Ich küsse die heimische Erde, beziehungsweise das heimische Pflaster nicht, als ich aus dem Bus steige. Ich habe es eilig, in dem Bus, in den ich in Saarbrücken gestiegen bin, gab es kein WC, und in dem Zug von Mannheim nach Saarbrücken funktionierte keins. Luxemburg über Deutschland per Schiene zu erreichen – nur etwas für Masochistinnen oder Desperadas. Aber immerhin bin ich jetzt hier!
Merde! Mein erstes Wort. Ein eisiger Windregen klatscht mir ins Gesicht, jetzt aber schnell! Ins Alfa!
Die große Hotelfront ist dunkel. Daneben ist zu, nebenan auch, dann endlich finde ich alles, was ich brauche, im Moment, der Kaffee kostet 2,60, geschenkt.
Ich ziehe meinen schweren Koffer durch die Joseph-Junck-Straße. Ziemlich tote Hose, nur ein paar schwarze Jungs sind unterwegs. Die afrikanische Raucherinnenoase, die mich vor Jahren bei Ankünften empfing, ist geschlossen. Dafür gibt es andere afrikanische Cafés, in einem sehe ich einen bleichen Menschen. Plötzlich Gekreisch wie in einem gigantischen Vogelhaus, es ist aber nur eine Handvoll Afrikaner an einer Ecke, wo es früher die besten Fritten gab und vielleicht immer noch gibt.
Ein paar Nutten stehen gestiefelt und miniberockt herum wie in der guten alten Zeit. Ein Freier steuert eine an. Gegenüber kommen Kinder aus einer Schule, vielleicht von einem Fest, es ist zehn Uhr abends. Ich frage nach der Glesenerstraße. Ich spreche kein Asiatisch, die Mütter kein Europäisch. Kleeschenstraße? Ein kleines Mädchen erklärt mir in schönem Deutsch den Weg.
Ein betäubendes Krachen, ich hebe den Kopf, stürzt es ab? Ich könnte das Flugzeug mit der Hand greifen, es wirkt so surreal im Verlorenkosthimmel wie die Kreuzfahrtschiffe in venezianischen Kanälen.
Ich betrete ein Café mit russischen Buchstaben auf der Tür. Vielleicht, hoffentlich gibt es hier keine Bildschirme? Ich frage nach russischem Kaffee, die junge Frau schaut mich befremdet an. Normaler Kaffee, sagt sie. So redet die Deutsche Bahn auch. Ich bin allein mit einem in einem Winkel kauenden und ab und zu vor sich hin knurrenden Russen. Ich setze mich vor den Bildschirm, es gibt hier auch einen, überall gibt es welche. Der internationale Sender meldet eine Explosion in Österreich. Sofort rufe ich zuhause an.
Am nächsten Tag stehen ein paar Herren sprachlos nebeneinander vor ihrem Bier vor den jungen, kaltherzig blickenden Frauen. Die Explosion läuft noch immer.
Neben dem Café ist der Nachtclub St. Petersburg.
Ich höre eine Sirene, ist Krieg? Nein, es ist nur der Rettungswagen.
Einst stand ich hoch oben auf der Corniche und winkte einem jungen Mann zu, der im Gefängnishof seine Runden drehte. Der Inbegriff der Romantik. Jetzt sind im Gefängnis Kunst und Kultur.
In der Kirche St. Jean im Grund wird auf einer Holzinschrift ein Super-Deal geboten. 10 000 Jahre Ablass gegen fünf Mal Vater, fünf Ave Maria und fünf Mal Ehre sei dem Vater. Allerdings reumütig, andächtig und zu Ehren der hochheiligen Wunden Christi.
In meiner Erinnerung gibt es diesen Weg, den ich jetzt neben und mit der Alzette gehe – an ihrer Seite – nicht. Die Alzette ist braun, beinahe wild. Eine winzige Ente wird weg- und abgetrieben wie eine Spielzeugente.
Ich überquere eine kleine Brücke und stehe vor der legendären Ausbeuterfirma Amazon. Ich muss pinkeln. Ein paar Menschen hocken relaxed vor Bildschirmen, einer tankt vor einem Getränkeautomaten. Besonders fertig schauen sie nicht aus. Die bescheidene Sicherheitssperre lässt sich von meinem bewährten Unsichtbarkeitstrick nicht beeindrucken. Ob ich hier arbeite, fragt mich eine junge Frau. Ehrlich währt am längsten, nein, nur pipi. Amazon will nicht.
Wo einst Malou war, ist jetzt Ukulele. Eine Asiatin winkt ab, als ich eintreten will. Geschlossen. Ein veganes Restaurant ist geschlossen und alle nichtveganen auch.
In einem Fenster am Kosakestee, einem winzigen, intimen Platz, von dem ein Pfad bergauf führt, liegt ein Stofftiger. Ein paar Frauen mit ein bisschen Hautfarbe sitzen hinter einem andern Fenster beim Kaffee. In einem der Häuser haben alle Einwohner ex-jugoslawische Namen. Kurz beneide ich die Bewohner_innen des Kosakestee.
