„Buy American.“ Mit diesem Slogan werden die Verbraucher im US-amerikanischen Werbefernsehen politisch korrekt von Arbeitern und Angestellten aller Ethnien und Hautfarben dazu aufgerufen, im Kaufhaus ihre patriotische Pflicht zu tun und amerikanische Produkte anstatt Importware zu kaufen. Das ursprüngliche Konjunkturprogramm des neuen Präsidenten Barack Obama enthielt ebenfalls Buy-American-Klauseln. Die USA, bisher Hort der freien Marktwirtschaft und Hauptverfechter des freien Handels und der Globalisierung entdecken den Wirtschaftspatriotismus neu. Zum Entsetzen der Kanadier und der Europäischen Union. Das Konjunkturprogramm, das noch nicht durch alle gesetzgeberischen Instanzen durch ist, sieht vor, dass für öffentlich ausgeschriebene Infrastrukturarbeiten – Autobahnen, öffentliche Transportnetze und Flughäfen inklusive – nur US-amerikanischer Stahl verarbeitet werden darf.
Am Montag wehrte sich daher die EU. Ihr Vertreter in Washington, John Bruton, schrieb ans Repräsentantenhaus und an den Senat, wies darauf hin, dass eine Verabschiedung dieser Maßnahmen das falsche Signal an andere Länder sende, die ebenfalls mit der Rezession kämpften. Die USA und die EU hätten gegenüber anderen G-20-Staaten eine Vorbildfunktion zu erfüllen. Diese hatten bei ihrem letzten Treffen ihr Glaubensbekenntnis an den freien Handel als Mittel gegen die Wirtschaftskrise erneuert. Bruton ging noch weiter, drohte implizit Vergeltung an, sollte das Konjunkturpaket am Ende des gesetzgeberischen Prozesses noch protektionistische Regelungen enthalten. Man erwarte, dass die USA ihre Verpflichtungen im Rahmen der Welthandelorganisation (WTO) einhalte. Bei der WTO gibt es ein separates Abkommen über den Firmenzugang zu öffentlichen Ausschreibungen, das besagt, dass ausländische Firmen nicht benachteiligt werden dürfen. Brutons bitter-süßer Drohbrief blieb nicht ohne Wirkung, am Mittwoch bekannte sich Obama in der Tat zur Vorbildfunktion der USA.
Doch nicht nur die Offiziellen der EU, der WTO, auch Staats- und Regierungschefs machten sich beim Weltwirtschaftsforum (WEF) vergangene Woche in Davos Sorgen um das Wideraufflammen protektionistischer Tendenzen. Die Lehren der Geschichte zeigten, so predigen derzeit Globalisierungsbefürworter allerorten, dass Handelsbarrieren die Wirtschaftsdepression der 30-er Jahre des letzten Jahrhunderts verschlimmert hätten. Nicht zuletzt der Premier der Volksrepublik China, Wen Jiabao, outete sich in Davos als Befürworter des freien Handels. Denn die WTO hat eine ganze Reihe solcher Maßnahmen in den verschiedensten Formen identifiziert. Unter anderem hat Indien hat seine Zölle auf Stahlprodukte angehoben und nationale Standards und Zertifikate für selbige eingeführt, Ecuador hat Zölle auf 940 verschiedenen Produkten angehoben und das offenbar ohne seine bei der WTO eingegangen Verpflichtungen zu verletzen. Indonesien hat die Zahl der See- und Flughäfen reduziert, an denen bestimmte Waren eingeführt werden dürfen, das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf Transport- und Cargo-Gesellschaften. Russland will die heimische Autoindustrie durch Zuschüsse und Importzölle auf Autos und Lastwagen stärken – was EU-Firmen nicht freuen kann. Dabei sitzt die EU selbst im Glashaus, will den Export von Milchprodukten wieder subventionieren.1
Spätestens an diesem Beispiel wird deutlich, wo das eigentliche Problem liegt. Denn die Jeder-denkt-zuerst-an-sich-Politik ist lediglich Nebenwirkung einer globalen Krise, die auf nationaler Ebene von Politikern bekämpft werden soll, die ihrer nationalen Wählerschaft Rechenschaft schuldig sind.
Das Problem für die, zumindest offiziellen, Globalisierungsbefürworter dabei ist, dass derzeit noch wenig Details über die jeweiligen Programme bekannt ist. So bleibt dem Direktor der Welthandelsorganisation Pascal Lamy nicht viel anderes übrig, als einen lückenhaften Tatsachenbericht aufzustellen, ohne in den meisten Fällen sagen zu können, ob die Länder gegen ihre Engagements verstoßen oder nicht. Viele Länder applizieren ihre bei der WTO angemeldeten maximalen Zölle nicht und haben deshalb Spielraum, diese zu erhöhen, ohne dass sich eventuell geschädigte Handelspartner dagegen wehren können.
Die Frage ist, ob angesichts der aktuellen Wirtschaftsmisere Gegenmaßnahmen überhaupt gerechtfertigt sind. Denn reicht die Liste der WTO auch von A wie Australien bis U wie USA, so sind es vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer, die sich schützen wollen. Das Beispiel von Indien und Indonesien zeigt ihr Dilemma. Der indische Handelsminister Kamal Nath selbst wetterte beim WEF gegen Protektionismus, zu Hause aber soll indischer Stahl verarbeitet werden. Hofften vor einem Jahr noch viele Wirtschaftswissenschaftler auf eine Entkopplung der Wirtschaften der Schwellenländer von denen der Industriestaaten, hat sich das in der Zwischenzeit als Trugschluss entpuppt. Den südostasiatischen Tigern, Drachen usw., deren Wachstum der vergangenen Jahre auf den Export von billigen Waren in den Westen baute, sind die Absatzmärkte weggebrochen. Im zweiten Halbjahr 2008 ist, dem Bericht der WTO zufolge, der Welthandel stark zurückgegangen, die Warenströme versickern. Wer sollte ihnen also verdenken, dass sie nun versuchen, die Binnenmärkte und -nachfrage zu stärken, um weniger von der Kauflaune und -kraft der amerikanischen und europäischen Verbraucher abhängig zu sein?
