Internationale Schule für Differdingen – oder für wen?

Geteilte Zukunft

d'Lëtzebuerger Land du 21.11.2014

„Und was ist mit uns Luxemburgern? Wer denkt an uns und unsere Kinder?“ Wir sind in der Rue J. F. Kennedy. Paolo (Name geändert, die Red.) schiebt sich die Kappe einer bekannten Bierfirma aus dem Gesicht. Der junge Differdinger und sein Vater sind überzeugt: Die neue internationale Schule ist nicht für sie. „Wir haben nichts gegen Ausländer. Aber die Gemeinde hat eine Schule für alle versprochen. Was jetzt kommt, dient nicht der Integration“, findet sein Vater, ein Mann um die 50, dessen Großvater vor Jahrzehnten aus Portugal zum Arbeiten nach Luxemburg kam.

Die Sorge, was von die Erziehungsminister Claude Meisch (DP) überraschend angekündigte internationale Schule für Differdingen bringt, treibt nicht sie allein um. Einige Passanten, französischsprachige, schütteln den Kopf und eilen weiter: Nein, sie haben noch nichts von dem Projekt gehört. Die, die etwas mitbekommen haben, sind geteilter Meinung. Die einen begrüßen, dass eine Schule nach dem Typ Europaschule, also mit mehreren Sprachsektionen und international anerkanntem Abschluss, in die einstige Stahlhochburg kommen soll. „Das wertet unsere Gemeinde auf“, findet ein Handwerker, der in Differdingen arbeitet und im Umland wohnt. Ein Passant ist unsicher: „Ich weiß nicht, ob eine solche Schule hierher passt“, meint er. Seine weibliche Begleitung wirft ein: „Wir haben Kinder, die täglich nach Esch fahren müssen, um in die Schule zu gehen. Wo sollen die hin?“ Dass die beiden Hauptsprachen – Französisch und Englisch – für diese Kinder attraktiv sein könnten, bezweifelt sie, geradeso, ob das Projekt überhaupt umgesetzt wird: „Das ist das System Meisch“, lästert der hochgewachsene Mann im schwarzen Mantel: „Der setzt etwas in die Welt, um Reaktionen zu testen, und wir wissen immer noch nicht, was geplant ist.“

Dass anstelle eines klassischen Lyzeums eine internationale Schule in die drittgrößte Stadt im Süden kommen soll, erfuhren die meisten Differdinger aus dem Radio vor anderthalb Wochen. Der grüne Bürgermeister der Stadt, Roberto Traversini, wusste es ein wenig früher: „Vor zwei, drei Wochen“ sei er von seinem Vorgänger angesprochen worden, erzählt Traversini dem Land. Damals habe Minister Meisch angedeutet, dass er andere Pläne mit Differdingen habe, als ursprünglich vorgesehen. Am vergangenen Mittwoch, vor der Gemeinderatssitzung, war Meisch in den Schöffenrat gekommen und hatte sein Projekt persönlich vorgestellt.

„Wootlech waarm“ stehe er der Ansiedlung einer Art Europaschule gegenüber, sagt Schulschöffe Georges Liesch. Vor allem die Idee, dass die Schule unterschiedliche Sprachen vorsieht, gefällt dem grünen Schöffen, der selbst Lehrer ist. „Sicher müssen wir die Details diskutieren. Aber was ich bisher gehört habe, beruhigt mich“, so Liesch. Traversini, der von sich selbst sagt, dem Projekt „méi wéi wootlech waarm“ gesonnen zu sein, betont: „Wir haben sofort gesagt, dass die Kinder unserer Gemeinde in der Schule unterkommen müssen.“

Doch die aufgeschlossenen Töne der politisch Verantwortlichen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass zumindest Teile der Bevölkerung die internationale Schule, die bereits 2016 starten und nach dem Modell einer Europaschule funktionieren soll, kritisch sehen – und viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. Traversini behauptet zwar, außer vom kommunistischen Gemeinderat Ali Ruckert keine Stimmen gegen das Schulprojekt vernommen zu haben. Das liegt aber wohl eher daran, dass sich der Grüne nicht besonders viel im Internet umschaut. Ein erboster Leserbrief auf RTL Radio, genervte Einträge auf Facebook und in Foren, auf den Straßen klingt das Echo geteilt. Insbesondere Luxemburger scheinen sich Sorgen zu machen, ihr Kind könnte auf der Strecke bleiben. „Wer wird in die Sekundarschule gehen?“, fragt eine Mutter, die es „grundsätzlich“ gut findet, dass die „Weltsprache Englisch“ angeboten wird. Sie sieht ein, dass, „wenn Differdingen attraktiv bleiben will“, man „an die Zukunft denken“ müsse. Die Zukunft beschwört auch Claude Meisch gegenüber dem Land: „Mit der Uni in Belval werden viele Forscher in den Süden kommen, sie brauchen eine Schule, die ihren Bedürfnissen entspricht.“ Mehr soziale Mixität hatte er sich damals für die Gemeindeentwicklung auf die Fahnen geschrieben, auch Traversini wirbt dafür: „Wir haben viele Familien, die weggezogen sind. Um solche Familien künftig zu halten, müssen wir für Angebote für sie schaffen.“

Doch eben diesen Plänen misstrauen manche Differdinger. „Warum hat die vorige Regierung ein klassisches Lyzeum genehmigt? Die muss sich doch etwas dabei gedacht haben“, fragt eine Passanti misstrauisch. Dass plötzlich die Hochrechnungen, die das Ministerium für den Bau eines Lyzeums anstellt, nicht mehr stimmen sollen, findet sie merkwürdig. Rund 3 000 Schüler pendeln täglich von Differdingen nach Esch und anderswo, um einen Sekundarschulunterricht zu folgen. Doch vergangenes Jahr seien lediglich 39 Kinder von 320 in den Classique orientiert worden, behauptet Traversini. „Wir hatten ohnehin Bedenken, ob wir ein Classique hätten füllen können“, betont Georges Liesch. Die neue Schule passe viel besser auf die Bedürfnisse der Differdinger: „Das kann gerade für portugiesische Kinder interessant sein, die mit dem Französischen oft weniger Schwierigkeiten haben“, so Traversini, der sich an seine eigene Schulzeit erinnert. Als italienischer Einwanderer habe er besonders mit dem Deutschen gehadert. Mindestens die Hälfte der Plätze, so sein Versprechen, sollen für Differdinger Schüler reserviert werden.

