Wenn zwei sich über den Rahmenlehrplan zum neuen Fach „Leben und Gesellschaft“ streiten, freut sich der Dritte

Das Superfach

d'Lëtzebuerger Land du 20.11.2015

Der Minister werde sich in den kommenden Wochen mit verschiedenen Interessengruppen beraten. Viel Konkretes gab es nicht, als das Erziehungsministerium am Donnerstag vor einer Woche überraschend den Rahmenlehrplan für das neue Fach „Leben und Gesellschaft“ auf seine Internetseite stellte (www.men.public.lu/fr/actualites/communiques-conference-presse/2015/11/12-vie-societe/index.html). Eigentlich war der Lehrplan zu dem umstrittenen Fach, das den Religionsunterricht und den Moralunterricht in Grundschule und auf der Sekundarstufe ablösen soll, für Ende Oktober versprochen worden. Erziehungsminister Claude Meisch (DP) hatte zugesagt, den Plan mit unterschiedlichen Interessenvertretern zu diskutieren. So sollte der Cercle de coopération des associations laïques (CCAL), ein Zusammenschluss von Allianz der Humanisten, Atheisten und Agnostiker, Fédération générale des instituteurs luxembourgeois, Liberté de conscience, Freidenkerbund und Ligue luxembourgeoise de l’enseignement, ebenso wie der Conseil des cultes, in dem die großen monotheistischen Religionsgemeinschaften zusammenkommen, alle drei Monate über den Fortgang der Beratungen der zuständigen ministeriellen Arbeitsgruppe informiert werden.

Doch offenbar gilt die Zusage im Ministerium nicht viel. Weder im Frühjahr noch nach den Sommerfe-rien wurde die versprochene Zwischenbilanz gezogen. Auf eine schriftliche Erinnerung des CCAL von Juli erhielten die Absender eine Empfangsbestätigung: „Dabei blieb es bis heute“, sagt CCAL-Sprecherin Monique Adam. Auch der Conseil des cultes, beteuert Jean-Louis Zeien vom Bistum im Gespräch mit dem Land, sei zum Lehrplan bislang nicht gehört worden. Ausgerechnet bei einem so delikaten Dossier, um das seit Jahrzehnten erbittert gerungen wird und das in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit und Polemik findet, mangelt es der Regierung eklatant an Transparenz und Verhandlungsgeschick.

Um eine „Werteerziehung“, wie sie im blau-rot-grünen Koalitionsprogramm steht, geht es weniger. Das Wort „Werte“ taucht zwei Mal im zehnseitigen Dokument auf, das aus einem Begleittext und dem eigentlichen Lehrplan besteht. Mit dem Rahmenplan vom März 2015, der als Leitfaden dienen sollte, hat der Lehrplan nicht viel gemein. Versprach das Document cadre vom 11. März ein „kohärentes didaktisches Konzept“ und dass Kinder und Jugendliche angeregt würden, „philosophieren (zu) lernen und sich selbstbestimmt Meinungen zu bilden, heißt es nun vage, das Fach solle „einen Zugang zur Pluralität an Werten, Kulturen, Weltanschauungen und Religionen ermöglichen und die Heranwachsenden zu einer konstruktiven Auseinandersetzung damit anregen“. Eine Leitwissenschaft, auf die Didaktik und Methodik aufbauen, ist nicht vorgesehen. Dabei hatte Meisch noch Ende März versprochen, „le cours s’inscira dans une perspective de philosophie pratique“. Ein entsprechender Lehrplan existiert in Luxemburg seit Jahren (www.praktischephilosophie.lu), er fand Lob und Anklang sogar bei der Unesco. Stattdessen werden als neue „Bezugswissenschaften“ Philosophie, Soziologie, Politologie, Geschichte, Ethnologie und Religionswissenschaften, Kunst- und Literaturwissenschaften sowie Theologie, Judaistik, Islamwissenschaften aufgezählt.

