Stirners Prothese

d'Lëtzebuerger Land du 16.08.2019

Anfang Mai richteten Bauarbeiter im südlichsten Teil des Stadtparks, der sich im Westen auf den ehemaligen Wällen und vorgelagerten freien Flächen der Festung um die Innenstadt legt, dort wo der Park nur durch die Avenue Marie-Thérèse vom Petrusstal getrennt ist und ein kleiner, von manchen Spaziergängern sicher „zauberhaft“ genannter Teich mit Schilf und Enten und sogar einer kurzen Brücke angelegt ist, auf der sich Fußgänger und Radler immer wieder in die Quere kommen, dort richteten Bauarbeiter auf der freien Wiese und ohne erkennbaren Nutzen einen schätzungsweise vier Meter hohen verkleideten Träger auf, der eine an den Mastkorb eines Segelschiffs erinnernde Plattform trägt, und eine schräge Stahlleiter, die nicht einmal auf halber Höhe durch eine enge Drahtröhre bis zum schmalen, nur eine Person fassenden Korb führt.

Einige Tage später, am frühen Nachmittag des 21. Mai, weihten in einer kurzen Zeremonie einige Bekannte, Museums- und Gemeindevertreter das Bauwerk ein, das laut einer einige Schritt entfernt aufgestellten Tafel „Stirner Prothese“ heißt und „für die Dauer der Retrospektive Bert Theis im Mudam“, das heißt bis zum 25. August, von der Stadt Luxemburg „präsentiert“ wird.

Die Stirner-Prothese – der vor drei Jahren verstorbene Künstler gebrauchte im Deutschen völlig zu Recht einen Bindestrich – kann „auf eigene Gefahr“, wie es mit institutioneller Vorsicht auf der Tafel heißt, bestiegen werden und bietet sich so als Aussichtsplattform an. Damit greift sie gleich zwei Motive auf, die in Bert Theis’ immer auch politischer Arbeit wiederholt vorkommen: die Plattform, die zum beschaulichen Entschleunigen in einer Welt einlädt, deren Rhythmus sich durch die Verkürzung der Kapitalzirkulation beschleunigt, und der Hochsitz, der einen distanzierten Überblick auf die hinter einem Verblendungszusammenhang verborgenen Verhältnisse ermöglichen soll.

Bert Theis hatte die Stirner-Prothese im Jahr 2000 für die Skulpturensammlung im Englischen Garten der Evangelischen Akademie Tutzing am Starnberger See bei München entworfen. Dort standen zwei korinthische Säulen scheinbar nutzlos herum: „An eine der Säulen sollte eine filigrane Metallprothese angebracht werden als Fremdkörper aus der funktionellen Welt des Schiffs-, Eisenbahn- und Industriebaus in der neoklassischen ldylle des Parks“, erzählte er in Bert Theis, Some Works (Cantz, Ostfilder-Ruit, 2003, S. 103). „Sie sollte jeweils von nur einer Besucherin oder einem Besucher bestiegen werden können, die das Bedürfnis verspüren sich zu isolieren. Das Konzept der Stirner-Prothese beinhaltete die Ablehnung einer eindimensionalen Sichtweise und Nutzung, so wie der Stirner’sche Individualismus anarchistisches Verhalten und Verweigerung jeder Kontrolle beinhaltet: Der ‚Einzige‘ kann sich mit einem Buch auf die Säule zurückziehen, sich auf die Plattform setzen und jedem anderen den Zutritt verwehren.“

Der in Bayreuth geborene Flötenmachersohn Johann Caspar Schmidt (1806-1856) soll als Kind wegen seiner hohen Stirn von Mitschülern als „Stirner“ gehänselt worden sein. Als Student besuchte er in Berlin Vorlesungen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und wurde zu dessen demokratischem, atheistischem Schüler, wie Ludwig Feuerbach, ­Bruno Bauer, Arnold Ruge, Karl Marx und Friedrich Engels. 1844 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Max Stirner das Buch Der Einzige und sein Eigenthum (Otto ­Wigand, Leipzig, 1845). Vielerorts wurde das ganz und gar unerhörte Buch umgehend verboten (nicht so in Luxemburg, trotz des Drucks des preußischen Gesandten [Gast Mannes, Josiane Weber, Zensur im Vormärz, BNL, Luxemburg, 1998, S. 96]).

Die Junghegelianer hatten sich von Gott befreit, Stirner wollte sich auch vom Idealismus befreien, „nicht bloß den Geisterglauben, sondern auch den Geistesglauben“ ablegen (S. 93), anschließend der Moral, dem Recht und dem Staat den Krieg erklären, denn „Recht – ist ein Sparren, ertheilt von einem Spuk“ (S. 276), und „jeder Staat ist eine Despotie“ (S. 257). „Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser ‚menschlichen Gesellschaft‘ nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie vielmehr in mein Eigenthum und mein Geschöpf, d.h. Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten“ (S. 235). Fichte gab er zurück: „Allein nicht das Ich ist Alles, sondern das Ich zerstört Alles […]. Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster u.dgl.“ (S. 239).“ Der Egoismus befehle: „Greife zu und nimm, was Du brauchst! Damit ist der Krieg Aller gegen Alle erklärt. Ich allein bestimme darüber, was Ich haben will“ (S. 341).

