Der Regieeinfall war ebenso einfach wie genial: erst als Dr. Frederick Treves den halbnackten, kahlgeschorenen Mann untersucht, wird er zum "Monster", erst durch die Beschreibungen des Arztes, durch seinen Blick, wird der Mensch entstellt. Mit nur ein paar Tricks, mit Körperbau und -haltung, schwerer Atmung und verzerrtem Mund wird Daniel Plier zu John Merrick, dem "Elephant Man", geboren 1862, 1890 den Erstickungstod gestorben: sein zu schwerer Kopf hatte die Luftröhre zerquetscht.
Merrick hat real existiert, allerdings hieß er nicht John, sondern Joseph, Doktor Treves gab ihm in seinen Memoiren, die 1923 erschienen, den Vornahmen John. Treves hatte Merrick auf einer der Freak-Shows gesehen, auf denen Merrick sich als "Monster" zur Schau stellen ließ, um ein bisschen Geld zu verdienen. "Da, wo das Leben am grausamsten ist", philisophiert Treves (Claude Mangen) am Anfang des Stücks, "ist es für die Wissenschaft am ergiebigsten." Und Merricks Impressario Ross (Serge Tonnar) kann dem Arzt versichern, er sehe "Mutter Natur, wie sie rast und tobt, zum Spottpreis von nur zwei Pence!"
Treves "mietet" den Elefantenmenschen einen Tag lang, um ihn mit ins Londoner Hospital zu nehmen und dort besser analysieren zu können. Merrick litt am Proteus-Syndrom, einer vielgestaltigen Erkrankung, besonders gekennzeichnet durch Großwuchs verschiedener Körperstrukturen. Erst 1979 wurde das Syndrom erkannt und erhielt seinen Namen 1983.
Ungefähr zur gleichen Zeit, 1977, schrieb Bernard Pomerance sein Theaterstück The Elephant Man, das auf den Aufzeichnungen des Arztes basiert und jahrelang mit großem Erfolg in London gespielt wurde. Zwei Jahre später wiederum, 1979, erschien David Lynchs gleichnamiger Film, der auch heute noch den meisten ein Begriff sein dürfte. Frédéric Frenay allerdings inszeniert das Theaterstück, ohne sich an den Kultfilm anzulehnen. Im Gegenteil, er signalisiert von der ersten Minute an: Sie sind im Theater, im Reich der Abstraktion! Erwarten Sie sich bloß keinen Realismus!
So kommen die vier Darsteller der "Nebenfiguren" mit Daniel Plier in den quadratischen Raum zwischen den drei Zuschauertribünen, bedienen sich in den beiden Plexiglasvitrinen mit den nötigen Requisiten (alle in Yves-Klein-Blau), um ihre neutralen weißen Uniformen zu der einen oder anderen Figur hochzustilisieren, nur Merrick bleibt ausgeschlossen. Von Anfang an benutzt Frenay eine genauso einfache, wie verständliche, jedoch nie schwerfällige Symbolik. In seiner radikalen Abstrahierung genügen einige wenige Elemente - die Bühne und Kostüme von Jeanny Kratochwil tauchen das Stück in eine wunderbare minimalistische Ästhetik, die von Frédéric Frenay ausgesuchte Musik funktioniert wie Filmmusik - um mit kleinsten Griffen Stimmung, Ort, Zeit und Figurenkonstellationen zu wechseln. Besonders Marion Poppenborg beherrscht diese Kunst des schnellen Wechsels mit Brio und beeindruckt mehr als einmal durch ihr Talent, zum Beispiel in zwei Sekunden vom Schaffner zur Krankenschwester zu werden.
Geschichte gibt es eigentlich recht wenig. Elephant Man beschreibt den Weg, den John Merrick geht, vom "Monster" zum angepassten, fast schon normalen Menschen. Er kann diesen Weg gehen dank Doktor Treves und dank dem Mitgefühl der "edlen Spender", die dem London Hospital Geld für seinen Aufenthalt bis zu seinem Lebensende schicken. Pomerances Stück ist ein intelligentes Stück, Frenays Strichfassung behält davon noch einmal nur das Allerwichtigste, hat alle Nebenschauplätze über Darwinismus, die Krise der Kirche, die Fortschritte der Wissenschaft usw. bloß noch andeutungsweise zurückbehalten, um sich der Kernfrage zu widmen, die Frenay schon bei seiner ersten Inszenierung, L'homme qui..., auszuloten versuchte: Was ist die Norm? Was ist Normalität, was Abnormität?
In Elephant Man ist seine Definition davon ganz klar: die Norm entsteht im Auge des Betrachters. Immer wieder arbeitet er mit Spiegelungen, seine Figuren vergleichen sich immer wieder mit an John Merrick, dem Anormalen, dessen Körper so ganz außerhalb der Norm ist. Wenn ihn die Leute am Anfang fürchten, dann besonders, weil sie sich nicht in ihm wieder erkennen. Dass er nach und nach bekannt wird und es "in" ist, ihn zu besuchen oder einzuladen, verdankt er ihrem Voyeurismus und ihrer Lust, sich an ihm zu messen: ihn zu mögen, wird zum Symbol des Gutmenschentums in der Upper Class in London. Vom Kirmestier ist er zum Tier der High-Society geworden. Immer wieder tauchen die Metaphern der Identifizierung, des Spiegelbildes, der Abbildung, des gegenseitigen Blickes auf.
Und genau wegen dieser klaren Thematik, die schlicht und konsequent durchgezogen wird, ist Frédéric Frenays Regiearbeit ein Glücksgriff. Genau wie die schauspielerische Leistung ganz besonders von Daniel Plier: seine Interpretation des John Merrick ist zu allererst eine physische Herausforderung. Doch darüber hinaus hat er es fertig gebracht, den Elephant Man ganz zurückhaltend, fast schon banal zu spielen, nicht das geschlagene Tier, sondern den intelligenten und übertrieben romantischen Menschen ("manchmal denke ich, mein Kopf sei so groß weil er voller Träume ist"), der bewusst zu leben versucht, gegen ungerechte soziale Regeln rebelliert und dem Arzt tausend Fragen über dessen Selbstverständnis stellt.
So schneidet das Stück fast schon nebenbei und in seiner modernen Theatersprache zeitgenössische Themen an - die Grenzen der Wissenschaft, Wirklichkeit und Abbildung oder Illusion - ohne je in den schwerfälligen, mitleidschwangeren Soziologenkitsch zu verfallen. Bei dem Thema eine Leistung.
Elephant Man, ein Stück von Bernard Pomerance, Regie: Frédéric Frenay, mit: Claude Mangen, Daniel Plier, Marion Poppenborg, Mike Tock und Serge Tonnar; Bühnenbild und Kostüme: Jeanny Kratochwil, Licht: Karim Saoudi, Maske: Joël Seiller; eine Koproduktion von Maskenada mit der Kulturfabrik; weitere Vorstellungen heute, 23., morgen, Samstag, 24., und am Sonntag, dem 25. April, jeweils um 20 Uhr in der Kulturfabrik und am 29. April bei der Theatrale in Halle. Vorbestellung in Esch über Telefon 55 88 26. Weitere Informationen im Web unter www.maskenada.lu