Leitmotiv des neuen Fachs ist das Zusammenleben. Das Schlagwort fällt insgesamt 34 Mal, auf die Religion wird mindestens 27 Mal Bezug genommen, das Wort Ethik taucht dagegen zwei Mal und Atheismus gar nicht auf: Die Weltanschauung wurde unter „Meine Religion – seine Religion – keine Religion“ subsummiert. „Ein Atheist ist jemand, dem etwas fehlt“, ärgert sich Monique Adam über den „religiösen Blickwinkel“. Die erste Reaktion der Laizisten fällt ablehnend aus: „Die Gelegenheit der Trennung von Kirche und Staat wurde verpasst“, schimpft Edouard Kutten von Libre de conscience über die „Mogelpackung“. Monique Adam fällt auf, dass „Menschenrechte kaum vorkommen“, auch Werte wie Solidarität und Mitbestimmung fehlten in dem Lehrplan. Bis Mitte Dezember will der CCAL eine Stellungnahme vorlegen. Am 10. Dezember sprechen die Mitglieder beim Minister vor.

Noch schneller als die Laizisten reagierte das Erzbistum. Während die einen sich über ein Übergewicht der Religion echauffieren, klagen die Kirchenvertreter über zu wenig Religion. In drei von sechs Lernfeldern (Ich; Ich und die Anderen; Lebensformen, Welt und Gesellschaft; Mensch, Natur und Technik; Kultur und Kommunikation; Große Fragen) werde Religion nicht explizit genannt, unter Große Fragen nur drei Mal, rechnet das Bistum vor. Das Fach gehe „in Richtung eines politischen Bildungsfachs mit den Anhängseln Religion und Philosophie“, meint Kirchenvertreter Jean-Louis Zeien, der darauf pocht, den „faits réligieux“ sei „gebührend Rechnung zu tragen“, und der den Bezug zu Luxemburg vermisst. Auch von der politischen Zusage, Schüler an die „großen religiösen Strömungen“ heranzuführen, sei nicht viel übriggeblieben, zumal Schüler des Régime préparatoire, der Berufsschulklassen und höherer Klassen vom Fach ausgenommen sind und ein Religionsbezug im zweiten Zyklus der Grundschule komplett fehle. Das sei, als würde „ein Bauer noch im Juni das Feld säen“, so Zeien, der seine Bemerkung nicht missionarisch verstanden haben will. Immerhin: In der Einschätzung, bei dem neuen Fach handele es sich eher um ein politisches Bildungsfach denn um Werteerziehung, sind sich alle Seiten einig.

Geht es nach Ministerium, soll „Leben und Gesellschaft“ vornehmlich „politische Ziele“ vermitteln: Der Kurs wirkt wie ein Superfach, in dem alle Aspekte des Lebens und der Gesellschaft – von Liebe, Freundschaft und Sexualität, über Natur in Mythen, religiöse und andere Feste, Fairer Handel, Medienerziehung bis zum Tierschutz und Umweltschutz – behandelt werden. Wie diese Themen umgesetzt werden sollen, mit welcher Methodik und wie eine diesbezügliche Lehreraus- und -weiterbildung aussieht, dazu steht nichts im Text. Auch der zuständige Koordinator im Erziehungsministerium, Religions- und Musiklehrer Jean-Marie Kieffer, kann keine Aufklärung bringen. Man berate mit der Uni Luxemburg derzeit über eine Konvention, so Kieffer. Die Uni soll die Ausbildung übernehmen, die bisher vom Weiterbildungsinstitut Ifen und vom Priesterseminar gewährleistet wurde. Bloß wie wird das Studienfach aussehen, wenn die Leitwissenschaften so vage sind? Und was geschieht mit den 220 Religionslehrern in der Grundschule und den 80 Sekundarschullehrern, die heute schon unterrichten? Müssen sie nachgeschult werden?

Um die methodisch-didaktischen Materialien zu entwickeln, soll die bestehende Arbeitsgruppe im Ministerium um weitere Mitarbeiter ergänzt werden, ansonsten verweist Kieffer auf die Expertise der ministeriellen Arbeitsgruppe, die sich zur Hälfte aus Religionslehrern und zur Hälfte aus Philosophielehrern zusammensetzt. Doch noch ist nicht ausgemacht, dass die Arbeitsgruppe geschlossen hinter dem Rahmenlehrplan steht. Kieffer sagt, sie sei „verantwortlich für den ganzen Inhalt“, geschrieben aber hätten den Text er und sein Mitarbeiter Patrick Bichel, mit Unterstützung von Berater Jürgen Oelkers. Von früheren Forderungen der Religions-, als auch der Philosophielehrer ist in dem Dokument nicht viel wiederzufinden. Weil alle Beteiligten einen Maulkorb auferlegt bekamen, ist es für Außenstehende unmöglich nachzuzeichnen, wer für welchen Inhalt verantwortlich ist. So bleibt auch der Einfluss der ausländischen Experten, der Kölner Ethikprofessor Joachim Kalcher und der Theologe Daniel Bogner, die der Arbeitsgruppe als unabhängige Sachverständige zur Seite sollten, unklar. Kieffer beteuert, beide seien „immer wieder zu Rate gezogen worden“, doch ihre Stellungnahmen sind bis heute nicht publik.

