Europa und die NSA-Affäre

Neugierige Freunde

d'Lëtzebuerger Land du 01.11.2013

Herrschen heißt kontrollieren. Wissen ergibt sich aus Kontrolle. So fertigt und festigt sich Macht. Selbstredend geschieht dies alles unter dem Diktum des Guten, Edlen, Schönen und vor allem Wahren. Sei es, die Welt sicherer zu machen, sie gegen den globalen Terrorismus zu schützen, oder für die Werte des Westens einzutreten. Sie zu verteidigen. Die Werte. Und die westliche Welt. Der Abhörskandal um die US-amerikanische National Security Agency (NSA) offenbart jedoch, dass es wohl keine genaue Definition dessen gibt, was eigentlich eben jene Werte sind. Oder sein sollen. Die oft und ausgiebig zitierte Freiheit scheint jedenfalls nicht ein universeller, unteilbarer Wert der westlichen Welt zu sein. Oder nicht mehr.

Als vergangene Woche der NSA-Skandal auch die Mächtigen in Paris und Berlin betraf, glaubte man, einen Ruck in der europäischen Einigung zu spüren, ein Zusammenrücken. Unisono verurteilten europäische Regierungen, dass der US-Präsident Barack Obama in seiner Überwachungswut und Kontrollmanie nicht einmal vor der deutschen Bundeskanzlerin Halt machte. Seit mehr als zehn Jahren lässt Washington die Regierung in Berlin überwachsen, seitdem sich Deutschland – gemeinsam mit Frankreich – weigerte bedingungslosen, blinden Gehorsam zu leisten und in den Krieg gegen den Irak zu ziehen. Der damalige französische Präsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder galten – in den Augen Bushs – als nicht mehr vertrauenswürdig. Bush brandmarkte das Antikriegsbündnis zwischen Paris und Berlin als das „Alte Europa“, das nicht mit der Koalition der Willigen im „Neuen Europa“ Schritt halten und im Gleichschritt marschieren wollte.

Nun zeigt sich, dass Barack Obama in dieser Kontinuität der Skepsis blieb. Das ist das eigentlich Erschreckende. Von Bush hatte man nichts anderes erwartet, als dass er weder Freund noch Feind benennen konnte, oder Zuneigung verteilte, wie es opportun oder wertend war. Das Alte Europa distanzierte sich nasenrümpfend von Bush und setzte alle Hoffnung auf Obama. Doch auch er misstraut. Beiden. Abgrundtief. Den Regierungen in Paris wie in Berlin. Auch wenn Präsidenten kamen und gingen, Kanzler wechselten. Das Alte Europa, da ist es wieder. Das US-amerikanische Unbehagen gegenüber Europa, ob alte Werte oder neue.

Vielleicht erwächst nun aus dem Misstrauen jenseits des Atlantiks endlich Vertrauen diesseits des Ozeans. In Brüssel haben Frankreich und Deutschland vereinbart, gemeinsam den Abhörskandal zu klären. Es sei eine deutsch-französische Initiative, der sich andere Länder anschließen könnten, sagte EU-Ratspräsident Herman van Rompuy nach den Beratungen vergangene Woche. Beim Gipfel der EU im Dezember wollen Merkel und Hollande Bericht erstatten. Gemeinsam mit Washington wollen Frankreich und Deutschland Regeln für die Geheimdienste aufstellen, die gegenseitiges Ausspähen verhindern sollen. Als Vorbild gelten die „Five Eyes“ – die Regierungen Australiens, Großbritanniens, Kanadas, Neuseelands und der USA haben vor Jahren bereits ein ähnliches Abkommen getroffen.

Doch es bleibt ein fader Nachgeschmack. Vor allem in Berlin. Denn Empörung mochte sich bei Angela Merkel nicht so richtig einstellen. Im Wahlkampf hatte ihr Chef des Kanzleramts Ronald Pofalla den NSA-Skandal für beendet erklärt – und damit auch für aufgeklärt. Es folgte ein laues Lüftchen der Entrüstung. Berlin bestellte den US-Botschafter ein, was unter befreundeten Staaten ein ungewöhnlicher Schritt ist. Doch Grenzen aufzeigen möchte Berlin – und auch das übrige Europa – nicht. Im EU-Parlament folgte eine kurze Debatte mit Resolution über die Aussetzung des Swift-Abkommens, das den USA erlaubt, auf europäische Bankdaten zuzugreifen, die recht schnell von der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström beendet wurde. Das Abkommen wird nicht ausgesetzt werden. Auch die Verhandlungen über die Freihandelszone gehen weiter.

Die verhaltene Reaktion von Angela Merkel verwundert. Die Bundeskanzlerin verweist oft auf ihre Interpretation des Grenzen überwindenden Freiheitsbegriffs, der sich durch ihre Biografie geprägt hat, durch ihr Leben in der totalen Überwachung durch die Staatssicherheit der Ex-DDR erklärt. Gerade aus diesem Erfahrungsschatz erwartete man ein bedingungsloses und mutiges Einstehen für Freiheitsrechte. Jenseits des notwendigen Schutz vor Terrorismus und Gewalt. Denn Merkel wird wohl kaum der Generalverdacht des Terrorismus anhängen. Doch die Kanzlerin gibt sich zahm, spielt wieder auf Zeit, verharmlost, als sei alles eine leidige Inszenierung. Wenn der Kanzlerin die Verletzung ihrer Bürger- und Freiheitsrechte egal sind, dann mögen Bürgerinnen und Bürger sich auch zurückhalten.

Gerade das „Weiter so“ der Europäer in den Verhandlungen um die Freihandelszone zeigt, dass Europa keineswegs Hort einer Freiheit ist, der Bürgerrechte verbrieft, sondern dass es in dieser Union ein seltsames Primat einer einzigen Freiheit gibt, dem alle anderen Freiheitsbegriffe Untertan sind. Es ist die Freiheit des Marktes und Konsums zur Wohlstandswahrung, Profitsteigerung und Abschottung. Dies ist der einzige universelle, unteilbare Wert der Freiheit in der westlichen Welt.

Martin Theobald
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