Die Grünen haben seit vergangenem Sommer rund ein Drittel an Zuspruch verloren. Die Gründe dafür sind vielfältig

Acht Uhr morgens

d'Lëtzebuerger Land du 02.06.2023

Es ist schon ein Kreuz. Mit der deutschen Pünktlichkeit. Und Verlässlichkeit. Zu der sich jeden Morgen der Protest wiederholt. Kaum zeigt der kleine Zeiger auf die Acht des Ziffernblatts und der Große auf Zwölf, beginnen die Proteste der Letzten Generation gegen die in ihren Augen zu lasche Politik der Regierenden gegen den Klimawandel. Punkt Acht wird sich auf der Straße festgeklebt. Immer zur gleichen Uhrzeit, immer an der gleichen Stelle. So auch am Tag nach Himmelfahrt – oder Herrentag, wie er in Berlin heißt – und die Stadt sich brückentägliche Ruhe gönnt. Von der Polizei milde belächelt ob der fehlenden Aufmerksamkeit, die dieser Protest an jenem Freitagmorgen einbringt. Die Buslinien umfahren die Blockade, Routine stellt sich ein. Nach zwanzig Minuten ist die Blockade geräumt. Der Verkehr fließt. Wieder.

Doch die „Klimakleber“ streuen Sand ins Getriebe des politischen Betriebs, indem sie vor allen Dingen die Grünen vor sich hertreiben. Denn die Partei teilt die Ziele des Protests, verurteilt aber die Methoden und gerät damit immer tiefer in eine Zwickmühle. Die Partei beginnt zu lavieren, zieht den Unmut über den klebenden Protest auf sich und duckt sich weg. Die Quittung gab es prompt, etwa bei der Bürgerschaftswahl in Bremen am vorvergangenen Wochenende. Hier fuhr die Partei starke Verluste ein, wie auch drei Monate zuvor bei der Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Hier flog die Partei sogar aus der Regierung. Dabei galten die Grünen vor Jahresfrist noch als die großen Gewinner und als Partei der Zukunft. In Bremen begann, kaum dass die Wahl verloren war, die Selbstzerlegung der Partei. Zunächst trat Maike Schaefer zurück, Umweltsenatorin in Bremen und dortige Spitzenkandidatin. Dann legte Sülmez Colak, Spitzenkandidatin in Bremerhaven, ihre Ämter nieder und trat auch aus der Partei aus. „Ich habe mich von dieser Partei entfremdet“, nannte sie in einem Interview mit der Nordsee-Zeitung die Gründe für diesen Schritt. „Die Grünen sind nicht mehr meine Partei.“ Die Partei sei zu arrogant geworden und Menschen hätten Angst vor ihr. „Bei den Grünen versammeln sich fast nur noch Akademiker“, so Colak weiter. „Wir müssen wieder ein Ohr an den Bürgern haben, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zusammen denken.“

Die langjährige Bürgerschaftsabgeordnete der Bremer Grünen spricht ein Dilemma in der Identität der Mitglieder an. Viele Parteimitglieder frönen dem Lebensentwurf, dass allein die Zugehörigkeit zu den Grünen belegt, per se ein besserer Mensch zu sei, da man sich Klima- und Umweltschutz zu eigen gemacht hat, sich im linksliberalen Spektrum verorte – und damit einen bewussteren und nachhaltigeren Lebensstil führe. Auf die korrekte Mülltrennung kommt es dann nicht mehr an und auch die Sinnhaftigkeit von Bestellungen im Internet wird nicht hinterfragt, ebenso wie regional oder demographisch unterschiedliche Politik- und Lebensbedürfnisse. Ältere Menschen in Wincheringen an der deutsch-luxemburgischen Grenze haben durchaus einen anderen Anspruch an Mobilität, denn junge Partygänger in Berlin-Mitte. Mit dem Eintreten für ökologische Belange wird in der Bevölkerung längst soziale Kälte assoziiert – der queere Hipster in der Hauptstadt findet Beachtung, die Großmutter auf dem Land Verachtung.

Aus der Überheblichkeit des vermeintlich besseren Lebensstils leitet dann die Bevölkerung eine Bevormundung ab. Diese fängt bei der Durchsetzung von Fahrradstraßen an – unter Inkaufnahme des Wegfalls von Parkplätzen –, reicht über die Bevorzugung der veganen Ernährung und hört schließlich beim Verbot von Ölheizungen auf. Basierend auf diesem vermeintlichen Eingriff in persönliche Freiheiten lässt sich schnell und einfach ein gängiges, griffiges Feindbild konstruieren, das in den elektronischen Medien aufgeplustert und befeuert wird.

Das Spitzenpersonal der Partei trägt tollpatschig ein gehöriges Scherflein dazu bei. Die Trauzeugen-Affäre des Patrick Graichen, bis vor Wochenfrist noch beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, war für viele Bürgerinnen und Bürger ein Sinnbild, wie abgehoben und losgelöst von der sozialen Wirklichkeit die Politik inzwischen agiert. Ab Mitte April geriet Graichen ob Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme zugunsten seiner Geschwister und seines Trauzeugens unter Druck. Doch es brauchte drei Wochen, bis Wirtschaftsminister Robert Habeck ihn seines Amtes entband und in den einstweiligen Ruhestand versetzen ließ.

