„Die Ohren müssen rauf“, sage ich zu dem Fotografen.
„Die Ohren?“, sagt der Fotograf. “Wie soll das gehen?“
„Ich weiß nicht“, sage ich. „Ich weiß nur, dass sie rauf müssen.“
„Welche Ohren haben denn die Luxemburger?“, fragt der Fotograf. „Dass die auf einem Frontalfoto sichtbar sind.“
„Müssen die österreichischen Ohren nicht auf die österreichischen Pässe?“
„Nein,“ sagt der Fotograf. „Es ist auch vollkommen unmöglich, Ohren auf einem Frontalfoto abzubilden.“
Da man sie unter meiner Haarpracht sowieso nicht sieht, brauche ich eine neue Haartracht. Vor dem Spiegel im Abstellraum des Fotografen, der eigentlich ein Optiker ist, und seine Kasse mit Passfotos aufbessert, streiche ich meine Haare radikal aus dem Gesicht und bastele mir einen kleinen Knödel auf dem Kopf. Vielleicht haben meine Ohren jetzt eine Chance. Auf dem Foto schaue ich aus wie eine Psychiatriepatientin im 19. Jahrhundert oder wie eine perverse Heimleiterin. Mit ein bisschen Ohren.
Mein Meldezettel zerfällt schon zu Staub. Ich radele zum Meldeamt, das sich im Magistratischen Bezirksamt befindet. Schon gestern hatte ich das im Dornröschenschlaf versunkene Haus durchwandert, den totenstillen Hof, in einem Hinterhaus verborgene verwinkelte, urinfarbene Gänge mit unzähligen Türen. Es gab keinerlei Hinweise auf eventuelle Aktivitäten. Einmal fand ich ein mit Klebeband schief aufgehängtes Blatt, auf dem „Kassa“ stand, mit einem Pfeil. Ich folgte dem Pfeil, und siehe, am Ende eines vergilbten Ganges empfing mich eine Frau, die routiniert vor mir her schlurfte, zur so genannten Kassa, einem Verschlag hinter einer beschlagenen Scheibe. Ich war leider nicht im Besitz eines alles entscheidenden Zettels, durfte konsequenterweise nicht zahlen und musste wieder auf Los. Die Frau schloss mit einem angeödeten Ruck ihre Kassakasse. Irgendwann kam mir ein Greis mit winzigen, schleifenden Schritten entgegen. Ich äußerte meine Freude darüber, ein lebendes Wesen zu sehen. Draußen, wo die Hitzewellewelle mir wuchtig entgegenschlug, las ich neben dem Eingangstor des magistratischen Bezirksamts das Schild „Totenbeschauanstalt“ .
Eine Tür steht heute einladend offen und nach einem türkischen Pärchen komme ich gleich dran. Dem jovialen, jungen Mann fällt auf, dass ich zwei Nachnamen besitze, die ich abwechselnd, je nach Funktion, Rolle und Stimmung verwende. Der junge Mann meint, ich müsse mich entscheiden. Es ist das Ende meines abwechslungsreichen Doppellebens. Dafür schenkt er mir den Meldezettel und ich muss nicht mehr Blatt und Pfeil suchen und Kassa und Kassiererin finden.
Ich keuche zur luxemburgischen Botschaft, die auf einem Berg zwischen Friedhof, Park und Therapeutinnen residiert. Vollkommen dehydriert überwinde ich einen Wassergraben ohne Wasser, bevor ich in dem postmodernen Safe Einlass finde. Drinnen ist es wie immer edel dunkeltrüb. Eine einsame junge Frau kommt angeschwommen und zückt ein grünes Kästchen. Ich muss meine Finger zücken. „Ich dachte, nur den Daumen“, sage ich. „Nein“, sagt sie. „Alle.“ „Er nimmt ihn nicht“, sagt sie beim ersten Finger, den ich auf einer schwarzen Unterlage hin und her wälze. Ich biete den nächsten Finger an, den er auch nicht nimmt. Ich bekomme Fingerkomplexe, aber sie tröstet mich. Auch bei anderen Passbewerbern würde er diesen oder jenen oder gleich alle verweigern. „Was dann?“ frage ich beklommen. Mein Meer fällt ins Wasser. „Nichts“, sagt sie. „irgendwann würde er, der Kasten, dann doch einen nehmen.“ Es stimmt.
Das Foto, auf dem ich wie eine Psychiatriepatientin aus dem 19. Jahrhundert oder wie eine perverse Heimleiterin ausschaue, nimmt sie in Empfang und leitet es nach Luxemburg weiter. Sie zeigt mir das weiter geleitete Foto. Ich habe plötzlich grellpinke Schlauchlippen und ein Gesicht wie ein Brandopfer nach zahlreichen Operationen. Die junge Frau meint, das sei die Technik. Alle Fotos aller Luxemburger Passbewerber würden derart mutieren, im Pass würden sie dann brav zurück mutieren. Auch müssten alle Luxemburger in Österreich aus sämtlichen österreichischen Bundesländern in die Botschaft auf dem Berg anrücken, um ihre Finger zu zücken. Sogar aus Innsbruck kämen sie zu diesem Behufe. „Vorher müssen sie aber ihre Ohren zeigen“, sage ich. Alle fünf Jahre. „Die Österreicher hingegen zeigen die Ohren alle zehn Jahre nicht.“
Endlich kommt der Pass, mit dem ich an mein Meer darf. Ein präpotenter Löwe mit zwei Schwänzen und einer züngelnden Zunge stolziert auf dem Cover. Im Pass sind die zart pastellenen Sterne verschwunden, die Felsen, der Maler, die Kühe, die traumhafte Selbstmordbrücke. Kein verschwommenes weichgespültes Antlitz mehr, kein sich verdoppelndes, zart hin gehauchtes Traumgesicht. Der esoterische Reisepass aus der Bankenoase hat das Zeitliche gesegnet. Zwischen belanglosen geometrischen Strukturen ein farbloses Foto, WANTED, mit Ohren.