Die AfD erlebt einen Höhenflug. Die Hilflosigkeit der anderen Parteien begünstigt ihn. Denn sie beziehen ihre Legitimität in erster Linie aus der Abgrenzung von der AfD

Die Blütezeit der deutschen Rechten

d'Lëtzebuerger Land du 11.08.2023

Wären am Sonntag Bundestagswahlen, würde gut ein Fünftel der wahlberechtigten Deutschen eine rechtsextreme Partei wählen. Zumindest laut der „Sonntagsfrage“ des Meinungsforschungsinstituts Insa. Die Meinungsforscher verorten die AfD derzeit bei 21 Prozent Stimmenpotenzial. In den ostdeutschen Bundesländern hat sie sich bei rund 30 Prozent eingependelt und wäre damit in Thüringen, Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern stärkste Kraft. Im thüringischen Landkreis Sonneberg stellen die Rechten seit Anfang Juli ihren bundesweit ersten Landrat. Aber auch in Baden-Württemberg, im Saarland und in Hessen spielt die AfD ganz vorne mit, und bei den Umfragen zu den Europawahlen 2024 liegt sie an zweiter Stelle knapp hinter der CDU. Kurz: Die Rechten sind angekommen – und zu behaupten, die etablierten Parteien täten sich schwer im Umgang mit ihnen, wäre bemerkenswert untertrieben.

SPD-Chefin Saskia Esken brachte beispielsweise ein AfD-Verbot ins Gespräch. Zur gleichen Zeit versucht ihre Parteikollegin, die Innenministerin Nancy Faeser, ihr Profil zu schärfen, indem sie in einem Diskussionspapier anregt, mutmaßlich kriminelle „Clanmitglieder“ auszuweisen, noch bevor sie verurteilt wurden. Käme der Vorschlag aus der AfD, wäre das Geschrei zu Recht riesig. Doch gegenüber der SPD ist man angesichts dieser Unbeholfenheit fast geneigt, Mitleid zu empfinden, so offensichtlich ist die Strategie: Mit der einen Hand wird die AfD delegitimiert, die andere Hand bietet man ihren Wählern an, indem man die Positionen der Rechten zumindest ein bisschen übernimmt. Wenig überraschend gelingt das nicht – stattdessen sorgt diese scheinbare Orientierungslosigkeit für Unmut bei der eigenen Wählerbasis.

Die CDU macht es nicht besser: Ihr Vorsitzender Friedrich Merz hatte bei der Sommerklausur in Vorbereitung auf die bayerische Landtagswahl gesagt, die Unionsparteien müssten zu einer „Alternative für Deutschland mit Substanz“ werden. Wenig später schloss er im ZDF-Sommerinterview eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene nicht aus. Das provozierte ungewohnt heftigen Widerspruch aus den Rängen der eigenen Partei, etwa von Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner. Deutsche Leitmedien griffen den Vorstoß allerdings dankbar auf: In der letzten Ausgabe der Zeit durften zwei Kommunalpolitiker der CDU über das Für und Wider dieser Zusammenarbeit streiten, die de facto bereits stattfindet. Klar wird damit: Die oft beschworene „Brandmauer nach rechts“, die die Union so gerne wäre, hat Türen. Und verschlossen sind sie nicht.

Bruchlinien

Es ist diese Hilflosigkeit, die den Aufstieg der AfD begünstigt. Denn der politische Pulk, der sich als „demokratische Parteien“ versteht, bezieht seine Legitimität in erster Linie aus der Abgrenzung von der AfD. Das ist keinesfalls ein Spezifikum der deutschen Parteienlandschaft – Slavoj Zizek hat diesen Mechanismus bereits vor 23 Jahren im Umgang der österreichischen Politik mit Jörg Haider herausgestellt. Seine These: „Bezeichnenderweise ist die einzige politische Kraft von Gewicht, die noch eine antagonistische Antwort des Wir (Us) gegen Sie (Them) hervorruft, die neue populistische Rechte.“ Damit verläuft die Bruchlinie der Legitimität zwischen der AfD und dem Rest der Parteien, wodurch die AfD tatsächlich als „Alternative“ erscheint. Ihre Feinde sind „die da oben“, die angeblich oder tatsächlich von der Misere der „einfachen Leute“ profitieren. Und jedes Ereignis, das als Bedrohung des Lebensstils dieser „einfachen Leute“ aufgefasst werden kann, wird von der AfD instrumentalisiert – von der Migration über die Inflation bis hin zum Heizungsgesetz.