Doch damit diese von ihnen eingenommen werden können, müssen zunächst die Zugangskriterien geklärt werden. In der Regel ist es die Schule, die entscheidet, wen sie aufnehmen will oder wen nicht. Das hängt wesentlich von der Empfehlung ab, die die Schüler mit auf den Weg bekommen. Im Ministerium wird nun über ein Examen nachgedacht. Damit Differdinger, die zu Hause kein Englisch oder Französisch sprechen, eine reelle Chance haben, in die neue Schule zu gehen, soll das Régime préparatoire auf dem Jenker sie vorbereiten. Letztlich soll die Schule aus drei Einheiten bestehen: englisch- und französischsprachiger Grund- und Sekundarschule und Préparatoire. Das Ministerium drängt darauf, mit den ersten Klassen schon 2016 in provisorischen Containern zu beginnen. Das Differdinger Lyzeum wird nicht vor 2019 fertig, so lange dauern die Bauarbeiten. Den Zeitdruck erklärt Claude Meisch mit dem „großen Bedarf an solch einem Angebot“. Doch welcher Bedarf besteht genau – und wonach eigentlich? Bisher hat das Erziehungsministerium keine Zahlen vorgelegt, an denen sich die Prognosen der Schüler- und Bevölkerungsentwicklung nachvollziehen lassen, mit denen das Ministerium seinen Sinneswandel begründet. Dabei soll eine Bedarfsanalyse gemacht worden und bei englischsprachigen Unternehmen angeklopft worden sein. Warum werden diese Ergebnisse nicht veröffentlicht?

So argwöhnen einige, dass es in Wirklichkeit nicht um die Differdinger gehe, sondern sich das Schulangebot in erster Linie an die englischsprachigen Kinder so genannter Expats, hier lebende ausländische Fachkräfte, richte. Premierminister Xavier Bettel hatte vor kurzem auf einer Internet-Konferenz angekündigt, Luxemburg plane eine öffentliche Schule für Fachpersonal aus dem Kommunikationssektor. In der Pressemitteilung des Erziehungsministeriums heißt es: „Une offre scolaire de qualité est un élément important dans la décision d’une entreprise, d’un investisseur étranger ou d’experts scientifiques de s’installer ou non au Luxembourg.“

Regierungsberater Michel Lanners spricht ebenfalls von Druck, räumt aber ein, das zumindest in der englischsprachigen Privatschule St. Georges in Hamm freie Plätze existieren. In der International School auf dem Campus Geeeseknäppchen in der Hauptstadt sowie der Europaschule seien jedoch „die Klassen voll“. Der Staat hat kürzlich weitere Kontingente bei der Europaschule eingekauft, für Deutsch und Französisch, diese seien „binnen kürzester Zeit“ vergeben gewesen. Aber berechtigt der Mangel an Privatschulplätzen eine öffentliche Schule im Süden des Landes, wo die Bevölkerung zu einem erheblichen Teil aus Arbeitern besteht?

Claude Meisch betont, dass sich das Sprachenangebot auch an die portugiesische Bevölkerung richte. „Wer will, kann Portugiesisch als Drittsprache neben der Hauptsprache wählen.“ Zudem soll Luxemburgisch als Pflichtfach bis zum unteren Sekundarzyklus und Deutsch als Wahlfach bleiben. Für diejenigen, die im französischsprachigen Ausland zur Schule gehen, sei das Angebot ebenfalls interessant, so Meisch. Rund 3 000 Kinder aus Luxemburg besuchen Schulen im Ausland, vor allem in Belgien.

Ob diese Argumente die Differdinger überzeugen wird, steht in den Sternen. Die Schuldebatte will Bürgermeister Traversini führen, wenn mehr Informationen vorliegen. Eine Trumpfkarte hält die Gemeinde in der Hand: Sie stellt das dem Stahlkonzern Arcelor-Mittal im Juni für rund 5,5 Millionen Euro abgekaufte Bauland auf dem Plateau du Funiculaire zur Verfügung. Vielleicht täte der Schulminister gut daran, sein Projekt ausführlicher zu erklären. Wer gute Gründe hat, müsste in der Lage sein, diese darzulegen und nicht bloß eine einseitige Pressemitteilung zu verschicken. Zumal es nicht das erste und einzige öffentliche englischsprachige Schulangebot ist, und sich die Frage stellt, was der Trend für die öffentliche Schule insgesamt bedeutet. Im hauptstädtischen Lycée technique Michel Lucius werden englischsprachige Klassen angeboten. Das Angebot werde gut angenommen, sagt Schulleiterin Pascale Petry. Zu den Schülern zählen Kinder skandinavischer Fachkräfte, Flüchtlingskinder ebenso wie portugiesische Zuwanderer. Michel Lanners bringt es auf den Punkt: „Wir müssen unser Schulangebot an die Diversität anpassen, die wir in der Luxemburger Gesellschaft vorfinden. Wir können nicht ewig warten.“

Ines Kurschat
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