Über die Bäume sind eng anliegende golden glühende Ganzkörperstrümpfe gestülpt, es muss weh tun.
In der Großgasse ist kaum ein Mensch. Montag, sagt die Apothekerin. Am Sonntag war ja alles offen.
Alle sind am Weihnachtsmarkt, sie quetschen sich unter Planen mit ihren Glühweinstiefeln. Es schüttet.
Vom Fenster des Hot Chocolate aus kann man den Soldaten sehen, wie er im Schneeregen vor dem Palast auf und ab und ab und auf geht. Junge, fröhliche, schöne Menschen tauchen Schokoladeschlecker in heiße Milch. Dann ist der Soldat weg, ist er desertiert? Ins Hot Chocolate?
Am Boulevard Royal steht ein Haus wie ein letzter, hartnäckiger Zahn in einem ausgeraubten Kiefer. Die Bettler_innen hocken in dem improvisierten Durchgang in den Pfützen.
Die Bürogebäude sehen aus wie auf Röntgenaufnahmen, man sieht durch die Gebäude und in die Gebäude hinein, bis unter die Beine der ausgestellten Bildschirmmenschen. Alles ist transparent.
Am Tram-Geburtstag gleite ich in der Designer-Tram in eine Landschaft, in der die Zukunft schon herumsteht und ausgestellt ist. Es ist alles eine Zukunftsinstallation. Es wird noch dauern, bis es aussieht wie in glücklichen Wimmelbilderbüchern.
Überall ist alles neu. Neue Siedlungen, neue Straßen, das Land ist ein anderes Land als das, das ich vor dreißig Jahren verließ. Es entwickelt sich so rasant, dass ich bei meinen seltenen Besuchen kaum noch mitkomme. Was ist das, was wird das für ein Land? Vielleicht einer der spannendsten Orte Europas, ein globales Mini-Labor.
Die satten Ureinwohner_innen im Speck-Belt der City, in der geschützten Staatswerkstätte beschäftigt, noch, oben und unten die fleißigen und beziehungsweise hochqualifizierten Migrant_innen, die Expats. Die smarten jungen Männer, die mir auf Schritt und Tritt begegnen, welchem Stamm gehören sie an?
Die Sprachensituation irritiert mich. Ich zögere, Leute anzusprechen, wie kommt die Auswahl welcher Sprache rüber? Aus Nostalgie und aus der Lust heraus, meine Sprache zu reden, versuche ich es mit Luxemburgisch. Vielleicht auch aus Prinzip? Aus welchem Prinzip? Ist es nationalistisch, ermächtigend? Oder gerade das Gegenteil davon, dieses den Anderen als einen „Echten, Authentischen“ anzusehen, als einen Aborigenee, einen Dazugehörigen? Aber was ist so toll daran, dazu zu gehören, und zu was und zu wem? Und will er oder sie das überhaupt? Aber muss oder soll er oder sie das nicht wollen?
Weit komme ich sowie nicht mit Luxemburgisch in der Stadt. Also permanent switchen, sich anpassen? Seltsames Radebrechen bei spontanen Gesprächen, auch der oder die andere improvisiert, rätselt rum. Ich finde das zwar interessant, aber auch anstrengend. Ein Land, das die Selbstverständlichkeit der Verständlichkeit verloren hat, vielleicht sogar die Selbst-Verständlichkeit. Dafür aber Flexibilität und Future gewinnt.
Vor Belval stinkt es. Eine Kläranlage, ein paar junge Menschen sind in ihrem Auto in diesem stinkenden Teich ertrunken.
Alice ausgesetzt auf dem Belval-Planeten, Rost-Dinos über ihr, um sie herum eine untergegangene Welt, die ihre Krakenarme ausstreckt, Hochöfen, in denen Menschen aus dem ganzen Land geopfert wurden; wie bei Leger, stammelt sie. Industrie-Antike prallt auf Software-Ästhetik, Kapitalismus auf Kapitalismus. Science-Kulisse als Science-Fiction-Kulisse.
Revitalisiertes neben vor sich hin Zerfallendem, das zerfällt einfach, wie es ihm gefällt. Naturwüchsiger Zerfall inmitten der Brutalo-Bauten der Jetzt-Zeit? Ist das die Idee? Toll und radikal. Eine jenseitige Landschaft aus Tümpeln und Moder und Schrott und Schründen, auf einem Riesenabenteuerspielplatz mit Kiffertempel.
Die junge Begleiterin könnte sich vorstellen, hier zu studieren und zu leben. Der junge Begleiter ist Tarzan in Belval. Schon hantelt er sich an Rohren hoch, strebt auf Ruinen zu Höherem.
All we need is love, steht in Großbuchstaben auf einer Hauswand. Etwas einsam stehen ein paar Christbäumchen.