Eskens Vorstoß für ein Parteiverbot wäre deshalb der komplette Wahnsinn: 20 Prozent einer Bevölkerung ihre politische Haltung zu verbieten, würde den Rechtsextremismus in den Untergrund treiben, wo die Bewegung sich der Beobachtung entziehen, weiter radikalisieren und möglicherweise sogar bewaffnen würde. Gleichzeitig kann die SPD nicht den Weg von Innenministerin
Faeser einschlagen und die Forderungen der Rechten integrieren. Sie muss sich abgrenzen, als Alternative zur AfD, aber auch zur CDU.

Denn zwischen der SPD und der CDU muss die Bruchlinie zwischen Links und Rechts verlaufen, wenn die Auseinandersetzung über gesellschaftliche Gestaltungsvorstellungen im demokratischen Raum verbleiben soll. Als Friedrich Merz nach dem Wahlsieg der AfD in Sonneberg deshalb die Grünen als Hauptgegner ausmachte, lag er gar nicht so falsch, wie ihm das reihenweise vorgeworfen wurde: Wenn die CDU wirklich die Wählerschaft rechts der Mitte wieder an sich binden will, muss sie eine konservative demokratische Kraft ausformen, welche die AfD in die Bedeutungslosigkeit verdrängt. Dabei wird die Union auch unappetitliche Positionen auffahren müssen – aber bei allem Verständnis für die Abneigung war Franz-Josef Strauß immer noch besser als Björn Höcke.

Demokratische Wiederaufforstung

Doch Rhetorik ist nicht alles und Wahlumfragen sind letztlich nur politische Wetterberichte: Sie beschreiben den Moment, nicht aber die ihm zugrundeliegenden Ursachen. Nimmt man gerade im Osten Deutschlands jene Orte unter die Lupe, die als AfD-Hochburgen gelten dürfen, dann lassen sich grob drei Gemeinsamkeiten feststellen: Ein niedriges Medianeinkommen der örtlichen Bevölkerung, selbst bei geringer Arbeitslosenquote; ein niedriger Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und ein eklatanter Mangel an Angeboten der Jugend- und Sozialarbeit, die meist Sparmaßnahmen auf Länderebene zum Opfer gefallen sind – oft unter CDU-geführten Regierungen, die hinter jedem freien Jugendzentrum eine Schläferzelle der radikalen Linken vermuteten. Das Vakuum füllen Nazis, die „ehrenamtlich“ Strukturen aufbauen, in denen junge Menschen sich radikalisieren können, befeuert von der Verbitterung ihrer Eltern, die angesichts ihrer wirtschaftlichen Perspektiven durchaus nachvollziehbar ist.

Maßnahmen gegen den „politischen Klimawandel“ in Deutschland teilen sich einige Eigenschaften mit den Maßnahmen, die gegen den realen Klimawandel notwendig wären: Sie werden Geld kosten, sie werden unpopulär sein und auf Widerstand stoßen, und sie werden Zeit brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten. Und es gibt vermutlich auch keine Blaupause, die für jeden Ort einfach zu kopieren und anzuwenden wäre. Wirtschaftlichen Aufschwung in abgehängte Regionen zu bringen, braucht einen komplexen staatlichen Dirigismus, der durch die föderale Struktur der Bundesrepublik noch verkompliziert wird. Eine stärkere Heterogenität der Bevölkerung wird ebenfalls nicht leicht umzusetzen sein, denn wie überzeugt man Leute, in Regionen zu ziehen, in denen ihnen Feindschaft entgegenschlagen wird? Und auch die Jugendarbeit müsste neue Wurzeln in versandetem Boden schlagen.

Aber wenn Deutschland seiner erstarkenden Rechten wirksam entgegentreten will, dann findet es in Europa viele Beispiele, wie man es nicht tut. Von der FPÖ in Österreich, dem Rassemblement National in Frankreich, der Ukip in England und den Fratelli d’Italia in Italien – die Liste postfaschistischer Erfolge ist lang, und sie wächst. Wenn Deutschland sein „Nie wieder“ ernst meint, muss es einen anderen Weg finden als diese Länder, um die Rechten zu bekämpfen. Mit einem Verbot und rhetorischen Floskeln ist es auf jeden Fall nicht getan.

Tom Haas
© 2023 d’Lëtzebuerger Land