der CEO und DRH, die französisch reden, englisch radebrechen und teure Firmenwagen fahren.
Deshalb sei die ADR, so ihr Präsident, die einzige Partei gewesen, die beim Referendum über das Ausländerwahlrecht klar für das Nein plädiert und damit „80 Prozent der Luxemburger aus dem Herzen gesprochen“ habe. Weil sie sich aber nicht erklären kann, wieso sie dann nicht von 80 Prozent der Luxemburger gewählt wird, bot sie der Facebook-Seite Wee 2050 – Nee 2015 des ehrgeizigen Erdkundelehrers Fred Keup acht Plätze auf ihren Kandidatenlisten an (d’Land, 9.3.2018). Denn „die Sorge um unsere Sprache und das unkontrollierte Wachstum machten eine Zusammenarbeit logisch und sinnvoll“, freute sich Jean Schoos.
Am Ende brachten die sehr rechten Referendumsgegner bloß sechs Kandidaten auf, neben Fred Keup auch den Unternehmer Tom Weidig, der im Internet mit deutschen AfD-Politikern sympathisiert und die Nazi-Besatzung bagatellisiert, oder der pensionierte Angestellte Daniel Rinck, der unter dem Facebook-Namen Neiwahle Lëtzebuerg nach dem Referendum 2015 eine Petition eingebracht hatte, um den Rücktritt der Regierung zu verlangen, und Lucien Welter zu der Vorstellung seiner erfolgreichen Petition ins Parlament begleitet hatte. Lucien Welter, der das Luxemburgische als Wettbewerbsvorteil gegenüber besser qualifizierten Grenzpendlern zur Amtssprache erheben wollte (d’Land, 20.1.2017), kandidiert im Zentrum. Als Bezirksvorsitzender durfte er aber nicht neben dem Abgeordneten Roy Reding Spitzenkandidat werden, obwohl die ADR in allen anderen Bezirken eine Doppelspitze hat.
Seit 2013 ist die soziale Zusammensetzung der ADR-Listen noch vielfältiger geworden. Sie reicht laut Jean Schoos „vom Studenten über den Bauern bis zur Hausfrau, vom Arbeiter über den Beamten, vom Rentner über den Anwalt zum Selbstständigen, alle Gesellschafts- und Berufsschichten sind vertreten“. Für eine Partei, die mit Rentnern, Zukurzgekommenen und Beamtenneid anfing, zählt sie heute unter 60 Kandidaten 24 Akademiker, elf Beamte, 15 Selbstständige. Nur der Altersdurchschnitt ist mit 49 Jahren noch immer einige Jahre höher als bei den anderen Parteien. Selbst einige populäre Helden konnte die ADR neben ihrem politischen Personal mobilisieren: Guy Arend aus der Trash-TV-Sendung Bauer sucht Frau, Fußballnationalspieler Daniel Da Mota, Ex-RTL-Reporter Dan Hardy und den ehemaligen Generalstabschef Mario Daubenfeld. Die Kandidaten seien „der Beweis, dass die ADR eine Partei ist, die mitten in der Gesellschaft angelangt ist“.
Zumindest für Jean Schoos ist Luxemburg „ein farbiges Land vieler Nationalitäten“ und die ADR tue alles, damit sie „nicht nebeneinander, sondern zusammenleben“. Deshalb habe „eine ehrliche Integration für die ADR die höchste Priorität“, nämlich „über den Weg unserer Nationalsprache Luxemburgisch, dem Respekt unserer Werte, unserer historisch gewachsenen Kultur“. In Zeiten von Front national, AfD, Brexit und Lega sind die Übergänge vom Volkstümlichen zum Völkischen verschwommener denn je.