Der arrogante Auftritt des Schweizer Bildungsexperten Oelkers im März in Luxemburg, der eigentlich als Mediateur zwischen den zerstrittenen Religions- und Philosophielehrern vermitteln sollte, war kaum geeignet, die Fronten aufzulösen. Oelkers hat zur Verstärkung zwei Theologen, Johannes Kilchsperger und Matthias Pfeiffer von der Pädagogischen Hochschule Zürich, ins Team geholt. Das Ministerium zahlt für diesen Beistand bis 2018 über 560 000 Euro. Im Rahmenlehrplan wird vom „Religionsunterricht und seiner Substitute“ gesprochen; auch das dürfte kaum gut ankommen. Dass Meisch den Start des umstrittenen Fachs um ein Jahr auf 2017 verschoben hat, führen Insider – neben dem ungelösten Problem der versprochenen Eingliederung der Reli-gionslehrer in den Schuldienst – auf das angespannte Klima in der Arbeitsgruppe zurück. Unter Befürwortern einer strikten Trennung macht der Vorwurf die Runde, die Sache sei von vornherein ein abgekartetes Spiel gewesen. Das Bistum protestiere nur vordergründig, in Wirklichkeit sei es froh über den vermeintlichen Kompromiss, weil dieser der Religion weiterhin große Bedeutung zubillige. Besonders da die Kirche mit dem Fach an Einfluss gewinne, obschon sie selbst darüber lieber kein Wort verliert: In einer Zeit in der Religionen unter Druck stehen, die Privilegierung einer Konfession als moralische Leitinstanz rasant an Boden verliert und demokratisch kaum mehr zu legitimieren ist, trage die blau-rot-grüne Regierung dazu bei, die (christliche) Religion als Schulfach für alle Schüler zu verankern, lautet der Vorwurf. Die Betonung des friedlichen Zusammenlebens als pädagogisches Ziel wird als Versuch gelesen, den zunehmend religionskritischen Zeitgeist zähmen zu wollen.

Da passt es, dass sich der nun veröffentlichte Lehrplan als schwer errungener Kompromiss bewerben lässt. Jetzt kann der liberale Minister behaupten, sich am Ende sogar gegen die Kirche durchgesetzt zu haben und damit Kritiker in den eigenen Reihen beruhigen, die ihm und der Regierung vorwerfen, sich über den Tisch ziehen gelassen zu haben. Schließlich war schon die Konvention, die die Trennung von Kirche und Staat beschließen sollte, hinter verschlossenen Türen in Hinterzimmern erarbeitet worden, und erst als alle Details feststanden, wurde sie der Öffentlichkeit vorgestellt.

Claude Meisch hat Gerüchte, wonach wichtige Prämissen des neuen Fachs im Vorfeld mit dem Erzbistum abgesprochen sei, stets zurückgewiesen. Auch Jean-Louis Zeien beteuert, sein Protest sei „keine billige Taktik“, man ziehe „keine Show“ ab. Doch dass den Beratern und Koordinatoren von Ministerium und aus dem Ausland ein gewisser Stallgeruch anhaftet, trägt kaum dazu bei, Vertrauen in einen fairen gleichberechtigten Aushandlungsprozess zu stärken, egal ob der Minister die Streitparteien noch einmal zum Austausch einlädt oder nicht. Wie sie Demokratie verstanden haben wollen, schreiben die Autoren des Lehrplans übrigens unmissverständlich: „Die Gesellschaft muss komplexe Regeln der Anerkennung aushandeln, und politische Entscheidungen müssen nach kritischer Diskussion Zustimmung finden.“

Ines Kurschat
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