Bei seinem Erscheinen sorgte das skandalös egoistische Manifest für Aufsehen und Kritik. Unter dem Titel Sankt Max hinterließen Karl Marx und Friedrich Engels eine 430 Seiten lange, spotttriefende Polemik: „Der hohlste & dürftigste [S]chädel unter den Philosophen mußte die Philosophie damit ‚verenden‘ lassen, daß er seine Gedankenlosigkeit als das Ende der Philosophie & damit als den triumphirenden Eingang in das ‚leibhaftige‘ Leben proklamirte“ (MEGA2, I/5, S. 506). Sie wurde erst posthum zusammen mit anderen Manuskripten als Deutsche Ideologie veröffentlicht. Nach der Revolution von 1848 flaute das Interesse an dem Buch ab, das später Anklang finden sollte bei Benito Mussolini, Martin Heidegger, Carl Schmitt, dem Waldorf-Erfinder Rudolf ­Steiner, dem Sankt-Vither Großvater des Beki, Silvio Gesell... Anarchisten beriefen sich auf ihn und heute tun es noch grünbraune Libertäre.

Obwohl der Begriff kein einziges Mal im Einzigen und sein Eigenthum auftaucht, gilt Max Stirner als einer der Väter des Solipsismus, der den Subjektivismus bis zum Verdacht treibt, dass die ganze Welt bloß eine Sinnestäuschung des einzigen Einzelnen ist. Vielleicht als Spiegelbild des in der Provinz isolierten Intellektuellen ist das Hauptwerk des am wenigsten unbekannten der Luxemburger Philosophen, Jules Prussen, eine Apologie du solipsisme (Institut grand-ducal, Luxemburg, 1986), so wie Außenminister Jean Asselborn (LSAP) am 12. November 2014 in der deutschen Fernsehsendung Anne Will die engen Verhältnisse zum Vorwand nahm: „Wir haben keinen Platz für Häuser, nur für Briefkästen.“

Bert Theis mag vom extremen Anarchismus Stirners angezogen gewesen sein. Sicher ist der Titel seines Werks in Verbindung mit der Vorstellung einer Prothese auch ironisch gemeint. Er hatte über Architekturprothesen nachgedacht und verstand sie als „Erweiterungen bestehender Architekturelemente. Prothesen für Baukörper. Glieder, die temporär an existierende Konstruktionen angeschlossen werden. Korrekturvorschläge, die Mängel beheben oder die Palette der Funktionen erweitern. Sie können flexibel für alle möglichen Gebäudetypen und Architekturelemente entworfen werden.“ (Bert Theis. Some Works, S. 101).

Doch „[d]iese Auftragsarbeit für die Parkanlage der Evangelischen Akademie am Starnberger See nahe München wurde nicht realisiert. Gab es Einwände gegen eine Würdigung des atheistischen Hegelschülers, dem Philosophen des Solipsismus?“, fragte sich der Künstler (Bert Theis. Some Works, S. 101). Erst 20 Jahre später wurde nun die ­Stirner-Prothese im Rahmen der großen Bert-Theis-Retrospektive doch noch verwirklicht. Kannten etwa – anders als die Evangelische Akademie bei München – das gutbürgerliche Musée d’art moderne grand-duc Jean und die rechtsliberale Stadtverwaltung Stirners Werk gar nicht? Oder hatten sie es, im Gegenteil, vielleicht gründlicher gelesen und sich darin wiedererkannt?

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem von Bert Theis geplanten Werk und seiner Verwirklichung: Die Stirner-Prothese ist keine Architekturprothese mehr. Sie wurde nicht an dem ebenfalls im Stadtpark stehenden, säulenförmigen Amaliendenkmal angebracht, um dieses zu erweitern oder zu korrigieren, sondern an einem eigens dazu aufgestellten Zylinder. So scheint die Stirner-Prothese zu einem Ersatzkörperteil ohne Körper, zu einer Prothese ohne These gemacht worden zu sein.

Doch in Wirklichkeit ist nun auch der Körper Prothese, und mit dem veränderten Kontext änderte sich die Bedeutung des Kunstwerks. Aus dem Sinnzusammenhang gerissen, wird der Aussichtsturm in seiner neuen Autonomie zu einem freistehenden Denkmal für Max Stirner und dessen Evange­lium des Egoismus. Es gibt den Blick frei auf das, was Das Einzige und sein Eigenthum philosophisch zu überhöhen versuchte: das Weltbild der Kleinkrämer, die keine Welt kennen und keine wahrhaben wollen außerhalb ihres Krämerladens, die den Staat für eine Despotie halten und vom Konkurrenzkampf aller gegen alle aufgefressen werden. Hatte nicht schon Adam Smith ihnen Recht gegeben: „It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker, that we expect our dinner, but from their regard to their own interest“ (An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations, Strahan & Cadell, London, 1776, S. 17). Die Mittelstandspartei regiert seit fast einem Jahrhundert die Stadt, im Gegenzug schenkte ihre Union commerciale der DP vor kurzem eine Präsidentin und Ministerin. Denn „[i]n den Verein bringst Du deine ganze Macht, dein Vermögen, und machst Dich geltend, in der Gesellschaft wirst Du mit deiner Arbeitskraft verwendet“, so Max Stirner (S. 417).

In mondlosen Nächten steigt vielleicht sogar der Geist einer englischen Krämertochter auf die für eine einzige Person gedachte Plattform und schreit mit ihrer krächzenden Stimme den Scharen über die Baumwipfeln kreisender Fledermäuse zu: „And, you know, there’s no such thing as society!“

Romain Hilgert
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