Doku, Bergdorf, Afghanistan, eine junge Frau schneidet der entspannt auf dem Sofa thronenden Schwiegermutter die Zehennägel. Wie cool ist das, oder wie geil, oder wie wir Alten hier heutzutage zu reden pflegen. Schwiegertocher Zehennägel. Ich auch, ich buche auch. Aber wo ist meine Schwiegertochter? Habe oder werde ich eine solche je haben, und auch noch eine solche solche? Und was ist das überhaupt für ein Ansinnen, für eine Chuzpe? Habe ich je einer Schwiegermutter die Zehennägel geschnitten?
Hätte ich je einer Schwiegermutter und so weiter? Hätte ich da nicht die Flucht ergriffen, zumindest in eine Ausflucht? Staat gesagt, zuständige Stellen, Expertinnen, Profis, Freiheit gesagt, also meine? Wie kann ich also so tagträumen, ich hab meinen Teil des Deals ja gar nicht geleistet. Es handelt sich schließlich um einen Deal, Gesellschaftsvertrag, Generationenpakt, wie immer man es nennt.
Ich sehe eine Schweden-Doku. Was weiß ich von Schweden? Einmal fahre ich mit meinen Eltern von Dänemark nach Malmö. Es regnet auf meinen gelben Gummimantel, ich kaufe Schöne Grüße aus Malmö, dann steigen wir wieder in die Fähre. Ich lese Stirndberg, wegen dem Schweigen der Bergman-Filme lerne ich die Sprache der Bergman-Filme, zumindest kurz. Später, als sogar die Bergman- Filme nicht mehr schwarzweiß sind, munkelt Mann von heißen Schwedinnen. Noch später geht die Mär von einem lebenswerten Ort, in dem Utopie und Pragmatismus und Kapitalismus und Sozialismus sich wundersam ergänzen. Die Gesellschaft dort, so heißt es, sei gerecht, die Frauen die emanzipiertesten, von den Fernfahreridolen der Sechzigerjahre spricht keiner mehr.
In den letzten Jahren kommen aus Schweden nur noch verzweifelte Kommissare vorbei, sie wirken immer, als brauchten sie dringend ein paar hugs.
In der Schweden-Doku ist es kalt. Ich sehe Maden auf einem Fußboden in einer spartanisch eingerichteten Wohnung, eine Jeans über einen Stuhl geworfen. Ein Mann hat sich hier erhängt, nach zwei Jahren wurde er gefunden. Zwei Profis stöbern in seinen Sachen, respektvoll und routiniert, so was machen sie dauernd. Es ist ihr Beruf, immer mehr Menschen sterben allein, eine Behörde wurde gegründet, die darauf spezialisiert ist, nach Angehörigen von allein Verstorbenen zu suchen. Immer mehr Menschen leben schließlich allein, ein Viertel aller Schwed_innen, aber auch die Hälfte aller europäischer Großstädter_innen.
Die Auflösung der Familie als Ergebnis der „Familie der Zukunft“, einem Manifest der Siebzigerjahre, das soziale und ökonomische Unabhängigkeit für alle anstrebte? Die logische Konsequenz in einem Staat, der Betreuungsaufgaben in einem Maß übernimmt, das menschliche Beziehungen zu etwas total Freiwilligem werden lässt? Und der auch als Ideologie hat oder zumindest als Motto. Der der Betreuung und der oft mühsamen Zuwendung somit den Nimbus des Zusammenhalts nimmt, den Zusammenhalten obsolet klingen lässt, nach Elend, Nachkrieg, unsexy.
Wenn jeder in seiner Raumkapsel leben kann, warum sich rumplagen mit stressigen WGs, stressigen Familien? Warum sich mit alten Menschen umgeben, bei denen es alt riecht und man sich alte Geschichten anhören muss? Sie sind ja gut versorgt. Ihnen fehlt nichts. Ich muss nach mir schauen. Dass es mir gut geht. Sagt auch die Therapeutin. Wer braucht einen Vater, der ein Mammut erlegt, wer braucht überhaupt einen Vater? Oder ein Kind, Hund ist auch gut. Und wenn eine Frau wirklich das Gefühl hat, dass sie gern was Kleines hätte, wozu benötigt sie einen Mann, also einen eigenen? Die Samenbank diskriminiert nicht, jede zweite künstliche Befruchtung erfolgt bei einer Single-Frau. Sie ist ein freier Mensch. Sie kann sich frei entfalten. Frei von allem, Frei von allen. Frei für alles.
Wie alle.
Joggen, bloggen, sich einloggen. Bei Bedarf kommunizieren, dafür gibt es Kommunikationszentren. Geschlechtsverkehr vorher regeln. Und beim Automaten bezahlen!
Eine Syrerin, die Flüchtlinge unterrichtet, gibt der Klasse Alltagstipps. Nur nicht zu viel reden, sie macht die allgemein verständlich Quasselgeste. Ein kurzer Gruß, das reicht schon.
In Schweden, sagt sie, reden die Leute nicht viel.