Leitartikel

80 Jahre danach

d'Lëtzebuerger Land du 09.05.2025

Heute vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945, kapitulierte Nazideutschland gegenüber den Alliierten und der Zweite Weltkrieg endete. In den Jahren danach teilten die USA und die Sowjetunion Europa in Einflusssphären auf. Die Vereinigten Staaten hatten auch den osteuropäischen Ländern Hilfen aus dem Marshall-Plan angekündigt. Vorausgesetzt ihr Bekenntnis zu einer Marktwirtschaft nach amerikanischen Prinzipien und zu der 1941 von Roosevelt und Churchill ausgearbeiteten Atlantik-Charta über eine Nachkriegsordnung. Weil das ihre regionalen Nachbarn in feindselige Staaten verwandelt hätte, leistete die Sowjetunion militärischen Beistand zur mehr oder weniger revolutionären Transition dieser Länder in politische und wirtschaftliche Ordnungen nach Sowjetvorbild. Und der Kalte Krieg begann.

80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und ein knappes Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Eurokommunismus ist vom amerikanischen Imperium aus freier Marktwirtschaft, liberaler Demokratie und Rechtsstaat seit Amtsantritt der zweiten Trump-Regierung die Europäische Union als wichtigster Vektor übriggeblieben. Mit ihrem Binnenmarkt, einer mehr technokratischen als demokratischen Führung und mit Werten, die bei Bedarf auch gebogen werden können. Weil niemand sagen kann, worin die finalité der EU besteht, die bloße Frage seit dem Scheitern des EU-Verfassungsvertragsentwurfs 2005 umgangen wird, und wegen des ewigen Widerspruchs zwischen nationalen und Unions-Politiken nehmen in den Mitgliedstaaten die Unzufriedenheiten zu. Dann erhält in Rumänien ein Rechtsradikaler die meisten Stimmen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl. Dann kann im Deutschen Bundestag, wenn der Kanzlerkandidat die erforderliche Mehrheit verfehlt, mit der AFD davon eine Partei am meisten profitieren, die der deutsche Inlandsgeheimdienst in Gänze als „gesichert rechtsextrem“ einstuft. Und das sind nur die Neuigkeiten von dieser Woche.

Weil Europa, die EU ganz offensichtlich nicht imstande ist, in einer Weltordnung der Großmächte mit einer Stimme zu sprechen und Stärke zu zeigen, lautet die bange Frage 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Was wird, wenn Amerika die Ukraine fallen lässt? Trotz des vorige Woche unterschriebenen Mineralien-Abkommens ist nicht klar, wie lange die USA ihr noch Waffen liefern, wie lange sie sich noch für einen Waffenstillstand einsetzen werden.

Vermutlich könnte die Ukraine sich dennoch weiter verteidigen, gegen ein Russland, das kein Interesse an der Einstellung seiner Aggression haben muss. Langfristig ist Russland im Vorteil, und Donald Trumps Hang zur Neuaufteilung der Welt ist dem von Wladimir Putin nicht fremd. Gäben die USA die Ukraine auf, gäben sie damit vor allem zu verstehen, sich aus der Ordnung in Europa zurückzuziehen, die sie selber nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hatten.

Dass dann ein russicher Überfall auf EU-Europa drohen könnte, ist zumindest fraglich. Wahrscheinlicher wären Detabilisierungsversuche. Tests der Verteidigungsbereitschaft von EU und Nato. Annäherungen Russlands an ihm wohlgesonnene EU-Staaten. Annäherungen an Russland durch Staaten, die um ihre Sicherheit fürchten, falls die USA sich aus Europa verabschieden. Oder andererseits Separatabmachungen bestimmter Länder mit den USA. Polen hat schon um die Stationierung von US-Atomwaffen auf seinem Territorium ersucht, statt in Westeuropa. Vielleicht wäre Donald Trump dazu geneigt, allein um die EU zu spalten, für die er nur Verachtung übrig hat.

Das große Problem dabei: Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht. Aufrüstung allein wird es nicht bringen; ehe sie umgesetzt ist, vergehen Jahre. Ob es etwas zu verhandeln geben kann, ist ebenfalls unklar. Bei den amerikanisch-russischen Gesprächen über eine Beendigung des Kriegs in der Ukraine sitzt die EU nicht mit am Tisch, obwohl der Ausgang dieser Verhandlungen nicht zuletzt sie betrifft. 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Lage in Europa so fragil wie nie.

Peter Feist
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