Drei Wochen, die Habeck viel Zuspruch in der Bevölkerung kosteten. Und mit ihm auch die Grünen. Denn wenn das personelle Zugpferd einer Partei an Zustimmung verliert, wirkt sich das auch auf die Gesamteinschätzung der Wählerinnen und Wähler für die Partei aus. Die Grünen haben seit vergangenem Sommer rund ein Drittel an Zuspruch verloren. Im August letzten Jahres lagen sie noch bei 23 Prozent in der Meinungsumfrage Deutschlandtrend der ARD. Inzwischen sind es nur noch 16 Prozent. Die Partei steckt in einer tiefen Sinnkrise. Und spricht sich unterdessen selbst Mut zu. Etwa bei einer Parteiveranstaltung zum 30-jährigen Bestehen der Partei in Ostdeutschland Anfang Mai in Leipzig. Dort auf die Probleme der Partei angesprochen, rettete sich die ehemalige Bundestagsabgeordnete Monika Lazar in die üblichen Floskeln. Der grüne Kern sei eben gut sichtbar, entschuldigt sie, und dies sei wahrscheinlich für manche zu viel. Es werde gerade viel gemacht und sie glaube, es sei eher so, „dass die Leute sagen, nicht zu schnell und nicht zu viel.“

Dies legt nahe, dass die Grünen der Bevölkerung zurzeit zu viel zumuten – einer Gesellschaft, die seit einigen Jahren im Dauerkrisenmodus ist. Finanzkrise, Covid-Pandemie, Ukraine-Krieg. In diesem Umfeld fällt es der Partei zunehmend schwer, gesellschaftliche wie politische Mehrheiten für ihre Projekte zu bekommen. Die Grünen haben den Anspruch, die Klimakrise zu bekämpfen und wollen sich und der Gesellschaft dabei keine Verschnaufpause gönnen. Doch die Bürgerinnen und Bürger sehnen sich nach einer Zeit des Durchschnaufens, Innehaltens, Ausruhens, Konsumierens und Verreisens. Somit kehrt sich die Verve der Ökopartei ins Gegenteil. Das Wählerpotenzial nimmt ab. Um dies zu ermitteln, werden in der Wahlforschung Wählerinnen und Wähler gefragt, welche Parteien sie sich grundsätzlich vorstellen könnten zu wählen. Die Christdemokraten und Sozialdemokraten kommen dabei auf Werte von jeweils mehr als 50 Prozent. Diesen Zuspruch haben auch die Grünen vor Jahresfrist erfahren. Doch nach aktuellen Meinungsumfragen beträgt ihr Wählerpotenzial nur noch 37 Prozent. Damit liegt die Grüne-Partei gleichauf mit der FDP. Das vor den letzten Bundestagswahlen im Herbst 2021 noch greifbar nahe Bundeskanzleramt ist somit wieder in weite Ferne gerückt.

Und dann ist da noch das Regieren in Berlin, in dem sich das Spitzenpersonal der Partei zerreibt. So stellte Anfang dieser Woche die rechtsextremistische AfD eine parlamentarische Anfrage nach den Kosten von Make-up und Styling bei Auslandsreisen von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Über die Sinnhaftigkeit der Anfrage lässt sich vortrefflich streiten. Keine Frage, die grüne Außenministerin und der grüne Wirtschaftsminister agieren nicht immer fehlerlos, aber selbst ihre politischen Gegner attestieren, dass beide Politiker neuen Typs sind. Sie reden anders, inszenieren sich anders, thematisieren Konflikte offener, und dass beide über ein Charisma verfügen, das weit über die eigene politische Klientel strahlt. Statt sich inhaltlich mit der Politik auseinanderzusetzen, bleibt die hilflose, aber populistisch vermarktbare Frage nach den Kosten für Klamotten und Frisur.

Auf politischer Ebene werden Themen vom politischen Gegner wie den Medien knallhart personalisiert. So wird etwas das neue Gebäudeenergiegesetz (GEG), das den Einbau neuer Öl- und Gasheizungen nach 2024 verbieten soll, zu Habecks Heizungshammer. Obwohl das Gesetz auch aus dem Haus von SPD-Bundesbauministerin Clara Geywitz stammt und von der Ampel gemeinsam beschlossen wurde. Während die SPD sich grüne Erfolge ans eigene Revers heftet, Misserfolge bei der Ökopartei belässt, die Christdemokraten sich im Kulturkampf mit den Grünen befinden, offenbart dies insbesondere den Machtkampf der Parteien untereinander. Vor allen Dingen aber der CDU und SPD gegen eine erheblich jüngere und auch strukturell kleinere Partei, die seit einigen Jahren – mehr oder weniger erfolgreich – versucht, den traditionellen Parteien den jahrzehntelang ersessenen Rang einer Volkspartei streitig zu machen.

Was dann überrascht, ist, dass die Grünen von all diesen Angriffen immer wieder überrascht und überrumpelt wirken. Und dass es ihnen nicht gelingt, diesen wirklich und nachhaltig Paroli zu bieten. Sie haben scheinbar noch immer nicht begriffen, dass ihre Politik wie keine andere zur gesellschaftlichen Polarisierung taugt und ihr Personal ein allseits beliebtes Feindbild abgibt. Die Grünen glauben, dass ihre Politik widerspruchsfrei und alternativlos ist – und von daher keinerlei Erklärung bedarf. Immer wieder gelingt es dann, die Partei mit einfachsten Mitteln schachmatt zu setzen. Damit tritt die strukturelle Schwachstelle der Partei zutage: Die Grünen haben anders als die anderen Parteien viele Kraftpole, aber kein klar definiertes Machtzentrum. Verantwortlichkeiten sind auf viele Schultern verteilt, der Posten des Generalsekretariats fehlt, was die Partei häufig zu einem Haufen von Individualisten mit unterschiedlichen Meinungen und Strategien macht. All diese strukturellen Schwächen sind historisch gewachsen, hindern die Partei aber letztendlich daran, erfolgreich Politik zu machen.

Martin Theobald
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