Das gilt auch für China, dem die USA und, wenn auch weniger deutlich, die EU, vorwerfen, seine riesigen Währungsreserven einzusetzen, um die Wechselkurse zu seinen Gunsten zu beeinflussen und dadurch seine Exportwirtschaft zu begünstigen. WTO-Neuling China hat sich bei seinem Beitritt relativ wenig Spielraum für Zollanhebungen gelassen und kann deshalb diese Karte, selbst wenn es wollte, nicht spielen. Der indischen Regierung schrieb die EU-Kommission ebenfalls einen diplomatisch-freundlichen Drohbrief. Auf ausländischen Stahl verzichten zu wollen, sei ein Fehler, heißt es dort, das weiterverarbeitende Gewerbe in Indien könne auf solche Produkte nicht verzichten und werde zum Leidtragenden dieser Politik.
In Unkenntnis der Details dieses globalen Rückfalls in den Protektionismus fällt es derzeit selbst den Experten schwer, die möglichen Folgen für die europäischen oder gar Luxemburger Unternehmen abzuschätzen. Der weltweit größte Stahlproduzent, ArcelorMittal, will sich nicht dazu äußern. Dabei ist ArcelorMittal wahrscheinlich noch in der glücklichen Lage, an so vielen Orten der Welt präsent zu sein, dass man sich fragen kann, ob das Unternehmen von nationalstaatlichem Protektionismus hart getroffen werden kann.
Deswegen, und weil Luxemburg vor allem auf dem EU-Binnenmarkt handelt, sollte man aber nicht glauben, die Luxemburger Wirtschaft gehe diese Entwicklung nichts an. Erstens, weil auch die EU-Länder und ihre Bürger in Krisenzeiten nicht gegen protektionistische Reflexe gefeit sind. In Großbritannien kam es vergangene Woche zu wilden Streikaktionen unter Raffineriearbeitern, die damit unter dem Motto „British jobs for British workers“ italienische und portugiesische Arbeiter an der Ausführung von Infrastrukturarbeiten behinderten. In der französischen Presse mehren sich Berichte, das Hilfspaket für die französischen Autokonstrukteure solle diese verpflichten, die Einzelteile ausschließlich bei französischen Herstellern zu bestellen. Das dementierte Paris mittlerweile. Doch Wirtschaftsministerin Christine Lagarde gehört zu den wenigen Spitzenpolitikern, die öffentlich bekennen, dass ihnen ein Quäntchen zeitlich begrenzten Protektionismus gar nicht zuwider ist.
Diese Aktionen und Äußerungen kann man durchaus als Angriff auf den freien Waren- und Personenverkehr in der EU werten. Hinzu kommt, dass die europäischen Regierungen vielen, mit öffentlichen Geldern mühsam geretteten Banken deutlich gemacht haben, sie sollen sich erst einmal auf ihre Tätigkeiten auf dem jeweiligen Heimatmarkt besinnen, anstatt weltweit undurchsichtige Finanzgeschäfte abzuwickeln. So geschehen in Luxemburg am Beispiel Fortis-BGL.
Damit eng verbunden ist das zweite von der WTO identifizierte Hemmnis für den Welthandel: Es hapert an der Finanzierung. Den Unternehmen fällt es schwerer, ihre Exporte zu finanzieren und zu versichern, das bremst den Warenaustausch erheblich, warnt Pascal Lamy. Diese Situation kennen auch die Luxemburger Automobilzulieferer, die ihre Lieferungen nach Amerika nicht mehr privat versichern können. Wie in anderen Ländern auch ist deshalb der Staat eingesprungen. Die budgetären Mittel des staatlichen Exportversicherers Office du Ducroire wurden erhöht, damit mehr Transaktionen als bisher versichert werden können.
Global gesehen sind es aber eher die Entwicklungsländer, die darunter leiden, dass weder der Handel mit ihnen, noch Investitionen vor Ort abgesichert werden können. Auch das betrifft Luxemburg, von wo aus, Finanzplatz sei Dank, enorme Summen in eine Vielzahl von Ländern – zum Beispiel Russland – investiert wurden. Die Luxemburger Handelsbilanz leidet bereits jetzt dramatisch unter der Krise, weil der Export von Finanzdienstleistungen einbricht. Die ver-kauft Luxemburg nicht nur in die EU, sondern in die ganze Welt.
In den kommenden Wochen wird die öffentliche Diskussion darüber, ob die Globalisierung Ursache für die aktuelle Krise oder deren Lösung ist, weitergehen. Es ist allerdings fraglich, ob einer kleinen, offenen Wirtschaft wie Luxemburg diese Wahl der ideologischen Doktrin überhaupt offensteht. Aufgabe der Luxemburger Politik – und der Gewerkschaften, die in Sachen Entsenderichtlinie viele Missverständnisse säten – wird es sein, dafür zu sorgen, dass wirtschaftlich bedingte Xenophobie und Rassismus, beispielsweise wegen der hohen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, nicht überhand nehmen.
1 Report to the TPRB from the Director-General on the financial and economic crisis and trade-related Developments